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21.10.2008 / "Sie wollten die Geschichte fälschen"

Erinnerungsarbeit im polnischen Sobibór: Die Vorarlberger Gemeinde Silbertal gedenkt der im NS-Vernichtungslager ermordeten Ethnologin Eugenie Goldstern - Einer der SS-Mörder kam aus dem Montafoner Dorf.

DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2008

 

Sobibór - Der 14. Oktober 2008 ist ein strahlend schöner Herbsttag. Die Laubwälder des ostpolnischen Naturparks Sobibór leuchten in Gelb-Orange, die letzten Pilzsammler der Saison picknicken dick eingemummt neben ihren Kleinwagen. "Idylle", "unberührte Natur", "Vogelparadies" steht in den Prospekten über die Seenlandschaft im polnisch-weißrussisch-ukrainischen Dreiländereck.

Auf der Landstraße zwischen dem Städtchen Wlodawa und dem Weiler Sobibór herrscht kaum Verkehr. Zwei Kleinbusse sind unterwegs, ihre Lenker bremsen vor jedem Wegweiser. Sie wollen weder zum Ausflugsgasthaus noch zum "Zolwiowe Blota", dem Schildkrötenmoor.

In den Bussen sitzt eine kleine Gruppe von Menschen aus Österreich, die weiß, dass die Idylle nur eine scheinbare ist. Die Mitglieder der Geschichtswerkstatt Silbertal suchen die Gedenkstätte, jenen Ort, der an die Ermordung einer Viertelmillion jüdischer Menschen im nationalsozialistischen Vernichtungslagers Sobibór erinnert.

An diesem 14. Oktober 2008, dem 65. Jahrestag des Lageraufstands von Sobibór, wollen die sieben Menschen aus dem Montafoner Bergdorf an Eugenie Goldstern, eine Wiener Ethnologin, die 1942 in Sobibór ermordet wurde, mit einem Stein an der "Gedenkallee" erinnern. "Wir wollen wenigstens einem Opfer dieses deutschen Vernichtungslagers die Würde eines bleibenden Gedenkens ermöglichen" , begründet Bürgermeister Willi Säly. Die meisten der 250.000 Ermordeten blieben bis heute anonyme Asche in sieben Massengräbern.

Aus Tätern wurden Opfer

Eugenie Goldstern erforschte bäuerliches Leben in den Alpen, war oft im Wallis. "Dort liegen auch die Wurzeln vieler Silbertaler, die ja Walser sind", zieht Säly eine Querverbindung ins Montafon. Es gibt aber noch einen anderen, für die Gemeinde äußerst unangenehmen und lange verschwiegenen Bezug: "Ein Sohn unserer Gemeinde, Josef Vallaster, war hier in Sobibór an den unvorstellbaren Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten aktiv beteiligt." Auf dem Silbertaler Kriegerdenkmal wird Vallaster als Opfer angeführt. Eine Tatsache, die erst 2007 öffentliche Kritik auslöste. Der Bürgermeister gründete zur Aufarbeitung der dörflichen NS-Geschichte die Geschichtswerkstatt.

Am 14. Oktober 1943 erschlug eine Gruppe Gefangener im Lager Sobibór mehrere SS-Aufseher, unter ihnen auch Vallaster. 365 Menschen flohen, 55 kamen durch, acht leben noch. Zwei davon, Thomas Blatt und Philip Bialowitz, die Lager und Aufstand als Jugendliche überlebt haben, trafen in Sobibór auf Vallasters Sohn Klaus. Der 67-Jährige hatte seinen Vater nie kennengelernt. Seit 1979 versucht er, die familiäre NS-Vergangenheit aufzuklären. Die Mutter habe ein "anderes" Bild gezeichnet, "ich weiß aber, dass mein Vater Schuld auf sich geladen hat" , sagt er im Gespräch mit Philipp Bialowitz. Der alte Herr aus den USA bewundert den Mut Vallasters, sich Gesprächen und Kameras zu stellen. "Wie ein Wunder" erscheint Thomas Blatt das offene Gespräch mit dem Sohn des Täters. "Er hat seiner Mutter nicht geglaubt, er ist kein Bystander."

Dem Erdboden gleichgemacht

Blatt musste bis 1993 um ein würdiges Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden kämpfen: "Man wollte die Geschichte fälschen." Nach dem Aufstand machten die Nationalsozialisten das Lager dem Erdboden gleich. Über den Ort des Massenmords sollte der Wald wachsen. Späteren polnischen Regierungen war das nur recht. Man errichtete auf dem früheren Lagergelände einen Bauernhof, dann einen Kindergarten. Nichts sollte an die jahrhundertealte jüdische Tradition in Polen und deren Ausrottung erinnern.

Die niederländische Stichtig Sobibór und das deutsche Bildungswerk Stanislaw Hantz wollen die bescheidene Gedenkstätte zu einem europäischen Begegnungs- und Lernort machen. "Denn Sobibór darf sich nicht wiederholen" verweist Philip Bialowitz auf "Rassismus und Genozide der Gegenwart" . Diese "Mission" müsse die Welt hören. Johannes Boric für die Geschichtswerkstatt: "Die Reise hat mir bestätigt, dass unser Weg der Aufarbeitung richtig ist." Nachsatz: "Auch wenn wir im Dorf nicht nur Befürworter haben." Im November werden die Silbertaler über die Umgestaltung des Kriegerdenkmals entscheiden.

Jutta Berger


Gedenkstein Eugenie Goldstern

Begegnung in Sóbibor

Begegnung in Sobibór: Philip Bialowitz (li.), Überlebender des NS-Vernichtungslagers, trifft auf Klaus Vallaster (M.), Sohn eines SS-Täters, und Johannes Boric von der Geschichtswerkstatt Silbertal.