2000 / "Ich möchte Dornbirn noch einmal sehen."

Wunsch der ukrainischen Zwangsarbeiterin Nadeshda Iwanowna (Schuralewa)
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Wer sich heute als Zeithistoriker oder als Zeithistorikerin mit dem Themenkomplex "NS-Herrschaft und die Folgen" beschäftigt, muss sich oft mit einem sehr selektiven Aktenmaterial zufrieden geben. Wichtige Unterlagen sind heute noch nicht zugänglich oder wurden vernichtet.

Am 13. Juni 1945 richtete die Stadtpolizei Dornbirn ein Schreiben an die französischen Militärbehörde, in dem es hieß, dass es allgemein bekannt sei, "dass einige Tage vor der Besetzung der Stadt Dornbirn beim Bürgermeisteramt in Dornbirn die wichtigsten Akten, unter denen sich zweifellos auch die Personalakten befunden haben dürften, verbrannt worden sind... Es steht fest, dass Stadtoberinspektor Golther am Sonntag, den 29.4.1945 gegen Mitternacht eine Unmenge von Akten im Keller des Bürgermeisteramtes verbrannt hat...Dreher (NS-Bürgermeister, Anm. d. Verf.) gab an, dass er zumindest den Auftrag erteilt habe, alle wichtigen Akten und so auch die Personalakten zu verbrennen."

Auch wer sich mit dem Thema der Zwangsarbeit in den heimischen Textilfabriken beschäftigt, merkt bald, an welche quellenmäßigen Barrieren er stößt. Bei der historischen Spurensuche nach den ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen steht jedoch nicht nur Restaktenmaterial zur Verfügung: Noch leben ca. 10-20 Prozent der einst in jungen Jahren hierher Verschleppten in Russland, in Polen, in der Ukraine und in diversen anderen Ländern. Sie können noch als Zeitzeugen und Zeitzeuginnen mit den Mitteln der Oral history befragt werden.

Eine solche Zeitzeugin ist Nadeshda Iwanowna. Sie erhielt am 7. September im Rathaus von Luhansk aus einem privaten Spendenfonds für ehemalige Ostarbeiter(innen) 100 Dollar überreicht, da sie ab 1942 nachweislich bei der ältesten Dornbirner Textilfirma, bei Herrburger & Rhomberg, beschäftigt gewesen war. Dreiundfünfzig Jahre lang hatte es gedauert, bis sich jemand aus Vorarlberg an ihren Aufenthalt erinnerte und von ihr etwas über die damaligen Lebensbedingungen in Dornbirn wissen wollte. Da es ihr Gesundheitszustand - im Gegensatz zu vielen anderen, die an diesem Tag in Luhansk anwesend waren - zuließ, ein Interview zu geben, besuchten Margarethe Ruff, das begleitende ORF-Team und ich Frau Iwanowna in ihrem Häuschen in der Nähe von Rowenki.

Über fünfzig Kurzgespräche und mehrere intensivere Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen hatten wir schon hinter uns, als wir uns zu Frau Iwanowna begaben. Mit welch unterschiedlichen Lebensläufen wurden wir an diesen Tagen bei unserem Aufenthalt in der Ukraine konfrontiert!

Auf der mehrstündigen Fahrt von Makeewka nach Luhansk erzählte uns die Gebietsvorsitzende der vom "Faschismus verfolgten Jugendlichen", Larisa Stepanovna Simonowa, ihre fürchterlichen Kindheitserinnerungen: Als Kind ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wurde sie von Kalfaktoren vor dem Verbrennen gerettet und versteckt. Schließlich wurde das Kind zur Zwangsarbeit im KZ Buchenwald und im KZ Mauthausen missbraucht, ehe es von einem russischen Soldaten zurück in seine ukrainische Heimat gebracht wurde. Oder das Erlebnis mit jenem Arbeiter, der als Jugendlicher auf den Baustellen der Illwerke in der Silvretta Schwerstarbeit leisten musste, aber weder in den heimischen noch in den ukrainischen Listen aufschien: Zitternd stand er vor uns, die schiere Panik in den Augen vor Angst, dass er die lebenswichtigen Dollars nicht erhält, weil er nicht schriftlich nachweisen konnte, als 16-Jähriger unfreiwillig in Vorarlberg gewesen zu sein. "Schruns, Partenen, Silvrettadorf..." stammelte er unaufhörlich vor sich hin. Der Gebietskomiteevorsitzenden von Luhansk, Alexei Ponomarjow, der die ukrainischen Archive für uns äußerst gewissenhaft durchforstet hatte, schüttelte den Kopf: In seiner Liste fehlte der Name, mit Archivmaterial war der Aufenthalt in Vorarlberg nicht zu beweisen. Die gestammelten Worte konnte er in der Ukraine aufgeschnappt haben. Schon wollten wir dem alten, gebrechlichen Mann eine persönliche humanitäre Hilfe zukommen lassen, da stotterte er: "Schruns, Pümpel, Silvrettadorf..." Von der Baufirma Pümpel war noch nicht die Rede gewesen, also wussten wir, dass auch er hier gewesen war. Oder unauslöschlich bleibt auch jene Frau in Erinnerung, die wir nichts mehr fragten, weil wir Angst hatten, dass sie uns bei der ersten Frage zusammenbrechen würde. Auch jener Mann, der vom Operationstisch weg zu uns gebracht wurde, um den mitgebrachten Obolus in Empfang zu nehmen, stand als "Forschungsobjekt" für Oral history nicht zur Verfügung... An diesen Tagen merkten wir, wie schwer es war, emotionslos Fakten zu sammeln, Gespräche rein aus dem Blickwinkel des Historikers/ der Historikerin zu führen, Dokumente zu sichern und gleichzeitig Ansprechpartner/in für zahlreiche Bitten zu sein.

Dass wir Nadeshda Iwanowna um ein ausführlicheres Gespräch gebeten hatten, hatte mehrere Gründe: Sie war sichtlich physisch dazu in der Lage und gehörte zu jener Gruppe von "Frauen", die in der Dornbirner Textilindustrie gearbeitet hatte. Bei "Herrburger & Rhomberg" in "Durnbirn" sei sie und ihre beiden Kameradinnen gewesen und sie hätten auch Fotos mitgebracht, ließ sie uns wissen.

Ihr "alltägliches" Schicksal interessierte uns: Kein Aufenthalt im Reichsarbeitslager Reichenau, kein KZ-Schicksal in Dachau oder Mauthausen, sie war "nur" drei Jahre lang Zwangsarbeiterin in einer Fabrik in Dornbirn gewesen. Allerdings sei sie nur zum Teil "Zwangsarbeiterin" gewesen, gab sie uns freimütig bei der ersten Kurzbefragung zu verstehen. Dieser Aspekt erregte unsere besondere Neugierde. Nadeshda Iwanowna war die einzige, die offen zugab, dass sie sich zunächst "freiwillig" für einen dreimonatigen Ernteeinsatz in "Deutschland" gemeldet hatte.

Im September 1942 habe sie mit einigen anderen Mädchen den Versprechen der deutschen Besatzer geglaubt, dass sie nach einem dreimonatigen Ernteeinsatz wieder nach Hause zurückkehren könnte. "Ich war jung und neugierig und die Lage bei uns war so schlecht. Und es sollte nur für drei Monate sein." Schon bei den ersten Worten der Interviewten war klar, dass ihr Erinnerungsbericht nur mit äußerster Vorsicht aufzunehmen war: Zu offensichtlich war das Bemühen, im Angesicht einer Kamera und eines Mikrofons den Gästen möglich Nettes über ihr Heimatland zu erzählen: "Alles sei gut gewesen, es sei ihr gut gegangen. In Dornbirn ist es uns gut gegangen", so begann sie ihre Ausführungen und sie blickte selbstbewusst und fröhlich (Wertung des Gesprächpartners!) in die ORF-Kamera.

Die Rahmenbedingungen für unsere historische Forschungsaufgabe waren in diesem Fall äußerst schlecht: Wir mussten das Gespräch wegen der ORF-Aufnahmen (der Zeithistoriker Markus Barnay hatte sich des Themas angenommen und war für die Sendung "Report" in die Ukraine mitgefahren) im Freien führen und wir standen unter Zeitdruck, da der ukrainische Chauffeur noch vor Anbruch der Dunkelheit die Strecke Rowenki-Makeevka (ca. 100 km) zurücklegen wollte. Theoretische Oral history-Überlegungen mussten wir hintanstellen, wenn wir nicht gänzlich auf eine Dokumentation des Gesprächs verzichten wollten. Schließlich sprachen wir eine gute halbe Stunde mit ihr. Das Gespräch, das selbstverständlich von unserer Dolmetscherin übersetzt werden musste, wurde doppelt aufgezeichnet: Markus Barnay filmte, Margarethe Ruff und ich nahmen das Interview mit einem Tonband auf, damit wir die Aufnahme zu Hause in aller Ruhe auswerten konnten. Besonders nach dem die Kamera ausgeschaltet war, ergaben sich beim Nachfragen einige neue und wichtige Aspekte: Vor der Kamera war es für die Gesprächspartnerin sichtlich schwierig, etwas Negatives zu sagen. Ihre Angst, dann vielleicht nicht nach Vorarlberg eingeladen zu werden, bestimmte ihr Verhalten: Deshalb wollte sie sich vor der Kamera nicht "schlecht" über ihren Dornbirnaufenthalt äußern.

Dies zeigte sich bereits bei den ersten Fragen nach ihrer Ankunft in Dornbirn: "Wir sind vom Zug sofort zur Fabrik gebracht worden. Und gleich zum Baden und Essen. Man hat uns allen Essen gegeben, Brot geschnitten, wir haben viel gegessen und die Leute schauten und sagten 'ah mein Gott', wie hungrig die sind." Aus dem erhofften dreimonatigen Ernteeinsatz des "ukrainischen" Mädchens, das eigentlich aus Russland stammte, wurde nichts: Die damals Vierzehnjährige (!) durfte nach Ablauf der drei Monate nicht zurückkehren. Drei lange Jahre Fabrikarbeit bei "Herrburger & Rhomberg" folgten. Diejenigen, die zunächst glaubten, sie könnten in die Heimat zurück, da sie sich in der Ukraine "freiwillig" gemeldet hatten, traf dieses Los besonders hat: Sie wurden ihrer kindlich-jugendlichen Illusionen beraubt und mit der bitteren Realität konfrontiert, dass sie als "Untermenschen" in einem fremden Land nun Zwangsarbeit zu leisten hatten und es keineswegs in ihrer Macht stand, den "Arbeitsvertrag" zu kündigen. Der (beinahe freiwillige) Aufbruch der kaum Vierzehnjährigen in ein fremdes Land war noch von einem Hauch Abenteuerlust umgeben gewesen, die Erkenntnis nicht mehr zurückkehren zu können, hinterließ einen tiefen Schock.

Bereits Mitte der Achtzigerjahre hatten Hermann Brändle und Kurt Greussing im Band "Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945" eine erste Bilanz der Forschung über Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in Vorarlberg vorgelegt. Folgende historisch unbestreitbare Tatsachen seinen in Erinnerung gerufen:

Das nationalsozialistische Deutschland organisierte den größten Masseneinsatz von Zwangsarbeitern in der Geschichte, um trotz des Krieges und der damit verbundenen Verengung des Arbeitsmarktes die Produktion aufrechtzuerhalten und im Rüstungsbereich sogar auszuweiten. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg war ein Abkommen mit Italien zur Beschäftigung italienischer Landarbeiter im Deutschen Reich geschlossen worden, später wurden Arbeiter aus der eroberten Tschechoslowakei, aus Kroatien und Serbien rekrutiert. Nach Ausbruch des Krieges im Herbst 1939 verfügte die deutsche Regierung über große Kontingente von polnischen, ab Sommer 1940 von französischen und ab Herbst 1941 von russischen Kriegsgefangenen, die sofort zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Parallel dazu wurden "Zivilarbeiter" aus praktisch allen eroberten Ländern eingesetzt. Spätestens ab dem 7. Mai 1942, als der "Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz", Fritz Sauckel, Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung ausländischer Arbeiter und Arbeiterinnen anordnete, war auch der Einsatz dieser "Zivilarbeiter" nicht mehr freiwillig. Schrittweise wurde ein System von Sonderrechten geschaffen, das nach der Art der Rekrutierung, nach geografischer Herkunft, vor allem aber nach der rassischen "Wertigkeit" der ausländischen Arbeitskräfte abgestuft war. Besonders diskriminiert waren Polen und so genannte "Ostarbeiter". Bei letzteren handelte es sich um die Bewohner der besetzten sowjetischen Gebiete, die zum Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Während die "Zivilarbeiter" aus West- und Südeuropa arbeitsrechtlich, aber nicht hinsichtlich der Entlohnung, den einheimischen Arbeitskräften gleichgestellt waren, wurden Polen, Russen und Ukrainer auf besonders drastische Weise diskriminiert: Auf sexuelle Kontakte mit einheimischen Frauen stand für Polen, Russen und Ukrainer die Todesstrafe, oder, falls sie als "eindeutschungsfähig" erachtet wurden, die Einweisung in ein Konzentrationslager. Sie wurden gezwungen, das verhasste Zeichen "P" bzw. "Ost" zu tragen, sie wurden sozial ausgegrenzt.

Über die "im Kriegs-Arbeitseinsatz stehenden fremdvölkischen Arbeiter" - das sind die von der Allgemeinen Ortskrankenkasse in Dornbirn erfassten Arbeiter, somit nicht die Kriegsgefangenen - liefert uns die Statistik ab 1942 ein einigermaßen klares Bild. Von 1942 bis Kriegsende ist eine kontinuierliche Steigerung des Fremdarbeitereinsatzes zu bemerken; der Anteil der Frauen betrug ab 1943 konstant rund ein Drittel. Zu Beginn des - statistisch erfassten - Einsatzes von Fremdarbeitern, im Jahre 1942, betrug deren Zahl 3.305. 1944 waren es im Mittel 5.608, und in den ersten drei Monaten des Jahres 1945 gab es einen nochmaligen sprunghaften Anstieg von 6.414 auf 7.711. Die Gesamtzahl von Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen muss um die 10.000 veranschlagt werden. Anfang 1945 waren damit sicherlich ein Drittel aller Arbeiter in Vorarlberg Fremd- und Zwangsarbeiter/innen!

Die Lebenssituation der Millionen Zwangsarbeiter/innen im "Dritten Reich" ist differenziert zu betrachten. Jede Untergruppe teilt sich je nach Nationalität, Zeitpunkt des "Einsatzes" oder Art der Zwangsarbeit (etwa in der Landwirtschaft oder in der Rüstungsindustrie) wiederum in zahlreiche Untergruppen, deren Lebensbedingungen äußerst unterschiedlich waren: Von der Vernichtung durch Arbeit bis zum "Familienanschluss" auf dem Bauernhof. Zwangsarbeit war nicht gleich Zwangsarbeit, auch in Vorarlberg nicht!

Dieses Vorwissen ist notwendig, um das Gespräch mit Frau Iwanovna richtig einordnen und deuten zu können. Ganz abgesehen davon, dass der forschende Historiker/ die forschende Historikerin sich die Problematik der Oral history ständig vor Augen halten muss: Erinnerungslücken, bewusstes Verschweigen des/der Befragten, Art der Fragestellung, Fragesituation etc. Der/die Fragende muss sich ständig bewusst sein, dass aus einer Zeitzeugin/ aus einem Zeitzeugen nicht automatisch "die historische Wahrheit" heraussprudelt, dass seine Ausführungen kritisch reflektiert und in einen Kontext gestellt werden müssen. Dies sind jedoch Binsenwahrheiten, die zum handwerklichen Rüstzeug eines seriösen Forschers/ einer seriösen Forscherin zählen. An dieser Stelle soll auch keine theoretische Reflexion des methodischen Zuganges zu unseren Interviews in der Ukraine erfolgen. Das Gespräch mit Frau Iwanovna zählt sicherlich zu jenen Gesprächen, die vom historischen Erkenntniswert her betrachtet aus den oben angeführten Gründen eher bescheiden waren, doch bei intensiverem Nachfragen ergaben sich in aller Kürze doch einige interessante Aspekte:

Auf die Suggestivfrage, ob es stimme, dass ihr Firmenchef besonders streng gewesen sei, antwortete Nadeshda Iwanovna:

"Unser Direktor war sehr gut zu uns, es ist nicht wahr, dass er schlecht war, schlecht war sein Bruder Franz. Der war sehr streng, sehr hart mit Menschen. Einmal waren wir auf dem Kartoffelfeld, wir hatten gebeten, ob wir etwas Kartoffeln mitnehmen könnten. Man hat es uns erlaubt, man hat gesagt, dass wir auch einen Eimer mitnehmen könnten. Wir haben etwas Kartoffeln in unseren Taschen mitgenommen und als wir nach Hause kamen, da kam auch dieser Bruder von dem Direktor. Franz fing an zu schreien und rief: Ich erschieße die alle, die haben Kartoffeln geklaut! Wir haben gesagt, wir haben die nicht geklaut, man hat uns erlaubt, Kartoffeln mitzunehmen. Die Frau von unserem Direktor hat es gesehen und ist schnell zum Direktor gelaufen. Der kam und sagte, er habe es erlaubt. Sonst wäre es uns schlecht gegangen!"

Aus solchen Erzählsplittern erhält man doch ein anschauliches Bild, unter welchen Bedingungen ein solches Mädchen existieren musste: Noch nach über fünfzig Jahren ist die Befragte beim Erzählen dieser Episode sichtlich bewegt: Der Gesichtsausdruck ändert sich, die Stimme wird leiser. Die zur Schau gestellte Anfangsfröhlichkeit weicht und ein nachdenkliches "Schlimm war das schon!" kommt nun über ihre Lippen.

Wenn Frau Iwanovna von "ihrem Heim in Dornbirn" spricht, dann meint sie das Barackenlager, das unmittelbar neben der Fabrik gelegen war. Drei lange Jahre lebte sie dort. Man darf das damalige Alter des Mädchens nicht vergessen: Mit vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahren in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein, wiegt auch in der Erinnerung besonders schwer: "Ja. Alle drei Jahre habe ich in der Fabrik gearbeitet und im Lager gewohnt. Zu zehnt wohnten wir in einem Zimmer. Wir mussten nach der Arbeit im Lager bleiben. Da war ein Bewacher mit Hund. Der zählte, ob wir alle da waren. Manchmal stiegen wir in den Garten, um Obst zu essen."

Bevor sie uns eine Geschichte von einem Lagerausgang erzählt, erwähnt sie wieder das Essen. So gut, wie sie zunächst sagte, konnte die Ernährung doch nicht gewesen sein. Auf eine diesbezüglich präzisere Frage antwortete sie:

"Es war so. Wir waren jung und wollten immer essen. Da waren auch Arbeiterinnen, ältere, und manchmal kamen diese Frauen und haben ein Stück Brot auf der Maschine gelassen, das haben wir schnell gegessen. Wir haben alles gegessen. Wir waren sehr dankbar dafür. Dafür haben wir diesen Frauen auch geholfen."

An den Maschinen arbeiteten abwechselnd ein "Ostarbeitermädchen" und eine Einheimische, damit der Kontakt möglichst unterbunden wurde. Die NS-Ideologen konnten sichtlich nicht alle dazu bringen, diese "Ostarbeitermädchen" als "Untermenschen" anzusehen und so zu behandeln. Selbst drakonische Strafen konnten einzelne mutige einheimische Frauen nicht davor abhalten, diesen ukrainischen Mädchen die dringend benötigten zusätzlichen Nahrungsmittel zukommen zu lassen. Denn die vom NS-Regime deklassierten Menschen, die politisch Verfemten, die "rassisch Minderwertigen", die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen waren besonders auf die Solidarität von Einheimischen angewiesen, die ihr menschliches Verhalten nicht verloren und ihr soziales Engagement über Anpassung und Angst stellten. Viele von diesen Helfenden wurden ebenfalls verfolgt, gerichtlich bestraft oder sogar umgebracht.

"Wer mit Kriegsgefangenen in freundschaftlichen Verkehr tritt und mehr mit ihnen spricht, als zu Arbeitszwecken unbedingt nötig ist", mache sich strafbar, verkündete ein Merkblatt für das Verhalten der Bevölkerung gegenüber Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern. Dass sich trotzdem nicht alle davon abschrecken ließen, zeigt auch ein Blick in die Werkzeitschrift von F. M. Hämmerle. Die Herausgeber des "Dreihammers" wiesen, die Belegschaft eindringlich darauf hin, dass fremde Arbeitskräfte völlig auszugrenzen seien:

"Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir es hier mit primitiven Menschen aus dem Osten zu tun haben... Es gibt deutsche Menschen, in denen das anfänglich armselige Äußere dieser Menschen aus dem Osten ein tiefes Mitgefühl hervorgebracht hat. Sie möchten daher die Ostarbeiterinnen ganz besonders in ihre Obhut nehmen, ja vor lauter Gefühlsduselei diesen Lebensmittel und sonstiges, das sie sich von ihrem Munde absparen, zustecken. Das ist vollkommen falsch...".

Nicht alle hielten sich jedoch an diese menschenverachtende Aufforderung und sie halfen, so gut es ging - auch um das Risiko der eigenen Sicherheit. Die Erzählung von Nadeshda Iwanowna (Schuralewa) belegt, wie Einzelne bemüht waren, das bittere Los dieser Mädchen zu lindern. "Wir brauchten nicht so viel, denn die Menschen gaben uns Sachen. Wir hatten alles zum Anziehen." Wie es um die Ernährungslage der "Herrburger & Rhomberg"- Mädchen tatsächlich stand, illustriert ein Bregenzer Polizeibericht vom 16. November 1942: An diesem Tag wurden die beiden "Ostarbeiterinnen" Alexandra Limareva und Lidia Harvoba, beide bei Herrburger & Rhomberg untergebracht, verhaftet. Tatbestand: Entfernen vom Wohnort und Betteln.

Mit ihrem kargen Arbeitslohn konnten die ukrainischen Mädchen nicht viel anfangen - außer Brot zu kaufen:

"Man hat wenig bezahlt, aber es reichte uns. Manchmal gingen wir in die Stadt und wollten Brot kaufen. Doch nicht in jedem Geschäft erhielten wir etwas. Für uns war es ein bisschen komisch, wenn wir in ein Geschäft hineinkamen und da klingelte es ... Einmal bekamen wir Brot und der Verkäufer wollte uns das Restgeld geben. Aber wir wollten es gar nicht nehmen, denn wir waren so froh, überhaupt Brot bekommen zu haben."

Stadtausgänge wie diese nehmen in der Erinnerung der Befragten breiten Raum ein. In einer weiteren Episode von Nadeshda Iwanowna wird spürbar, wie sehr diese jungen Mädchen unter den Alltagsdiskriminierungen tatsächlich litten:

"Einmal waren wir sogar im Fotosalon in der Stadt. Da kam ein Offizier und sagte: So, Ostarbeiterinnen hier! Weg mit euch! Und er hat uns weggejagt. Wir haben so geweint, aber die Leute, die in der Nähe wohnten, sagten uns, als der Offizier weggegangen war: 'Jetzt könnt ihr euch aufnehmen lassen!' Und der Fotograf wollte uns aufnehmen. Er sagte: 'Ruhig! Lächeln Sie!' Aber wir konnten nicht lächeln, wir hatten doch geweint! Und da war ein Bild mit einer Frau mit nackten Brüsten und er hat ihr an die Brust gegriffen und aus der Brust ist Milch gelaufen. Da haben wir gelacht und er konnte das Foto machen!"

Ob sie damals oft gelacht habe? Diese Frage habe ich ihr nicht gestellt. Dass die junge Ukrainerin damals Heimweh hatte, ist anzunehmen, obwohl sie bei der Frage nach dem Vergleich der Lebenssituation in Dornbirn und in der Ukraine eingangs sagte:

"Ich war sehr zufrieden. In der Ukraine lebte ich einer Familie mit fünf Kindern. Wir waren sehr, sehr arm. Die Fabrik und das Lager in Dornbirn erschien mir zunächst wie ein Paradies."

Bei näherer Betrachtung und Befragung zeigten sich , dass die Formulierung "Paradies", doch sehr zu relativieren und zu hinterfragen war.

Über ihre Rückkehr in die Ukraine und die Aufnahme in ihrer Heimat erzählt sie nur sehr wenig:

"Im Jahre 45 fuhren wir nach Hause. Wir konnten mit sowjetischen Soldaten mitfahren. Alle Mädchen wurden in eine Reihe gestellt, ein Offizier kam und sagte: Du und du und du müssen vorne stehen. Ich musste mit einigen anderen für die Soldaten arbeiten, die anderen konnten wegfahren. Wir wollten nicht für sie arbeiten. Aber die Soldaten sagten: Ach, dort habt ihr gerne gearbeitet und hier wollt ihr nicht für uns arbeiten. Ich war noch nicht 16 Jahre alt. Nach drei Monaten durfte ich dann endlich nach Hause."

Natürlich ergeben sich aus dieser Kurzschilderung eine Reihe von Fragen, die bei einem weiteren Gesprächstermin geklärt werden müsste. Wann genau hat sie Dornbirn verlassen? Kann sie uns aus eigener Anschauung über folgende Begebenheit, die wir aus den Akten kennen, etwas mitteilen? Wie war die Stimmung unter den Zwangsarbeitern/innen, als sie Dornbirn verlassen konnten?

Aus den Morgenmeldungen der Städtischen Sicherheitswache in Dornbirn kennen wir folgenden Bericht: Am Nachmittag des 6. Juni 1945 ersuchte Walter Rhomberg, der "Betriebsführer" von Herrburger & Rhomberg, die örtlichen Polizeibehörden in Dornbirn, seine Wohnung in der Spinnergasse 17 zu schützen: Er und seine Frau würden von "ausländischen Zivilarbeitern und Arbeiterinnen in seiner Wohnung tätlich bedroht." Die städtische Sicherheitswache informierte daraufhin die französischen Behörden. Diese schritten sofort ein und nahmen drei Frauen und zwei Männer fest.

Wenige Tage zuvor hatte der Dornbirner Gendarmerieposten besorgt an den französischen Kommandanten in der Stadt geschrieben:

"In letzter Zeit haben sich die sicherheitspolitischen Verhältnisse innerhalb des Gebietes der Stadt Dornbirn bedeutend verschlechtert bzw. sind dieselben derart unsicher geworden, dass die Bevölkerung auf der hiesigen und auch auf anderen Dienststellen fortlaufend Klagen einbringt... Abgesehen von den bereits auf über 50 angewachsenen Fahrraddiebstählen sind hauptsächlich Kellereinbrüche und Tierdiebstähle vorgekommen... In all diesen Fällen weisen die Umstände daraufhin, dass diese Diebstähle von ehemaligen russischen Kriegsgefangenen und russischen Zivilarbeitern, die in den verschiedenen Lagern der hiesigen Fabriken untergebracht sind, verübt wurden..."

Wie verbrachten Nadeshda Iwanowna und ihre Freundinnen die ersten Tage und Wochen nach der Befreiung? Wie viele kehrten wann und wie heim?

Aus dem Aktenmaterial wissen wir: In den ersten Nachkriegswochen und -monaten befand sich der Großteil der bis Kriegsende in den heimischen Textilfabriken beschäftigten ausländischen Zivil- und Zwangsarbeiter(innen) noch in Dornbirn. Die größte Gruppe waren die so genannten "Ostarbeiter(innen)". Im Oktober 1944 arbeiteten in den auf Rüstungsproduktion umgestellten Fabriken und bei den heimischen Bauern 1.254 "Ausländer", davon 509 Ostarbeiter(innen). Der Anteil der Frauen überwog bei weitem: 439 der registrierten 509 waren weiblich. Der "Gefolgschaftsstand bei Herrburger & Rhomberg betrug im IV. Quartal 1944: männlich 104, weiblich 241. Darunter befanden sich 46 ausländische Arbeitskräfte, davon 24 weibliche Ostarbeiter, keine männlichen." Im Barackenlager der Firma dürften (laut Liste vom 16.6.1943) circa 40 Personen untergebracht gewesen sein.

Am 4. Oktober 1945 fand in der Turnhalle der Dornbirner Realschule eine Versammlung der noch anwesenden ehemaligen Zwangsarbeiter(innen) statt:

"An alle sowjetischen Untertanen!

Am Donnerstag, den 4. Oktober 1945, 15 Uhr findet in der Turnhalle der Oberrealschule in Dornbirn (Securité de Repatriement) eine Versammlung aller sowjetischen Untertanen zum Zwecke der Beratung über deren Rückführung in die Heimat (Repatriierung) statt. Es wird sprechen Herr Major Turassow als Chef der Repatriierungskommission. Der Bürgermeister Dr. G.A. Moosbrugger."

Ob Nadeshda Iwanovna (Schuralewa) bei dieser Versammlung noch dabei war, wissen wir nicht. Sie musste - so wie ihre Leidensgenossinnen und Leidensgenossen - bis zum Untergang der Sowjetunion und der Errichtung der neuen Republik Ukraine im Jahre 1992 über ihre Jugenderlebnisse in Dornbirn schweigen. Dass sich jemand für Schicksal interessierte, war für sie fast noch wichtiger als die mitgebrachten Dollars. Im Rathaus von Luhansk empfangen und von einem österreichischen Historikerteam gefilmt und befragt zu werden, stellte für sie am Lebensabend eine tiefe Befriedigung dar. "Schön wäre schon, wenn ich noch einmal nach Dornbirn kommen könnte", ließ sie uns über die Dolmetscherin beim Abschied ausrichten.

Die Textilfirma "Herrburger & Rhomberg" hat seit Beginn der Siebzigerjahre den Betrieb eingestellt. Im Gegensatz zu anderen Befragten, deren einstige Arbeitgeber heute noch existieren und die zum Teil Kontakte knüpfen möchten, hat sie keine Hoffnung, auf diesem Wege nach Dornbirn zu kommen.

Bei unserem Besuch in der Ukraine vermischten sich mehrere Aspekte und Aufgabengebiete: Zum einen leitete uns bei der Übergabe von Opferfondsgeldern ein humanitäres Engagement, zum anderen wollten wir historische Feldforschung betreiben. Wir haben aus Luhansk (= auf Russisch Lugansk) und Rowenki bisher unbekanntes Tonband-, Film-, Foto- und Datenmaterial mitgebracht, das nun ausgewertet werden kann. Doch vor allem haben wir persönliche Eindrücke gewonnen, die wir nicht missen möchten: Hinter den bloßen Namen in Archivlisten sind Menschen hervorgetreten, die sehr konkrete Jugenderinnerungen an Dornbirn haben. Damit diese Erinnerungen nicht verloren gehen, schlage ich folgendes Projekt vor: Die Stadt Dornbirn möge alle ehemaligen Zwangsarbeiter/innen, die in ihrer Jugend in Dornbirn arbeiten mussten, in Rowenki abholen und für einige Tage hierher bringen. Dann könnte unsere Schnell-Oral-history auf eine fundiertere Basis gestellt und der Wunschtraum vieler noch lebender Ex-Verschleppter (und Rückkehrverhinderten) erfüllt werden.

Aus der Stadt Rowenki sind uns nunmehr neun ehemalige OstarbeiterInnen bekannt, die in Dornbirn gearbeitet haben:

Petr Belousow (I.M. Fussenegger)

Wera Kustenko/Bondarenko (Franz M. Rhomberg)

Lidija Samarskaja (Herrburger & Rhomberg)

Galina Schewljakowa/Sokolowa (Herrburger & Rhomberg)

Marija Schtschelotschkowa/Bondarenko (Franz M. Rhomberg)

Anastasia Stantschu/Sawtschenko (Herrburger & Rhomberg)

Lidija Teplinskaja (Franz M. Rhomberg) und

Nadeshda Iwanowna/Schuralewa (Herrburger & Rhomberg)

Lesowaja Matrena Dmitrievna aus Makeewka (Arbeitsort Dornbirn und Hohenems).

Nadeshda Iwanowna (Schuralewa) wäre zu einer solchen Reise durchaus in der Lage: Sie ist mit ihren Siebzig Jahren noch rüstig und würde sich über eine Einladung seitens der Stadt sehr freuen.

Aus: Dornbirner Schriften. Beiträge zur Stadtkunde. Bd. 27, Dornbirn 2000, S. 104-112.

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