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Kurt Greussing (1988): Die Bestimmung des Fremden - Hundert Jahre "Gastarbeit" in Vorarlberg

Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist Vorarlberg ein klassisches Einwanderungsland geworden. Die verschiedenen Zuwanderungswellen bedeuteten zum einen stets eine recht passgenaue Zurichtung der Bevölkerungsstruktur auf die Erfordernisse der industriellen Produktion. Zum andern beförderten sie immer auch kulturelle und politische Auseinandersetzungen: um die Bestimmung von "Fremd" und "Einheimisch", um Differenz und Identität, um Ausschließung und Zugehörigkeit.


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Kurt Greussing

Die Bestimmung des Fremden –
Hundert Jahre "Gastarbeit" in Vorarlberg

 

Zuerst erschienen in: Rainer Bauböck u.a. (Hg.): … und raus bist du! Ethnische Minderheiten in der Politik. Wien 1988, S. 185-197 (Wiederabdruck in: Bludenzer Geschichtsblätter, H. 3+4/1989, S. 3-18).

 

Seit mehr als hundert Jahren zählt Vorarlberg – neben Wien – nicht nur zu den höchstindustrialisierten Regionen Österreichs; es ist in dieser Zeit auch ein nachgerade klassisches Zielland der Arbeitszuwanderung geworden. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn sich nicht gleichzeitig eine ethnisch-regionale Identität in Form eines "alemannischen" Landesbewußtseins gebildet hätte, das sich nach außen – gegen die Bevölkerung östlich des Arlbergs – sowie im Inneren gegen Zuwanderer-Minderheiten prägnant abgrenzt.

Das führt zu dem auf den ersten Blick paradoxen Zustand, daß der Symbol-Fundus dieses Alemannen-Bewußtseins, in einem keineswegs gradlinigen Prozeß zentrale industriegesellschaftliche Wertvorstellungen aufgenommen hat (Sparsamkeit, Arbeitsdisziplin, Gewerbefleiß), gleichzeitig aber ein wesentliches Element dieser Industriegesellschaft – nämlich geographische Mobilität, Zuwanderung – völlig negativ besetzt wurde. Die banale Einsicht, daß, wer I wie "Industrialisierung" sagt, auch Z wie "Zuwanderung" sagen muß, gehört in Vorarlberg nicht zur Grundausstattung des Landesbewußtseins und schon gar nicht zum Denken seiner Artikulatoren.

Von ihnen ist, seit der ersten großen Immigrantenwelle im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, immer wieder beklagt worden, die "Identität" des Landes und seiner einheimischen Bewohner werde durch die angeblich zu massive Zuwanderung bedroht.

Solche Klagen finden sich noch in jüngster Zeit. Elmar Grabherr etwa, ab 1945 Leiter des Präsidiums des Amts der Vorarlberger Landesregierung und von 1955 bis zu seiner Pensionierung 1976 Landesamtsdirektor, also höchster Laufbahnbeamter des Landes, schrieb 1986 in seinem Buch "Vorarlberger Geschichte", einer politischen Bilanz seines Lebens, beispielsweise über die Zuwanderung aus dem zur Monarchie gehörenden Trentino ("Welschtirol") vor dem Ersten Weltkrieg:

"Abgesehen von Belastungen der öffentlichen Hand empfand es damals noch der gesunde Sinn des Volkes, daß die Ausdehnung der Wirtschaft ohne genügend eigene Arbeitskraft etwas Unnatürliches an sich hat, das auch trotz gleicher Staatsangehörigkeit verschiedene Gefahren birgt" (Grabherr 1986, S. 213).

Dieses von den "Vorarlberger Nachrichten", der auflagenstärksten Tageszeitung des Landes, eifrig beworbene Buch beklagt denn auch

"die durch die aufgekommenen Studentenehen erheblich angestiegene Zahl von Ehefrauen der Vorarlberger Akademiker aus den Universitätsländern. Nicht genug mit dieser Volksvermehrung durch Innerösterreicher, holten sich Industrie, Bauwirtschaft und Hotellerie unter alleiniger Bedachtnahme auf betriebswirtschaftliche und nicht auf landespolitische Erwägungen ab 1970 große Mengen von Jugoslawen und schließlich sogar Türken ins Land" (Grabherr 1986, S. 297).

Eine Assimilation sei "im allgemeinen erst in der dritten Generation vollzogen" - allerdings nur bei "Gruppen, welche der Angleichung fähig sind" (Grabherr 1986, S. 298).

In der Zwischenzeit sollten Angehörige solcher "Gruppen" tunlichst diskriminiert werden – bei Stellenbesetzungen im Landesdienst, Vergabe von Förderungsmitteln und dergleichen mehr. Denn sie haben nicht die entsprechende "landsmannschaftliche Herkunft", die "in erster Linie bestimmt (wird) durch objektive Tatsachen wie Abstammung (siehe hier u.a. auch Familiennamen), Geburtsort, ehem. Besitz des Heimatrechtes, langjähriger Aufenthalt, Beherrschung der Mundart usw." – so der Landesamtsdirektor in einem als "Alemannen-Erlaß" berühmt gewordenen amtsinternen Rundschreiben vom 16. Mai 1961 (Zl.Prs.-592/1; neuerlich am 7.7.1964, Zl.Prs.-592/13-58).

In dieser ausgeprägten Form mag die Bestimmung des Fremden im (offiziell formulierten) Vorarlberger Landesbewußtsein kurios erscheinen, doch steht sie in einer langen, spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgeformten Tradition. Diese wurde nach 1945 in Kategorien aufgenommen beziehungsweise fortgesetzt, wie sie die rassenbiologische Forschung nach dem Ersten Weltkrieg formuliert und die NS-Herrschaft verfestigt hatte. Markus Barnay hat diesen Traditionsstrang im Detail nachgezeichnet (Barnay 1988, S. 368-376, 463-470).

 

1.        Fremdenfeindlichkeit – Die industrielle Rationalität des Antiindustrialismus

 

Nochmals zur Anfangsfrage: Wie verträgt sich das alles mit einer entwickelten Industrieregion, deren Hunger nach Arbeitskräften seit jeher nur durch den massiven Zuzug von "Fremden" zu stillen war?

Antonio Gramsci hat im Zusammenhang mit seinen Reflexionen über "Amerikanismus und Fordismus" die einleuchtende These entwickelt, ein prosperierendes kapitalistisches System setze eine "rationale demographische Zusammensetzung" der Bevölkerung voraus oder müsse eine solche Zusammensetzung immer wieder erzeugen. Diese Rationalisierung der demographischen Zusammensetzung bedeutet im weiteren Sinn, daß es keine Gesellschaftsklassen ohne wesentlich produktive Funktion gibt; im engeren Sinn, daß die Industriearbeiter körperlich und geistig auf die Bedürfnisse der industriellen Produktion optimal zugerichtet sind (Gramsci 1967, S. 378-379,389-393).

Man muß sich natürlich hüten, diese Vorstellung der demographischen Rationalisierung gleichsam überrationalistisch zu übernehmen – so, als passe sich der industrielle Kapitalismus die Arbeitsbevölkerung je nach Bedarf und Konjunktur problemlos an. Im Gegenteil: Gramsci verweist auf jene zahlreichen "passiven Ablagerungen" der Vergangenheit, die als "Pensionäre der Wirtschaftsgeschichte" der allgemeinen Durchsetzung kapitalistischer Produktions- und Verkehrsverhältnisse im Wege stehen (Gramsci 1967, S. 379).

Arbeitsmigration ist eine besonders effiziente Form dieser Rationalisierung der demographischen Zusammensetzung: Arbeitskräfte brauchen nicht erst langwierig aus dem Inneren des Systems selbst hervorgebracht oder umgebildet und neuen Bedürfnissen der Produktion gefügig gemacht zu werden; sie lassen sich, zumal wenn sie über geringere rechtliche Sicherungen verfügen, dem Bedarf äußerst variabel anpassen; sie verursachen, da für ihre Jugend und ihr Alter in der Regel in der Herkunftsgesellschaft gesorgt wird, geringere Kosten der Reproduktion, können also schlechter entlohnt werden usw.

Dieser Vorgang einer permanenten Rationalisierung der demographischen Zusammensetzung ist in Vorarlberg während der vergangenen einhundert Jahre sehr gut zu verfolgen. Und daraus läßt sich auch verstehen, daß die fremdenfeindlichen, scheinbar antiindustrialistischen Elemente des offiziell propagierten Landesbewußtseins so ungleichzeitig und rückwärtsgewandt nicht sind: Sie dienten und dienen zum einen der Stabilisierung jener Arbeitskräfte, die in der industriellen Struktur unverzichtbar geworden sind und als "Einheimische" (oder einheimisch Gewordene) an ihren Platz gebunden werden sollen; und sie ermöglichen die Ausgrenzung jener, die, ohne Heimatrecht, den Schwankungen des wirtschaftlichen Bedarfs sich anpassen – also auch: gegebenenfalls sich abschieben - lassen müssen.

Diese (idealtypische) Spaltung in eine Kernarbeiterschaft und eine Randarbeiterschaft hängt mit unternehmerischen, staatlichen, zum Teil auch gewerkschaftlichen Interessen an der sozialen Stabilisierung ebenso wie der Flexibilisierung jeweils unterschiedlicher Arbeitnehmerschichten zusammen. Die ideologische Aufbereitung dieses Interesses haben jedoch, zumindest in Vorarlberg, immer Artikulatoren aus kleinbürgerlich-bäuerlichem, auch bürokratischem Milieu besorgt, das eine antiindustrialistische Grundstimmung nie verdrängen konnte.

Das gilt nicht nur für die katholisch-konservative Industrie- und Zuwanderungskritik des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, sondern selbst noch für die von den "Vorarlberger Nachrichten" 1979/80 getragene regionalistische Initiative "Pro Vorarlberg": Ihre Industrialismus- und Wachstumskritik verband sich zwanglos mit der Agitation gegen die "Übervölkerung" (gemeint: Überfremdung) infolge "einer maßlosen Zuwanderung" (Barnay 1983, S. 25, 38).

Die konservative Zuwanderungskritik mochte und mag in ihren Inhalten rückwärtsgewandt und antiindustrialistisch sein, in ihrer Systemwirkung war sie durchaus rational: Dies ist wohl auch der Grund, daß sich Vorarlbergs größere Unternehmer und ihre Vertretungsorgane – soweit ich anhand des historischen Materials sehen kann – öffentlich nie in die Zuwanderungsdebatte eingemischt haben.

Im übrigen ist die "Identität Vorarlbergs und der Vorarlberger" (Veiter 1985) durch Zuwanderung natürlich nie bedroht, sondern immer nur befördert worden. Denn "Identität" oder ethnisches Bewußtsein entsteht erst durch Abgrenzung, durch die nachhaltige Erfahrung des Fremden (Weber 1972, S. 23, 237-239). Und auch am Beispiel Vorarlbergs läßt sich gut zeigen, daß zentrale Elemente eines eigenen ethnisch-territorialen Bewußtseins sich erst als Reaktion auf die Zuwanderung herausgebildet haben. Wie die Erfahrung von Zuwanderer-Minderheiten gesellschaftlich vermittelt, in politischen Auseinandersetzungen verarbeitet und durch Medien öffentlich gemacht worden ist – das bildete die Images des jeweiligen Fremden ebenso wie die des Einheimischen.

Die "Erfindung des Vorarlbergers" (Barnay 1988) und die Erfindung des Fremden in Vorarlberg sind komplementäre, aufeinander bezogene Prozesse. Ein zeitlicher Querschnitt durch die Regionalgeschichte der vergangenen hundert Jahre mag die Typik solcher Prozesse erhellen.

In Vorarlberg lassen sich seit der massiven Industrialisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sechs große Wellen der Arbeitszuwanderung feststellen:

  • Italiener/innen aus dem Trentino, nach 1870 bis 1914: Textilindustrie, Verkehrsbauten (besonders Bahnbau), Baugewerbe;
  • deutschsprachige Zuwanderer aus Kronländern der (ehemaligen) Monarchie in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende: Handwerker, Beamte, Post- und Bahnbedienstete; nach dem Ersten Weltkrieg Bauarbeiter für Kraftwerksprojekte;
  • Südtiroler Umsiedler nach dem Hitler-Mussolini-Abkommen 1939: Textilindustrie;
  • Fremd- und Zwangsarbeiter 1939-1945, besonders Polen, Franzosen, Jugoslawen, Ukrainerinnen: Kraftwerkbauten (Hochgebirgsstauseen), Textilindustrie, Landwirtschaft;
  • Arbeiterinnen und Arbeiter aus Kärnten und der Steiermark in den fünfziger und sechziger Jahren: Baugewerbe, Textilindustrie, Gastgewerbe;
  • Zuwanderer aus Jugoslawien und der Türkei in den sechziger und siebziger Jahren: Textil- und Metallindustrie, Baugewerbe, Fremdenverkehr (Gastgewerbe).

Aufgrund der besonderen Industrie-Topographie Vorarlbergs – die Fabriksstandorte sind über die beiden Haupttäler Rheintal und Walgau gestreut – haben die Zuwanderer-Minderheiten, nicht anders als die einheimischen Arbeiter und Arbeiterinnen, kaum geschlossene Siedlungsgebiete besetzt. Das erschwerte die dauerhafte Herausbildung migranteneigener Subkulturen. Es erschwerte aber ebenso die Einsicht der Einheimischen (oder einheimisch Gewordenen), daß Arbeitszuwanderung ein zentrales Element der sozialen Struktur bildet.

Statt dessen entwickelten sich vielfältige Formen der kulturellen Abwehr des Fremden. Sie wurden gleichzeitig Bausteine eines ausformulierten ethnisch-regionalen Bewußtseins. Dabei wurde im Verlaufe von rund 50 Jahren – nämlich vom letzten Viertel des 19. bis zum ersten des 20. Jahrhunderts – das "Alemannische" zum zentralen Symbol und zum wesentlichsten Begriff der Abgrenzung gegenüber den "Fremden" im Lande selbst und östlich des Arlbergs.

 

2.        Zur Typik der Erfindung des Fremden

 

Der erste große Einwanderungsschub von italienischsprachigen Arbeitern und Arbeiterinnen vorwiegend aus dem damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Welschtirol (Trentino) erfolgte nach 1870, besonders aber im Zusammenhang mit dem Bau der Arlbergbahn 1880-1884 und danach. Die Vorarlberger Textilindustrie und die Bauwirtschaft hatten einen Bedarf an stark belastbaren und billigen Arbeitskräften, der aus den bäuerlichen Reserven des Landes allein nicht mehr zu befriedigen war.

Im Zusammentreffen mit diesen Arbeitszuwanderern wurden von katholisch-konservativen, zum Teil auch von deutschnationalen Politikern, Schriftstellern und Medien grundlegende Stereotype des Fremden – und damit, explizit oder implizit, des Einheimischen – gebildet und im Bewußtsein der Bevölkerung angesiedelt. Die hier entfalteten Stereotype haben auch später, lange nach der italienischen Zuwanderung, ihre Wirksamkeit und Bedeutung im Fundus ethnischer Symbole des Vorarlbergertums bewahrt.

Die Triebkräfte (und Ziele) jener ersten umfassenden Entwicklung fremdenfeindlicher Stereotype im Zusammenhang mit der italienischen Arbeitszuwanderung lassen sich auf drei Ebenen verorten:

  • Sie richten sich wirtschaftlich gegen die Arbeitszuwanderer als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, später auch gegen migranteneigene Konsumvereine und Händler;
  • sie richten sich politisch gegen die liberalen Fabrikanten, die die Zuwanderer ins Land geholt hatten und bei Wahlkämpfen um sie warben, ebenso wie gegen die Sozialdemokratie, die in einzelnen Vorarlberger Orten einen Teil ihrer numerischen Stärke italienischsprachigen Wählern verdankte;
  • sie richten sich kulturell gegen die vermeintliche Bedrohung festgefügter sozialer Zuordnungen, symbolisiert in "Stamm" oder "Rasse", durch die von der Industrie hereingeholten Fremden – Ausdruck eines konservativen Anti-Industrialismus.

Bereits 1877 nennt die katholisch-konservative Parteizeitung "Vorarlberger Volksblatt" Auftragsverluste für die Heimarbeiter/innen und die Bettelei der Arbeitszuwanderer als besonders problematische Folgen der Immigration. Die Zeitung kommt zu dem Schluß:

"Die Fabrikanten sollten nur so viele fremde Arbeiter und nur solche anstellen dürfen, die ihr Brod verdienen können. Muß also eine Arbeiterfamilie neben der Arbeit noch betteln, so werde sie einfach nach Hause geschickt. (...) Jenen Herren Fabrikanten in Vorarlberg aber, die bislang noch keine wälschen Arbeiter haben, ohne deshalb arm geworden zu sein, sei hiemit öffentlich gedankt. Sie leben hoch!" (Vorarlberger Volksblatt, 20.11.1877, zit.n. Johler 1987, S. 22).

Die Adressaten solchen Danks blieben spärlich. Die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Welschtirol und aus Italien (Venetien) stieg nach 1880 kontinuierlich an, sodaß 1910 von 145.408 Einwohnern des Landes offiziell 5 %, tatsächlich aber 7 bis 8 %, also rund 10.000 Personen, italienischsprachig waren (Johler 1987, S. 22 f.). Sie konzentrierten sich in den Textilorten der Region Hard-Kennelbach (bei Bregenz) sowie in und um Bludenz. Kurzfristig, vor allem im Zuge der Verkehrsbauten, wurden jedoch fast alle Vorarlberger Gemeinden mit der italienischen Arbeitszuwanderung konfrontiert.

Da um die Jahrhundertwende eine stärkere politische und gewerkschaftliche Mobilisierung der italienischen Zuwanderer einsetzte, richtete sich die Agitation der Katholisch-Konservativen beziehungsweise Christlichsozialen bald gegen die "Socialdemokraten mit ihrer 'wälschen' Mannschaft" (s. Burmeister 1971, S. 240). Das "Vorarlberger Volksblatt" vom 12. Jänner 1908 zum Beispiel konstatierte

"zwei betrübende Umstände, nämlich, daß die Verwelschung der Stadt Bludenz riesige Fortschritte macht und diese Südländer ihrer Menge und Stärke sich bewußt sind, und weiteis, daß der Großteil derselben der sozialdemokratischen Partei anhängt oder gar schon verschrieben ist" (zit.n. Sutterlütti 1984, S. 145).

Als politischer Faktor äußerte sich die italienische Arbeiterschaft eher in einigen spektakulären, und von der konservativen wie deutschnationalen Presse entsprechend gewürdigten, Aktionen (Sutterlütti 1984, S. 144-154) als durch eine kontinuierliche Organisationstätigkeit. Die Verbindung zur deutschsprachigen Sozialdemokratie des Landes blieb im wesentlichen auf Wahlbewegungen beschränkt - und dies auch nur in bestimmten Orten (Mittersteiner 1987, S. 150-158).

Mit der politischen Verarbeitung der italienischen Zuwanderung durch die konservative Elite des Landes wurde auch die kulturelle Ökologie formuliert, in der die Zuwanderung im öffentlichen Bewußtsein angesiedelt werden sollte: "bedrohtes Deutschthum", "Verwälschung Vorarlbergs", das wurden die Kurzformeln der Konservativen im Umgang mit den Arbeitsmigranten (Johler 1987, S. 96). Bereits 1885 hatte der katholisch-konservative Landtagsabgeordnete Martin Thurnher ein "Gesetz über die Besteuerung der Auswärtigen" eingebracht. Es sollte – wie Thurnher in seinen Lebenserinnerungen schreibt –

"ein Schutz gegen die Überschwemmung des Landes von Welschen werden. (...) Leider erhielt der diesbezügliche von mir verfaßte Gesetzentwurf wegen Kurzsichtigkeit der Wiener Regierung und deren Courtoisie gegen Italiener und der Rücksicht auf die Fabrikanten die kaiserliche Sanktion nicht" (Haffner 1987, S. 116).

Wie aus den Unterschieden der Lebensweise Vorurteilstopoi formuliert und diese dann auf den Begriff von Stamm und Rasse eingeschmolzen wurden, zeigt beispielhaft die literarische Produktion des Bludenzer Volksschriftstellers Josef Wichner, eines aus einfachen Verhältnissen stammenden Gymnasialprofessors. In seinen 1893 veröffentlichten Kindheitserinnerungen "Im Schneckenhause" schreibt er, durchaus im Sinne katholischer Industrialisierungs- und Einwanderungskritik, über die in Bludenz angesiedelten Italiener:

"In jener Zeit hatte nämlich das Fabrikswesen im Ländlein einen derartigen Aufschwung genommen, daß der Arbeiter bald zu wenig wurden (...) Da verfielen die Herren auf den Gedanken, die blutarmen Bewohner des italienischen Südtirols in den Fabriksbezirken ansässig zu machen und sie durch billige Arbeiterwohnungen an den Platz zu fesseln ...

Damals kamen eben die ersten fremden Familien ins Land, Söhne und Töchter eines südlicheren Himmels, braunhäutige, schwarzhaarige und schwarzäugige Menschen. Sie brachten welsche Sprache und welsche Sitte, welsche Unreinlichkeit und welsches Leben. Sie klapperten auf ihren Holzsandalen durch die Gassen der Fabriksorte und in die schönen Kirchen der Gemeinden. Sie sangen bis tief in die Nacht hinein ihre volltönenden, langgedehnten Weisen. Sie schrien in den Wirtshäuser bei ihren Nationalspielen wie besessen, schlugen auf die Tische, daß die Gläser tanzten, und griffen wohl auch nach heimischer Gewohnheit hie und da ein wenig zum Messer.

All das behagte den erbgesessenen Bewohnern des seit Jahrhunderten deutschen Ländchens nicht im mindesten ..." (zit.n. Johler 1987, S. 58).

Was den "erbgesessenen Bewohnern" da alles nicht behagte, ist bis zum heutigen Tage in den "Italienerliedern" aufgehoben – Spott- und Scherzliedern in einer dem Italienerdeutsch nachempfundenen Sprache, die ab der Jahrhundertwende Eingang ins Unterhaltungsrepertoire katholischer und national-liberaler Vereine fanden und dann zu Volksliedern wurden. Diese bis heute populären Lieder, die ihren Anlaß längst überdauert haben, sind ein Kanon aller Vorurteile und Stereotype, die damals gegen "die Italiener" bestanden, eine Sammlung des Diskurswissens der Einheimischen über die Zuwanderer. Reinhard Johler hat diese Lieder einer ausführlichen Analyse unterzogen und sie als Quellen der Zuwanderungsgeschichte, wie sie sich im Bewußtsein der (meisten) Einheimischen abgespielt hat, fruchtbar gemacht (Johler 1987, S. 84-138).

 

3.        Vom Deutschen zum Alemannen

 

Die italienische Zuwanderung nach Vorarlberg hörte mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges auf; viele kehrten ins Trentino beziehungsweise nach Italien zurück. Heute erinnern neben den "Italienerliedern" nur noch zahlreiche italienische Familiennamen im Telefonverzeichnis von Gemeinden wie Hard an diese ersten "Gastarbeiter".

Einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beklagten zwar noch konservative Volkstumsideologen die Zufuhr fremden Blutes und deren Auswirkung auf den alemannischen Volkscharakter (s. Johler 1987, S. 65-69), doch dürften solche Stimmen, zumindest hinsichtlich der italienischen Zuwanderung, der Vergangenheit angehören. Die Ansicht des "Volkstheoretikers" Theodor Veiter, wonach die Trentiner "das Bild von der Vorarlberger Identität am stärksten von allen Zuwanderern, die nach Vorarlberg gekommen sind, verformt" hätten (Veiter 1985, S. 19), mag zwar noch für den Herrn Honorarprofessor der Universität Innsbruck repräsentativ sein, im übrigen aber kaum mehr für die dergestalt verformten Vorarlberger.

Nach 1918 richtete sich die Produktion fremdenfeindlicher Stereotype gegen Zuwanderer aus deutschsprachigen Teilen der ehemaligen Monarchie beziehungsweise aus anderen österreichischen Bundesländern. Gegen sie konnte nun nicht mehr, wie gegen die Italiener, das rassenideologische Vorurteil des Deutschtums mobilisiert werden. In der Tat wurde das deutsch-nationalistische Vorurteil zum "alemannischen" verengt und die "Landfremdheit" der Zuwanderer betont.

Dies lag umso näher, als im Zusammenhang mit Selbständigkeitsbestrebungen der konservativen und deutschnationalen Elite im Land sowie mit den Bestrebungen eines Anschlusses an die Schweiz das Alemannentum als zentrales Symbol der ethnisch-regionalen Besonderheit Vorarlbergs nun voll in Funktion trat. Das "Alemannische" diente als Unterscheidungsmerkmal zum Osten jenseits des Arlbergs, speziell zum "jüdisch-bolschewistischen" Wien, und als Identitätsmerkmal gegenüber den Stammesbrüdern jenseits des Rheins, in der Schweiz. Diese teilweise Neukonstruktion ethnischer Symbole nach 1918 ist zwar politisch unmittelbar folgenlos geblieben, hat jedoch das Landesbewußtsein wesentlich geprägt (Barnay 1988, S. 336-390, bes. 337-341).

Da viele Arbeitszuwanderer der Zwischenkriegszeit Mitglieder oder Wähler der Freien Gewerkschaften oder der Sozialdemokratischen Partei wurden, war es bald konservativer Usus, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung des Landes als jüdisch beherrscht, landfremd usw. zu stigmatisieren. Als Beispiel ein Aufruf des "Vorarlberger Volksblattes" vom 13. April 1919 zu landesweiten Demonstrationen gegen die sozialdemokratische Rätebewegung Vorarlbergs:

"Eine Gruppe von Sozialdemokraten, vielfach Landesfremde planen einen Anschlag auf die Freiheit und auf die Verfassung des Landes. Ihr Ideal ist die Räterepublik, die Gewaltherrschaft des Proletariates. (...) Die Fremden wollen herrschen; dem bodenständigen Vorarlberger, verwachsen mit der heimatlichen Scholle, droht das Gewaltjoch russischer Herkunft und halbasiatischer Art" (zit.n. Greussing 1982, S. 122).

Der Antisemitismus entwickelte sich nun zu einem wesentlichen Bestandteil des Landesbewußseins – zum einen in der Abgrenzung gegen "Wien" (vgl. Barnay 1988, S. 343-346), zum anderen in der Agitation gegen die Vorarlberger Sozialdemokratie, beispielsweise bei der Werbung zur Arbeiterkammerwahl 1926 (vgl. Wanner 1978, S. 44 f.).

Zur politisch-kulturellen Ausgrenzung kam, real und als Drohung, die physische, aufgrund der bestehenden Regelung des "Heimatrechts". Zur "Abschaffung" aus Vorarlberg reichte es, arm und politisch suspekt zu sein. Ausweisungen aus dem Land lassen sich gehäuft 1919 und dann ab den dreißiger Jahren feststellen - Anfang 1933 wurden allein aus dem Bezirk Bludenz 266 Erwachsene und eine unbekannte Zahl von Kindern "abgeschafft" (Dreier 1986, S. 42, 150).

 

4.        Umsiedlung und Zwangsarbeit

 

Die nationalsozialistische Herrschaft brachte zwei Zuwanderungswellen ins Land, beide ab 1939: die Südtiroler Umsiedler sowie Fremd- beziehungsweise Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Auf den ersten Blick scheinen beide Migrationsbewegungen nicht den Tatbestand der Arbeitszuwanderung zu erfüllen, da der Wanderung im wesentlichen nicht ökonomische, sondern politische Zwänge zugrunde lagen. In Wirklichkeit aber läßt sich zeigen, daß es sich jedesmal um äußerst effiziente, sozusagen paßgenaue, Formen der demographischen Rationalisierung – also um die Anpassung der Bevölkerungsstruktur an Erfordernisse der industriellen Produktion – handelte.

Von rund 74.500 Personen, die zwischen Ende 1939 und September 1943 Südtirol aufgrund des Hitler-Mussolini-Abkommens verlassen hatten, waren bis Ende November 1943 insgesamt 10.681 nach Vorarlberg gekommen. Sie wurden überwiegend in den drei Industriezentren Bregenz, Dornbirn und Bludenz sowie in einer Handvoll größerer Orte angesiedelt (Meusburger 1971, S. 250 f.).

Die Aussiedler aus Südtirol stammten insgesamt zu 30% aus der Landwirtschaft und zu 38,5 % aus industriellen und handwerklichen Erwerbsverhältnissen. Bei den in Vorarlberg angesiedelten Südtirolern überwiegen jedoch ganz klar die unqualifizierten Arbeiterinnen und Arbeiter mit 57,5 % (vgl. Greber 1979, S. 267, T.5 und S. 283, T.12) – ein Ergebnis von Interventionen der führenden Dornbirner Textilindustriellen, die angesichts der Rüstungsaufträge dringend Arbeitskräfte brauchten (vgl. Walser 1988, S. 49-56).

Der Zuzug von Südtiroler Arbeitskräften dürfte auch zu einem guten Teil für den wachsenden Frauenanteil in der Vorarlberger Wirtschaft der NS-Zeit verantwortlich sein: Während am 31.3.1938 10.954 Arbeiterinnen und weibliche Angestellte gezählt wurden, schnellte diese Zahl zum Jahresende 1940 auf 15.031 hoch und erreichte Ende März 1945 mit 17.352 ihren Höchststand (ohne Fremdarbeiterinnen). Damit stieg der Frauenanteil an der Gesamtzahl der einheimischen Unselbständigen im industriell-gewerblichen Sektor von 44 % im Jahre 1938 und ebenfalls 44 % Ende 1940 auf 58 % im März 1945 (VWSSt 1945, S. 9).

Bei den nach dem Krieg (1945-1955) eingebürgerten Südtiroler Umsiedlern fällt auf, daß 62,9 % Arbeiter und 5,1 % Angestellte waren (die übrigen vorwiegend Rentner und Hausfrauen) – auch hier dürfte es sich um eine gezielte Abstimmung auf den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft gehandelt haben (VWSSt 1956, S. 106; Meusburger 1971, S. 256).

Neben den Südtiroler Umsiedlern sind, im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen (Kriegs-)Wirtschaftspolitik, die Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter/innen zu erwähnen. Dieses düstere Kapitel der Vorarlberger Zeitgeschichte wurde inzwischen einigermaßen erhellt (Brändle und Greussing 1985).

Der unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch begonnene massive Ausbau der Kraftwerksanlagen (Hochgebirgsstauseen) im Montafon führte schon im Winter 1939/40 zum Einsatz polnischer Kriegsgefangener. Von 1942 bis Kriegsende ist dann – statistisch gesondert erfaßt – eine kontinuierliche Steigerung des Fremdarbeitereinsatzes festzustellen. Im Jahre 1942 betrug deren Zahl 3.305; 1944 waren es im Mittel 5.608, und in den ersten drei Monaten des Jahres 1945 gab es, infolge Verlagerungen kriegswichtiger Produktion ins vermeintlich bombensichere Vorarlberg, einen nochmaligen sprunghaften Anstieg von 6.414 auf 7.711. Der Anteil der Frauen betrug ab 1943 konstant ein Drittel.

Welche Rolle allein die Fremdarbeiter/innen in der Vorarlberger Wirtschaft jener Zeit spielten, wird deutlich, wenn man sich ihren Anteil an der industriell-gewerblichen Gesamtarbeitskraft vergegenwärtigt: Am Höhepunkt ihres Einsatzes, im März 1945, machten sie ein Fünftel aller Arbeiter und Angestellten des Landes aus (Brändle und Greussing 1985, S. 163).

Obwohl der NS-Staat systematisch versuchte, die fremden Arbeitskräfte zu diskriminieren und durch Strafandrohungen von den Einheimischen abzuschotten, sind aus den Akten doch zahlreiche Belege für spontane Hilfsbereitschaft gegenüber diesen Menschen bekannt. So sah sich etwa Anfang 1944 die Werkszeitschrift der Textilfirma F.M. Hämmerle genötigt, nachdrücklich die Apartheid im Umgang mit "Ostarbeiterinnen" zu fordern:

"Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir es hier mit primitiven Menschen aus dem Osten zu tun haben. (...) Es gibt deutsche Menschen, in denen das anfänglich armselige Äußere dieser Menschen aus dem Osten ein tiefes Mitgefühl hervorgebracht hat. Sie möchten daher die Ostarbeiterinnen ganz besonders in ihre Obhut nehmen, ja vor lauter Gefühlsduselei diesen Lebensmittel und sonstiges, das sie sich von ihrem eigenen Munde absparen, zustecken. Das ist vollkommen falsch" (zit.n. Pichler 1984, S. 296).

Ebenso häufig sind aber Denunziationen gewesen, und es dürften bei vielen nur wenige Hemmungen bestanden haben, vor allem die schon vor der Arier-Ideologie des Nationalsozialismus verachteten Slawen bei geringen Verstößen den Behörden zur Verfolgung preiszugeben. Nur so ist die Tatsache zu erklären, daß Einlieferungen von Fremdarbeitern in die Gefängnisse und ins "Arbeitserziehungslager" Reichenau bei Innsbruck vielfach gleich gruppenweise erfolgt sind (Brändle und Greussing 1985, S. 169-172).

Ein großer Teil der rund 10.000 Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter wurde noch wenige Tage vor Kriegsende über Vermittlung des Schweizer Konsuls in Bregenz, Ing. Karl Bitz, aus Vorarlberg in die Schweiz und nach Liechtenstein abtransportiert (Küng 1972, S. 88-91) – zur großen Erleichterung vieler Einheimischer, die Racheakte, Plünderungen oder gar einen Aufstand befürchteten. Damit war dieses Kapitel der Landesgeschichte erledigt – aus den Augen, aus dem Sinn. Nichts erinnert heute mehr an diese Menschen – die Kraftwerksbauten, die sich allesamt dem (erzwungenen oder freiwilligen) Einsatz von fremden Arbeitern verdanken, avancierten rasch zu Symbolen alemannischen Leistungswillens.

Die Südtiroler hingegen blieben. Sie waren lange Zeit vielfältigen Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt – schon aufgrund ihrer sozialen Stellung im Erwerbsleben und nicht zuletzt deshalb, weil man ihnen bis Anfang der fünfziger Jahre möglichst große Schwierigkeiten beim Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft machte. Dennoch kehrte nur rund ein Fünftel der ursprünglichen Zuwanderer nach Südtirol zurück (Meusburger 1971, S. 259; Greber 1979, S. 285-290). In der Mitte der siebziger Jahre hatte sich das eigene Siedlungsmilieu der Südtiroler durch starke lokale und ethnische Vermischung schon weitestgehend aufgelöst (Greber 1979, S. 290-292).

 

5.        Nachkriegskonjunktur – Konjunktur der Zuwanderung

 

Zusammen mit der Belebung der Nachkriegskonjunktur setzte eine neuerliche Zuwanderungswelle ein – vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter aus Kärnten und der Steiermark kamen nun nach Vorarlberg. Diese Phase dauerte bis Mitte der sechziger Jahre, als Verdienst- und Beschäftigungschancen in den übrigen Bundesländern besser wurden. Von 1951 bis 1966 sind insgesamt rund 32.500 Menschen aus anderen Bundesländern nach Vorarlberg dauerhaft zugewandert (Meusburger 1982, S. 49); zum Teil wurden sie freilich als Grenzgänger im benachbarten Ausland (Schweiz, BRD, Liechtenstein) tätig.

Die Geschichte dieser Arbeitszuwanderung aus Kärnten, der Steiermark und anderen Bundesländern ist bislang nicht systematisch untersucht worden (einiges Material in Hanser 1979/80). Unbestreitbar ist, daß diese "Innerösterreicher" ebenfalls massiven Vorurteilen ausgesetzt waren – "Steirer" wurde in der Vorarlberger Umgangssprache eine Zeitlang zu einer Art Schimpfwort. Wie andere Zuwanderer vor ihnen schufen sie durch diverse Vereine ein eigenes kulturelles Milieu (Hanser 1979/80, S. 47-51), politisch und gewerkschaftlich engagierten sie sich überwiegend in der Sozialdemokratie.

Die Zuwanderung dieser Arbeiter/innen fiel zeitlich mit einer Neubelebung des Vorarlberg-Bewußtseins zusammen, in der der "alemannische Volkscharakter" weiterhin mit rassebiologischen Vorstellungen begründet wurde (Barnay 1988, S. 463-470) – keine besondere Einladung an die "bajuwarisch-slawischen" Zuwanderer, sich hier heimisch zu fühlen.

Der vorderhand letzte Wanderungsstrom nach Vorarlberg setzte zur Mitte der sechziger Jahre ein und ist inzwischen zum Abschluß gekommen. Es ist die "Gastarbeiter"-Zuwanderung, wobei zwischen 1962 und 1966 auch einige hundert Italiener, Spanier und Griechen ins Land geholt wurden, ab 1964/65 jedoch zunehmend und dann ausschließlich Jugoslawen und Türken (Wanner 1986, S. 87).

Seit Beginn dieser Zuwanderungsbewegung verzeichnet Vorarlberg österreichweit den höchsten Immigranten-Anteil:

Im Spitzenjahr 1973 waren es 23.835 türkische und jugoslawische Arbeitskräfte gewesen, 22 % der unselbständig Beschäftigten dieses Bundeslandes (Mayr 1984, S. 24, T.2 und S. 44, T.7). Der entsprechende österreichische Durchschnittswert war damals bei rund 8 % gelegen. Die Zahl der jugoslawischen und türkischen Arbeiter/innen fiel inzwischen – Ende März 1988 – auf 12.695 Personen (Jugoslawen 6.650, Türken 6.045). Die gesamte Wohnbevölkerung der beiden Nationalitäten betrug 10.862 bzw. 15.229 Personen, das sind in Summe 26.091 oder 8 % der Gesamteinwohnerzahl von 325.800 (Vorarlberger Nachrichten, 3.5.1988; Neue Vorarlberger Tageszeitung, 11.5.1988). Es ist auffällig, daß somit die türkische Bevölkerungsgruppe mehr als doppelt soviele nichtbeschäftigte Familienangehörige zählt wie die jugoslawische. Zur Zeit leben in Vorarlberg 7.645 türkische Kinder und Jugendliche; 15 % der Pflichtschüler sind Ausländerkinder (Neue Vorarlberger Tageszeitung, 11.5.1988).

Die Zahlen zur Ausländerbeschäftigung machen nicht nur die Rolle der Arbeitszuwanderer als Konjunkturpuffer deutlich. Ebenso deutlich ist, daß der Nachzug der Familienangehörigen in vielen Fällen bereits eine Einwanderungsentscheidung der Migranten signalisiert. In der Tat bekennen sich maßgebliche politische Institutionen – Gewerkschaft und Arbeiterkammer, aber auch die Vorarlberger Landesregierung – dazu, daß es sich bei den "Gastarbeitern" um Einwanderer handelt, zumindest im Fall der "zweiten Generation" (z.B. Neue Vorarlberger Tageszeitung, 17.10.1986). Diese – bislang im wesentlichen rhetorische – Fürsorge hängt vor allem damit zusammen, daß die Arbeitsimmigranten in einzelnen Branchen einen relevanten Teil der zahlenden Gewerkschaftsmitglieder und insgesamt bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen einen politisch sensiblen Teil der Stimmberechtigten zu den AK-Wahlen stellen. Ohne diese bescheidene Machtressource würde, dessen bin ich mir sicher, in Vorarlberg außer einigen Freunden der Arbeiterklasse und engagierten Christen kein Hahn nach den Ausländern krähen, höchstens im Bedarfsfall nach der Polizei.

Doch auch so ist die Situation triste genug. Eine einzige Zahl soll dies schlaglichtartig beleuchten: 1987 standen, trotz entsprechender Angebote von Stellen, nur 188 junge Jugoslaw/inn/en und gar nur 52 Türk/inn/en in einem Lehrverhältnis (Landesarbeitsamt Vorarlberg, Statist. Mitteilung). Es kann dies, gerade bei den türkischen Familien, nur als Ausdruck einer tiefen lebensgeschichtlichen Unsicherheit infolge der ungesicherten Aufenthaltsperspektive gewertet werden: Längerfristige Bildungsinvestitionen erscheinen unkalkulierbar und zu riskant.

Speziell bei der zweiten Generation der türkischen Zuwanderer sind darum in Vorarlberg die Zeichen auf Bildung einer neuen industriellen Reservearmee gestellt. Das wird nicht nur die bestehenden Vorurteile bestärken und ihnen zu einem langen Leben verhelfen, es liegt auch irgendwie in der geschichtlichen Logik der Zuwanderungsökonomie dieses Bundeslandes: Da ständig – im Sinne einer möglichst rationalen demographischen Zusammensetzung der Bevölkerung – ein randständiges, flexibles, leicht verschiebbares Arbeitskräftepotential gebraucht wird, dieses durch eine neue Immigrationswelle jedoch auf absehbare Zeit nicht gewonnen werden kann, wird dieses Potential eben nun im Land selbst hergestellt – in Gestalt der "zweiten Generation" der Arbeitseinwanderer.

 

6. Zusammenfassung

 

Greifen wir noch einmal die These vom Anfang dieses Beitrags auf: Arbeitszuwanderung als besondere – und politisch besonders effizient handhabbare – Form der demographischen Rationalisierung.

In Vorarlberg bestand über ein Jahrhundert hinweg stets eine wechselnde Bevölkerungsgruppe im Umfang von etwa 10 bis 20 % der Gesamtbevölkerung, die im Rahmen einer ethnischen Arbeitsteilung als randständiges, flexibles Arbeitskraftpotential verwendbar war, ohne Anspruch auf Heimatrecht und soziale Stabilität. Zumindest wurde dieser Gruppe der Anspruch auf "Heimat" ständig streitig gemacht – durch Propagierung eines eigenen Vorarlberger Landesbewußtseins und der dazugehörigen Alemannen-Ideologie.

Erst wenn eine Gruppe durch sozialen Aufstieg die Schranken der ethnischen Arbeitsteilung durchbrochen hatte und in den stabilen Kern der Vorarlberger Erwerbstätigen (Selbständige wie Unselbständige) eingerückt war, traf sie das fremdenfeindliche Vorurteil nicht mehr. Das ist gut zu sehen an der Tatsache, daß Vorurteile gegen die Nachfahren der italienischen Zuwanderer, gegen Südtiroler, ja auch gegen Kärntner und Steirer weitgehend verschwunden sind und öffentlich nicht mehr artikuliert werden. Selbst die Jugoslawen, von denen manche schon gehobenere Positionen, zum Beispiel als Vorarbeiter, in den Betrieben einnehmen, scheinen an sozialer Wertschätzung zu gewinnen.

Anders die türkischen Arbeitszuwanderer: Sie und ihre Kinder dürften als vorderhand letzte ethnische Gruppe zum langlebigen Opfer einer neuen demographischen Rationalisierung und damit alter Vorurteile werden.

 

 

Literaturangaben

 

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