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Meinrad Pichler (2011): Hilar Huber (1920–2001) – Der Grenzgänger und seine Fluchten

Es ist die Geschichte einer unglaublichen Desertion aus der deutschen Wehrmacht: Fünf Jahre hat der Höchster Hilar Huber auf der Flucht und in Gefängnissen verbracht, ehe er im Mai 1945 aus der Schweiz ins befreite Österreich - und in ein unauffälliges Zivilleben - zurückkehrte.

 

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Meinrad Pichler


Hilar Huber (1920–2001) - Der Grenzgänger und seine Fluchten

 

Zuerst erschienen in: H. Platzgummer / K. Bitschnau / W. Bundschuh (Hg.): „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist…“ Vorarlberger vor den Gerichten der Wehrmacht. Dornbirn: Stadtmuseum Dornbirn 2011, S. 17-23

 

Hilar Huber aus Höchst, Jahrgang 1920, wird als siebtes von neun Kindern nicht nur in arme Verhältnisse, sondern auch in schwierige Zeiten geboren. Als er 1935 ausgeschult wird, hat er weder die Chance auf eine Lehrstelle noch auf einen Arbeitsplatz. Als Handlanger auf verschiedenen Baustellen schlägt er sich mehr schlecht als recht durch. Im Oktober 1940 wird er in die deutsche Wehrmacht eingezogen. Vier seiner Brüder haben sich im Polenfeldzug bereits Eiserne Kreuze, Auszeichnungen und Beförderungen erworben. Der Jüngere hat weniger militärischen Ehrgeiz. Während seiner Ausbildungszeit in Tirol wird er dreimal wegen zu späten Einrückens bestraft, sonst aber als „ruhig, willig, anständig und verträglich“[1] beschrieben.

Im Frühjahr 1941 kommt Huber mit seinem Innsbrucker Gebirgsjägerbataillon an die Balkanfront. Und hier, in Mittelgriechenland, beginnt die dramatische Odyssee des Hilar Huber.

Am 21. Mai 1941 wird Huber am Stützpunkt seiner Kompanie im Ort Atalanti einem Kommando zugeteilt, das die Pferde der griechischen Bauern für die deutsche Besatzungsarmee beschlagnahmen soll. Während einer Rast verschwindet Huber und meldet sich am nächsten Tag wieder bei seiner Einheit mit der Entschuldigung, er habe sich verlaufen. Das Kriegsgericht hat ihm später abgenommen, dass er sich nicht absichtlich von der Truppe entfernt habe.[2] Später, bei einer Einvernahme durch die Schweizer Polizeibehörden, argumentiert Huber allerdings recht glaubhaft anders. An den Tagen zuvor, gibt er in der Schweiz zu Protokoll, seien andere Kommandos, die ebenfalls in umliegenden Städten und Dörfern bei der griechischen Zivilbevölkerung Pferde beschlagnahmen sollten, schwer dezimiert zurückgekehrt. Etliche deutsche Soldaten seien bei den Versuchen, Pferde abzuführen, erschossen worden. „Ich weigerte mich daher(,) offen in den Tod zu rennen“, deshalb sei er bei der Rast verschwunden.[3]

Als ihm der Kolonnenführer nach einer ausführlichen Einvernahme ein Verfahren vor dem Kriegsgericht androht, ist Hubers Zeit als Soldat der deutschen Wehrmacht von der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1941 zu Ende. Er schleicht davon, verschafft sich bei einem griechischen Bauern eine alte Hose und gelangt entlang der Eisenbahnschienen zu Fuß in die 150 km nördlich gelegene Stadt Larisa, wo er sich in einem Hotel einmietet, sich rasiert und einen Anzug kauft. In langen Nachtmärschen, immer an den nach Norden führenden Eisenbahnschienen sich orientierend, erreicht er die mazedonische Hauptstadt Skopje. Dort erwirbt er ein Fahrrad. Mit diesem fährt er durch ganz Serbien und Kroatien über Slowenien nach Villach. Hier gibt er am Bahnhof sein Fahrrad auf und erreicht per Bahn am 24. Juni 1941 Hohenems.[4]

Noch am Abend trifft Huber im Elternhaus in Höchst ein, nachdem er eine abenteuerliche Reise von mehr als 2000 Kilometern zu Fuß, auf dem Fahrrad und per Bahn zurückgelegt hat. Sein Kalkül und seine Hoffnung, warum er diese Strapazen und Gefahren auf sich genommen hat, besteht darin, dass er zu Hause von einem Gericht eine mildere Bestrafung erhält als von der Militärjustiz. So macht er aus seiner Rückkehr kein Geheimnis, meldet sich beim Höchster Gemeindeamt als Wehrmachtsurlauber, dem die Freistellungspapiere erst nachgeschickt würden, und tags darauf beim Bregenzer Arbeitsamt. Sofort wird ihm eine Beschäftigung bei einem Maurermeister in Höchst zugewiesen.

Es dauert nun genau einen Monat, bis die militärischen Ermittler der lokalen Gendarmerie die Ausforschung und Verhaftung des Deserteurs auftragen. Am 25. Juli 1941 wird Huber an seinem Arbeitsplatz verhaftet und ins Gefangenenhaus in der Bregenzer Oberstadt überstellt. Hier wartet er bis zum 22. August, ehe der Heeresrichter aus Innsbruck zur Vernehmung anreist. Als Huber nach diesem Verhör klar war, dass seine Überstellung in ein Militärgefängnis unmittelbar bevorsteht und seine Hoffnung auf eine zivilgerichtliche Aburteilung sich als unrealistisch herausgestellt hat, tut er das, was auch in Zukunft sein Leben nicht einfacher machen, letztendlich aber retten sollte: Er bricht aus. „Am 26.8.1941 benützte Huber die Gelegenheit des Spazierganges der Häftlinge im Hofe des Amtsgerichtsgefängnisses Bregenz, um plötzlich auf den Mauersockel unter einem Fenster und von dort auf den Fenstersims zu springen, dann an dessen Eisengitter in die Höhe zu klettern, sich am Stacheldraht hochzuziehen, sich durch eine Öffnung des Drahtverhaues auf die Einfriedungsmauer zu schwingen und sich dann an dessen Außenseite an den Schlinggewächsen herabzulassen und so ins Freie zu gelangen.“[5]

Auch wenn die geraffte Darstellung des Gerichtsprotokolls das Spektakuläre und Aufsehenerregende dieser Flucht nur andeutungsweise vermittelt, handelt es sich um einen unglaublich kühnen und erfolgreichen Akt. Auch die Tatsache, dass das unmittelbar einberufene Großaufgebot an Polizeikräften keine Spur des Ausbrechers findet, zeugt von der Durchdachtheit des Vorhabens. Am Abend dieses aufregenden Tages stiehlt Huber im Vorkloster ein Fahrrad und fährt damit nach Gaißau, wo er den Alten Rhein durchschwimmt und glücklich bei Rheineck das rettende Schweizer Ufer erreicht.

Nach einigen Tagen der Freiheit trifft er am Nachmittag des 1. September bei seinem Onkel in Wittenbach im Kanton St. Gallen ein. Dessen Freude über den unvermuteten Gast hält sich in Grenzen. Zum einen kann er als ausgesprochener Nationalsozialist nicht verstehen, warum und dass sein Neffe aus der Wehrmacht desertiert ist, zum anderen will er mit den Schweizer Behörden nicht in Konflikt geraten. Um einer Ausweisung aus der Schweiz zuvorzukommen, hat er Ende 1940 der politischen Polizei gelobt, in der Schweiz nicht mehr politisch aufzufallen und seinen Sohn, der als „Standortführer der St. Galler Hitlerjugend“ aufgeflogen ist, an die politische Kandare zu nehmen.[6] Jedenfalls greift der Onkel sofort zum Telefon und meldet die Ankunft seines österreichischen Neffen dem Gemeindeamt von Wittenbach. Zwei Wochen dauert es nun, bis die Zahnräder von Armee und Fremdenpolizei ineinander greifen und die Inhaftierung des Flüchtlings im Polizeigefängnis St. Gallen angeordnet wird.

Hier wird Huber ausführlich von der Heerespolizei verhört.  Die militärischen Vernehmer interessieren sich hauptsächlich für die Aufstellung der Wehrmacht in Vorarlberg. Generell „erhofften sich die Militärs von den Deserteuren Informationen über Truppenbewegungen und Kriegsgeräte“[7]. Nach mehreren Einvernahmen kommen  Armee und Polizei überein, Huber in der bernischen Strafanstalt Witzwil zu verwahren.

Bereits nach dem ersten Monat berichtet die Gefängnisleitung, dass Huber „gut und fleißig“[8] arbeite. Im folgenden Monat kommt noch ein „zuverlässig“ hinzu. Trotz dieser günstigen Beschreibungen und einer Empfehlung der Gefängnisdirektion wird Hubers Ansuchen um eine Woche Urlaub, um das Neujahrsfest bei seinen Verwandten verbringen zu können, von der Polizeiabteilung  abgelehnt. Auch ein weiteres Ansuchen um Versetzung als Arbeitskraft zu einem Bauern wird mit dem Hinweis, diese Vergünstigung sei für Militärflüchtlinge nicht vorgesehen, abschlägig beantwortet. Immerhin wird Huber nun ins etwas freizügigere Internierungslager Murimoos im Kanton Aargau überstellt. Erstmals zum Nationalfeiertag am 1. August 1942 bekommt er für zwei Tage Ausgang.

Im Lager Murimoos werden die Internierten zur Torfgewinnung eingesetzt. Bei dieser Arbeit muss Hilar Huber miterleben, wie sein Lustenauer Kamerad Engelbert Bösch – ebenfalls Wehrmachtsdeserteur – unter einen voll beladenen Rollwagen gerät und an den Verletzungen stirbt.

Dieses Ereignis, die Behandlung und die Arbeit im Lager sowie die Sehnsucht nach einer Frau, die er bei Außenarbeiten in Witzwil kennengelernt hat und die bei La Chaux-de-Fonds wohnt, lassen in Huber den Entschluss reifen, aus dem Lager zu fliehen.  Am 22. November 1942, einem Sonntag, nimmt er zusammen mit einem Kollegen Reißaus. Zuvor schon hat Huber zwei Fluchtfahrräder „besorgt“. Als die beiden am folgenden Tag Biel durchqueren, werden sie von einem Polizisten angehalten und wegen fehlender Papiere arretiert. Beim Abführen aber gelingt es Huber, sich aufs Fahrrad zu schwingen und zu entfliehen. Bei Kälte, Nacht und Nebel durchquert er in nur zwei Tagen die ganze Schweiz. Im rheintalischen Au schleicht sich der Erschöpfte in ein Bauernhaus, schläft dort, stiehlt Lebensmittel und Winterkleidung.

Nachdem er zwei Wochen mehr oder weniger ziellos durchs untere Rheintal geirrt ist, entschließt er sich vor Weihnachten, den Rhein in Richtung Heimat zu überqueren. Nun ist er aber nicht nur ein gesuchter Deserteur, sondern auch ein ausgeschriebener Einbrecher. Die Schweizer Polizei informiert deshalb die Bregenzer Gestapo, dass sich Huber nach der Flucht aus dem Internierungslager in den Grenzorten befunden habe und nun wahrscheinlich zu Hause sei. Daraufhin wird am 5. Jänner 1943 Hubers Elternhaus von der Gendarmerie umstellt und der Gesuchte, der sich im Dachboden unter einem Bett versteckt hält, verhaftet. Nach ausführlicher Verhandlung am Sitz des Gebirgsjägerregiments 85 in Innsbruck wird Hilar Huber wegen Fahnenflucht mit „Feldurteil“ vom 3. März 1943 zum Tode verurteilt.

Da dem „Führer“ im Jahre 1943 die Soldaten schon sichtlich knapper werden und Huber bis zu seiner Flucht unbescholten und als Soldat gut beschrieben ist, entscheidet der oberste Militärverantwortliche am 13. März 1943, das Todesurteil in eine Gefängnisstrafe von 15 Jahren umzuwandeln.[9] Nach den gängigen bürokratischen Abklärungen wird Huber Anfang April nach Lingen im Emsland (Niedersachsen) verbracht. Lingen war eines von mehreren Konzentrationslagern im Moor bei Meppen. Neben holländischen und belgischen Widerstandkämpfern werden hier seit Ende 1942 hauptsächlich Wehrmachtsangehörige interniert. Auch der aus Dornbirn stammende Wehrmachtsflüchtling August Weiß wird hier gefangen gehalten, ehe er das Angebot zur „Frontbewährung“ den unmenschlichen Verhältnissen im Moorlager vorzieht.[10]

Gleich nach seiner Ankunft in diesem Lager steht für Huber fest, dass er hier weder bleiben will noch kann. Mit Hilfe einer selbst gefertigten Leiter gelingt ihm bereits am dritten Tag die Flucht. Wieder entwendet er als erstes ein Fahrrad und Zivilkleider und gelangt ohne allzu große Schwierigkeiten bis ins bayerische Kaufbeuren. Hier wird er von einer Streife in einem Zug festgenommen und in ein Abteil gesperrt, weil die Polizisten noch den Rest des Zuges durchsuchen. Das ist Hubers Chance. Er klettert durchs Abteilfenster und lässt sich, als der Zug an einem Signal sein Tempo verlangsamt, fallen. Das geschieht um etwa 23 Uhr. Erst in der morgendlichen Helle erwacht der Flüchtige aus seiner Bewusstlosigkeit, untersucht seinen zerschundenen Körper und schleppt sich in Richtung Kempten, als ihm ein Landgendarm in die Quere kommt. Todesmutig überwältigt er diesen, entreißt ihm Dienstwaffe und Fahrrad. Über das Lechtal gelangt er schließlich in den Bregenzerwald, wo er in Reuthe im Heustock des Bauern A. M., eines ehemaligen Mitgefangenen, kurzen Unterschlupf findet. Ihn hat Huber im Innsbrucker Gefängnis kennengelernt, wo jener wegen illegalen Käseverkaufs eingesessen hat. Von hier aus flüchtet Huber über die Berge ins Ebnit und von dort über Götzis nach Altach. Hier bekommt er von einem Bauern ausreichend zu Essen, kann sich nach langer Zeit erstmals waschen, ja insgesamt etwas zivilisieren.

Diese Tage der Erholung sind aber zugleich Zeit der Vorbereitung. Es gelingt ihm, Kontakt mit einem seiner Brüder aufzunehmen, der inzwischen als HIGA (Hilfsgrenzwächter) in Dienst steht. Von ihm erfährt er den üblichen Ablauf der Kontrollgänge an der Grenze, und das erweist sich für seine neuerliche Flucht in die Schweiz als hilfreich.

In Kriessern und Umgebung verbringt Huber einige Nächte in einer Riedhütte und begeht auf der Suche nach Essbarem wieder Einschleichdiebstähle. Von Buchs aus wandert er schließlich über das Toggenburg nach Wil und fährt mit der Bahn weiter nach Winterthur. Sein unrealistischer Plan ist, von hier aus irgendwie nach Portugal und von dort aus per Schiff nach England zu gelangen. Doch soweit kommt es nicht. Bald nach seiner Ankunft in Winterthur wird Huber in einem Gasthaus verhaftet. Nach kurzer Einvernahme ist der Polizei klar, wem sie die Diebstähle im Rheintal zuzuordnen hat, und überstellt Huber nach St. Gallen.

Am 16. Juni 1943 wird er vom Bezirksgericht Oberrheintal in Altstätten wegen „fortgesetzten Diebstahls im Rückfall und der Übertretung fremdenpolizeilicher Vorschriften“[11] zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Dem deutschen Reichskriminalpolizeiamt in Berlin, das mit Schreiben vom 28. August 1943 die Auslieferung  des Deserteurs in Bern beantragt hat, wird beschieden, dass dieser bis zum 16. September 1944 die Schweizer Strafe zu verbüßen habe und erst danach eine eventuelle Auslieferung spruchreif sei.

Offensichtlich ahnt oder weiß auch der Verurteilte, dass seine weitere Sicherheit in der Schweiz gefährdet ist. Und was tut er? Er bricht am 19. Jänner 1944 aus, diesmal aus dem kantonalen Gefängnis St. Jakob in St. Gallen. In Gossau stiehlt er wieder Kleidung, Fahrrad, Geld und Esswaren. Übers Appenzell will er sich nun nach Süden, wenn möglich nach Italien, durchschlagen, doch die Landjäger von Glarus setzen der Freiheit wieder ein jähes Ende. Am 20. April 1944 wird Hilar Huber vom Bezirksgericht Gossau „wegen wiederholtem einfachem Diebstahl im Rückfall und wiederholter Sachentziehung“ zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Das war seine letzte Verurteilung, und was folgt, ist sein letztes Jahr in einem Gefängnis.

Im Mai 1945 lässt man Huber ohne viel Aufhebens laufen. Während in diesen letzten Kriegstagen Kolonnen von Zwangsarbeitern aus Vorarlberg in die Schweiz transferiert werden und ein Treck von deutschen Flüchtlingen den anrückenden französischen Truppen am Grenzübergang Höchst Richtung Schweiz entfliehen will, geht ein erlöster Hilar Huber in die Gegenrichtung: diesmal aufrecht und über die Brücke zwischen St. Margrethen und Höchst.

Doch seine heimlichen Rheinüberquerungen sollten in der Folgezeit noch nicht gänzlich der Geschichte angehören. Als nämlich die Schweizer Grenzorgane im August 1946 den österreichischen Schmuggler Albert Huber verhaften und anschließend vernehmen, interessieren sie sich hauptsächlich für dessen amtsbekannten Bruder Hilar, der 1945 entlassen worden ist, und zwar – wie die Fremdenpolizei sich mokiert – „ohne dass uns Abmeldung gemacht wurde“.[12] Im gleichen Schreiben hält die Fremdenpolizei fest, dass Huber jetzt in Lustenau verheiratet sei, und: „Hilarius Huber scheint zur Zeit ein berüchtigter Schmuggler zu sein.“

Es bleibt bei dieser Vermutung, erwischt wird er jedenfalls nie. Nur noch einmal werden sich die Schweizer mit Huber befassen: Als er nämlich im Jahre 1963 ein Ansuchen um eine Arbeitsbewilligung in der Schweiz stellt. Dieses wird abgelehnt. Man will ihn nie mehr in der Schweiz sehen, zu sehr hat er die begrenzte Toleranz der Schweizer Behörden strapaziert. Aber trotz Internierung, Inhaftierung und Verurteilungen ist für Huber die Schweiz zum lebensrettenden Zufluchtsort geworden.

Hilar Huber ist – wie die meisten anderen Wehrmachtssoldaten auch – nach diesen fünf turbulenten Jahren mit lebensbedrohlichen, aufwühlenden und erschütternden, aber auch spannenden Erfahrungen und unvorstellbaren körperlichen Strapazen still, und ohne ein Aufheben daraus zu machen, ins zivile Leben zurückgekehrt. Er arbeitet wieder am Bau, bleibt unauffällig und führt eine recht einfache, aber eigenwillige Existenz. Zu Beginn der 1980er Jahre erwirbt er im Lustenauer Ried eine Hütte, in die er sich komplett zurückzieht.

Hilar Huber hat fünf Jahre seines jungen Lebens auf der Flucht und in Gefängnissen verbracht, ist immer dann verschwunden, wenn seine lebhafte Vorahnung es ihm geraten hat; er hat Gefängnismauern und Stacheldrahtzähne überwunden, hat seine Häscher raffiniert abgehängt, um ihnen kurz darauf wieder unbedacht in die Hände zu fallen; er hat auf seinen Fluchten mehrere tausend Kilometer zu Fuß, auf entwendeten Fahrrädern und in Zügen zurückgelegt und ist meist am angesteuerten Ziel angekommen, obwohl er nie eine Landkarte und überhaupt keine Reiseerfahrungen besessen hat.

Der unbedingte Wille, in bedrängter Zeit zu überleben, hat bei ihm Kräfte und Fähigkeiten freigesetzt, die er im zivilen Leben weder abrufen konnte noch wollte. Nach 1945 beobachtet er das Treiben der Welt mit Interesse, aber aus sicherer Distanz und ohne Engagement. Er will nur noch Ruhe – und in Ruhe gelassen werden.

 



[1]     Feldurteil des Gerichts der Division 188, Innsbruck 3.3.1943. Kopie im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) in Wien, Akt DÖW 6309.

[2]    Ebenda.

[3]    Bundesarchiv Bern (BAR), E 4320 (B) 1993/214: Bd. 16, Dossier C.29/A116-43-039.

[4]    Alle diese Angaben stammen aus dem Gerichtsprotokoll (DÖW 6309). Deckungsgleich sind die Angaben, die Hilar Huber in einem Interview mit dem Autor am 4.1.1984 gemacht hat. Alle weiteren Angaben bis 1943 stammen aus diesen beiden Quellen, sofern nicht andere zitiert werden.

[5]    DÖW 6309.

[6]    Bundesarchiv Bern (BAR), E 4320 (B) 1993/214: Bd. 16, Dossier C.29/A116-43-039. Hilar Huber erklärte bei seiner Vernehmung, dass der Onkel inzwischen bekehrt sei, da er eingesehen habe, dass man die Österreicher nur als Kanonenfutter brauche (ebd.).

[7]    Ebenda, S. 56.

[8]    Bundesarchiv Bern (BAR), E 4264 185/196: Bd. 98, Dossier N 2786.

[9]    Die Begnadigung hat General Friedrich Fromm eigenhändig über das Todesurteil geschrieben – jener General, der später wegen seiner zaudernden Haltung für den Misserfolg des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 mitverantwortlich war. Huber gehörte damit zu jenen etwa 7.000 begnadigten von insgesamt 30.000 zum Tode verurteilten Deserteuren. Vgl. Thomas Geldmacher, "Auf Nimmerwiedersehen!" Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten. In: Opfer der NS-Militärjustiz, hg. von Walter Manoschek, Wien 2003, S. 133-196, hier S. 135-136.

[10]   Vgl. Meinrad Pichler: Widerstand und Widersetzlichkeit in der Wehrmacht. In: Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945, hg. von der Johann-August-Malin-Gesellschaft, Bregenz 1985, S. 143-152, hier S. 147

[11]   Bundesarchiv Bern (BAR), E 4264 185/196: Bd. 98, Dossier N 2786.

[12]   Ebenda.

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