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Werner Dreier (1988): Die Geschichte von der kleinen Hanna, der Hitler mehr stahl als das rosarote Kaninchen

Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit, die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und das Schicksal eines Mädchens in Dornbirn.

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Werner Dreier

Die Geschichte von der kleinen Hanna, der Hitler mehr stahl als das rosarote Kaninchen

 

Erschienen in: Kultur - Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Jg. 3, 1988, Nr. 9, S. 12-13

 

"Die Empörung des Volkes macht sich Luft. ... Wenn die Volkskraft freie Bahn sucht, so fordert sie auch dann, wenn die Erregung und ihre dynamischen Äußerungen wie in diesem Falle in den Augen aller gerecht Denkenden ebenso begreiflich als sittlich berechtigt erscheinen müssen, ihre Opfer."

Was da im "Vorarlberger Tagblatt" am 12. November 1938 als "sittlich berechtigte Empörung des Volkes" dargestellt wurde, war nichts anderes als die wohlorganisierten Übergriffe, Plünderungen und Morde des November-Pogroms. Im ganzen Deutschen Reich brannten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Synagogen, wurden Geschäfte und Wohnungen geplündert und demoliert, wurden jüdische Menschen verhöhnt, geprügelt, 26.000 wurden verhaftet und in Konzentrationslager eingewiesen, 91 ermordet.

In Innsbruck ermordeten SS-Leute in der Nacht auf den 10. November Ing. Berger, den Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbruck, sowie Ing. Richard Graubart und Dr. Wilhelm Bauer; 18 Menschen wurden verhaftet und mißhandelt.

In Vorarlberg kam es nicht zu dieser wohlorganisierten Verfolgungsaktion, die auf Einschüchterung abzielte und die deutschen Juden auswanderungsbereit machen sollte. Die NS-Propaganda begründete dies - etwa im "Vorarlberger Tagblatt" vom 12. November - mit der "Armut wenig 'ausbeutfähigen' Gebirgslandes" sowie 'mit der natürlichen ... Abwehrkraft unseres deutschen Bergvolkes."

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Am 1. März 1936 wurde den Eheleuten Eva und Julius Iger eine Tochter geboren, sie nannten sie Hanna. Julius Iger war am 15. September 1898 in einem kleinen Ort des Bezirkes Tarnopol in Polen geboren worden, Eva Iger war am 14. März 1910 in Ostapie, gleichfalls in Polen, zur Welt gekommen.

Hannas Großeltern hießen Abraham Iger und Maria Iger, geb. Zahnstecher, sowie Josef Linczyc und Saly Linczyc, geb. Säftel. Ihre Eltern hatten am 14. April 1935 in Wien geheiratet. Julius Iger war schon seit 1930 in Bludenz, zuerst als "Reisender", also vielleicht als Vertreter, später dann hatte er ein kleines Konfektionsgeschäft in der Hermann-Sander-Straße. Er wohnte in Bludenz verschiedenenorts in Untermiete; auch als 1935 seine Frau Eva nach Bludenz kam, besserte sich die Wohnsituation nicht entscheidend. Immer noch wechselten sie häufig die Adresse, bis sie - zwei Monate nach der Geburt von Hanna - im Mai 1936 in der Wichnerstraße 40 bei Olimpio Bacciarini eine Bleibe fanden. Das Meldeamt. Bludenz verzeichnet dann nur noch eine Abmeldung: 29.X.38 / Innsbruck L.Gendk.

Hannas Eltern waren Juden, nach eigenem Verständnis und nach der Definition der Nationalsozialisten, die ab dem März 1938 auch in Österreich an der Macht waren. Demnach war auch Hanna Jüdin, obwohl sie sich mit ihren gut zwei Jahren sicher noch keine eigene religiöse Überzeugung gebildet hatte. Nach "rassischen Kriterien" war die Tochter zweier "Volljuden" ebenfalls "Volljüdin".

Noch im März 1938 begannen die Verfolgungen, Gendarmerie und SS durchsuchten Wohnhäuser, beschlagnahmten Bücher, auch Geld, setzten so jene 104 Menschen unter großen Druck, die ihnen als "Juden und jüdische Mischlinge" galten. Es kam zu Verhaftungen, viele wurden einige Tage lang festgehalten, Alois Weil aus Hohenems für den Rest seines Lebens: Alois Weil, Jahrgang 1878, wurde am 23. Juni 1938 deportiert, am Tag darauf ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen, wo er am 19. August 1938 zu Tode gebracht wurde.

Wir wissen nicht, wie es der Familie Iger in den ersten Monaten unter nationalsozialistischer Herrschaft ergangen war. Julius Iger scheint in den Akten der Bezirkshauptmannschaft Bludenz auf, einmal wurde wegen ihm das "Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe im politischen Bezirk Bludenz" erstellt, unter Eintragungsgrund heißt es lapidar: "Julius Iger ist Volljude", daneben findet sich unter Bemerkungen: "Er beabsichtigt das Geschäft aufzulösen und nach Amerika auszuwandern." Am 27. Oktober 1938 unterzeichnete der Bezirkshauptmann das "Verzeichnis". Es findet sich folgender handschriftlicher Zusatz: "polnischer Staatsangehöriger, abgeschafft".

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Ende Oktober 1938 kam es zur Abschiebung aller im Deutschen Reich sich befindlicher Juden polnischer Staatsangehörigkeit bzw. jener aus Polen stammender Juden, die 1919 für Deutschland optiert hatten und deutsche Staatsbürger geworden waren, bis ihnen 1933 die Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannten. Diese Menschen erhielten zum Teil wieder polnische Pässe, doch fürchtete Polen im Sommer 1938, alle wieder aufnehmen zu müssen, weshalb es eine Überprüfung der jeweiligen Staatszugehörigkeit einleitete. Dem kamen die deutschen Behörden mit der blitzartig exekutierten Abschiebung von 15.000 bis 17.000 Personen zuvor. Da Polen die Aufnahme verweigerte, vegetierten diese vielen Menschen unter unwürdigen Bedingungen im deutsch-polnischen Niemandsland, bis schließlich die polnische Regierung doch für sie die Grenzen öffnete. Unter den Tausenden im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen herumirrenden Juden befanden sich auch die Eltern jenes Herschel Grynspan, der deshalb am 7. November 1938 in Paris den deutschen Gesandtschaftssekretär Ernst von Rath erschoß - wohl um die Weltöffentlichkeit auf das Schicksal der Tausenden aufmerksam zu machen. Dieser Mord diente Josef Goebbels als willkommener Anlaß zum November-Pogrom.

Am 27. Oktober 1938 ging bei der Staatspolizeileitstelle Innsbruck ein "Blitz" aus Berlin ein, in dem die unverzügliche Abschiebung aller "Juden polnischer Staatsangehörigkeit" verlangt wurde, "unter Einsatz aller Kräfte ..., Zurückstellung anderer Aufgaben ..., sofort ... in Abschiebehaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze in Sammeltransporten abzuschieben. Die Sammeltransporte sind so durchzuführen, daß die Überstellung über die polnische Grenze noch vor Ablauf des 29.10.38 erfolgen kann."

Das Fernschreiben wurde unverzüglich der Vorarlberger Landesregierung in Bregenz zugestellt, die gleichfalls unverzüglich über Telefon die Bezirkshauptmannschaften verständigte. Die Behörden arbeiteten unbürokratisch rasch, präzis und mit gebotenem Engagement. Zwei Familien waren demnach nach Polen "abzuschieben". Einmal die Familie Greif aus Bregenz: Mendel und Herta Greif verließen einen Tag vor der Abschiebung Vorarlberg - entweder, wie die Behörden vermuteten, nach Wien, wo sie mit ziemlicher Sicherheit nicht entkamen, oder, wie das Meldeamt Bregenz verzeichnete, in die Schweiz. Dann die Familie Iger: Eva, Hanna und Julius Iger wurden noch am 28. Oktober in Abschiebehaft genommen und "sofort", "unverzüglich" über Innsbruck nach Polen deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Gelang es ihnen, noch vor dem deutschen Einmarsch Polen zu verlassen? Wurden sie aus Polen in die Vernichtungslager überstellt? Wir wissen es nicht.

Zahlreiche Schicksale von Menschen, die als Juden verfolgt wurden, ließen sich im Zuge der Forschungen für den in diesen Tagen (1988) erscheinenden Sammelband "Antisemitismus in Vorarlberg. Regionalstudie zur Geschichte einer Weltanschauung" (Vorarlberger Autoren Gesellschaft) klären, doch die Geschichte der kleinen Hanna und ihrer Eltern verliert sich gemeinsam mit der Geschichte zahlloser Manschen im ungeheuerlichen Morden, mit dem Deutsche - und Österreicher - Europa überzogen.

 



Die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten traf auch die wenigen noch in Hohenems lebenden Juden.
Frau Sofie Steingraber (in einer Aufnahme aus dem Jahr 1933)


Foto aus: Norbert Peter: Hohenems,
Alte Bilder einer jungen Stadt,
Schriftenreihe des Kulturkreises Hohenems 6, 1988.

 

 

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