Sie sind hier: Startseite / Texte / Politische Kultur / Eveline Böckle (1989): Landfremd, sozialdemokratisch, jüdisch. Die dreifache Ausgrenzung des Samuel Spindler

Eveline Böckle (1989): Landfremd, sozialdemokratisch, jüdisch. Die dreifache Ausgrenzung des Samuel Spindler

Der Antisemit erfindet die Adressaten seiner Vorurteile je nach Bedarf ständig neu. Was lag da näher, als zu versuchen, die aufstrebende Sozialdemokratie - gerade in konservativen Regionen wie Vorarlberg - als "jüdisch" zu stigmatisieren? So wurden Menschen auf der Suche nach Heimat zu "Fremden" gemacht - mit tödlicher Konsequenz.

Eveline Böckle

Landfremd, sozialdemokratisch, jüdisch

Die dreifache Ausgrenzung des Samuel Spindler

 

Zuerst erschienen in: Die Roten am Land. Arbeitsleben und Arbeiterbewegung im westlichen Österreich. Hrsg. von Kurt Greussing. Steyr: Museum Industrielle Arbeitswelt 1989, S. 114-119


"Ein Jude in der Bregenzer Stadtvertretung. Auch das hat es einmal gegeben, natürlich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Vor genau 25 Jahren erhielten die Sozialdemokraten die Möglichkeit, Vertreter in den Gemeindeausschuß zu entsenden. Diese wählten in Bregenz zwei Vertreter, darunter den polnischen Juden Samuel Spindler. Alle Nichtsozialdemokraten in der Stadtvertretung lehnten es ab, neben einem Juden zu sitzen, aber die Sozialdemokraten legten Wert darauf, ausgerechnet diesen jüdischen Galizianer als ihren geistigen Führer in die Selbstverwaltungskörperschaft der damaligen Landeshauptstadt zu entsenden. Heimische Arbeiter - auch wenn sie sich zu den Marxisten bekannten - wären sicher niemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet einen Juden aus dem Osten als ihren Vertreter zu wählen. Wenn man mit ihnen den Fall besprach, merkte man deutlich, wie peinlich ihnen dieser Genosse Samuel Spindler war. Aber die verjudete Führung der Marxisten in Wien hatte einfach angeordnet, daß ihr Rassegenosse die Roten in Bregenz zu vertreten habe. Die Gegner der Marxisten konnten sich über diese Wahl nur freuen, denn sie hat manchem Sozialdemokraten die Augen geöffnet. Samuel Spindler war der erste und der letzte Jude, der im Rathaus der Stadt Bregenz mitreden durfte."1

Als das geschrieben wurde, im Dezember 1943, hatten die Nationalsozialisten das Reden. Insofern vermag der gehässige Kommentar zu einem Mann wie Samuel Spindler im "Vorarlberger Tagblatt" nicht zu erstaunen. Höchstens macht es betroffen, daß an solche Bemerkungen eine idyllische Schilderung des winterlichen Bodenseeufers anschließt.

Damit wurde beides - Rührung angesichts hungriger Möwen, Verachtung für einen Menschen - nicht nur nebeneinander, sondern in gewisser Weise gleichgestellt: eines so selbstverständlich, so nebensächlich wie das andere.

Für die Monstrosität dieser Vereinigung von Standpunkten dürfte die Masse derjenigen, die zu Weihnachten 1943 ein "Vorarlberger Tagblatt" zu lesen bekamen, nicht sensibel gewesen sein. Das ist anzunehmen. Wer diesen Mangel an Sensibilität allein als Resultat der nationalsozialistischen Propaganda deuten möchte, liegt freilich falsch. Er war nicht gänzlich neu, hatte vielmehr Tradition.

Einen Schlüssel zu dieser Vorgeschichte liefert die oben angeführte Notiz zu Samuel Spindler, wenn es da heißt:

"Heimische Arbeiter - auch wenn sie sich zu den Marxisten bekannten - wären sicher niemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet einen Juden aus dem Osten als ihren Vertreter zu wählen."

Sätze dieser Art waren in Vorarlberg schon in den vier Jahrzehnten vor dem "Anschluß" Österreichs an Hitlers Deutschland oft gefallen. Und es waren viele nicht "auf den Gedanken gekommen", sie in Frage zu stellen.

 

"Landfremd"

 

Die Industrialisierung Vorarlbergs brachte es mit sich, daß in den aufstrebenden Betrieben nicht nur "heimische" Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt wurden, sondern auch viele Menschen aus anderen Gebieten. Ihnen allen gegenüber - besonders ausgeprägt freilich gegenüber den Zuwanderern aus italienischsprachigen Gebieten - entstand aus politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Motiven ein Klima der Ablehnung und der Ausgrenzung von seiten der "Einheimischen".2 Auch der Zuwanderer Samuel Spindler wurde mit diesem in Vorarlberg herrschenden gesellschaftlichen Klima konfrontiert.

Samuel Spindler wurde 1882 in Maidan/Sredni, einer kleinen Ortschaft im Galizien der österreichisch-ungarischen Monarchie, als uneheliches Kind der Chana Spindel geboren. Er gehörte wie seine Mutter der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Die Verhältnisse, in denen er aufwuchs, dürften ärmlich gewesen sein. Doch war es ihm möglich, sich eine Bildung anzueignen, die zumindest das Lesen und Schreiben der deutschen Sprache umfaßt haben mußte. Mit 15 Jahren verließ Samuel Spindler seinen Geburtsort, um sich als wandernder Handwerksbursche oder Reisender durchzubringen.

Seine Wanderschaft führte ihn durch Gebiete Deutschlands, Hollands und der Schweiz. Im Großherzogtum Baden des Deutschen Reichs geriet Samuel Spindler 1902 in Konflikt mit den Gesetzen und kam in Haft - das Schicksal vieler wandernder Handwerksburschen aus der Unterschicht.

Auch in Österreich-Ungarn lief gegen Samuel Spindler ein Verfahren, hier wegen des "Verbrechens der Stellungsflucht". Er hatte sich zwar vom Ausland aus mehrmals schriftlich wegen der Stellungsangelegenheit an die österreichischen Behörden gewendet, diese aber reagierten auf seine Schritte erst, als er sich freiwillig stellte - im Juni 1904 in Bregenz. Hier wurde festgehalten, daß er falsche Personalien angegeben hatte, nämlich das falsche Datum und den falschen Ort seiner Geburt. Da dies von den Behörden rechtlich nicht weiter verfolgt oder bestraft wurde, muß es Samuel Spindler gelungen sein, darzulegen, daß er seinen richtigen Geburtstag und -ort nicht gefälscht, sondern nicht gewußt hatte. Für jemanden aus der Unterschicht war solche Unkenntnis nichts Außergewöhnliches. Nach der Verbüßung einer Haftstrafe ging Samuel Spindler in die Schweiz, 1907 kehrte er nach Bregenz zurück.3

Mit seiner Niederlassung in Vorarlberg scheint Samuel Spindler in mancher Hinsicht den Schlußstrich unter sein bisheriges Leben gezogen zu haben. Deutlich wird dies in einer vorläufig zwar nicht offiziellen, aber doch konsequent durchgehaltenen Namensänderung. Er hieß wie seine Mutter mit Nachnamen Spindel, wandelte diesen aber in Spindler um. Die Vorzeichen, unter denen diese Namensänderung geschah, lassen sich erahnen: "Spindler" hatte für Vorarlberger Ohren einen eher vertrauten - und damit auch vertrauenswürdigeren - Klang als der Name "Spindel", in dem die fremde Herkunft und für besonders "Hellhörige" auch die jüdische Abstammung seines Trägers mittönten.

Samuel Spindlers Verhalten trägt also die Züge einer dem Selbstschutz dienenden Verschleierung. Davon war nicht nur sein Familienname betroffen. Er verfuhr auch mit seinem Vornamen in einer Weise, die ihn als "Brandzeichen" außer Kraft setzen sollte: Wenn er unterschrieb, dann mit dem zu "S." abgekürzten Vornamen.4 Diese Vorgangsweise wird erst dann so recht verständlich, wenn man sich den in Vorarlberg verbreiteten und von den tonangebenden politischen Gruppen - Christlichsozialen und Deutschnationalen - getragenen Antisemitismus vor Augen hält.

Daß sich Samuel Spindler von der jüdischen Religion abgewandt hat, darf allerdings nicht vorrangig als Versuch gesehen werden, sich den in Vorarlberg herrschenden Verhältnissen anzupassen, um sich vor ihnen zu schützen. Im Jahre 1912 ließ sich Samuel Spindler in Bregenz evangelisch taufen.5 Damit war er durchaus noch gesellschaftlichem Druck ausgesetzt, lebte er doch in einer Gegend, die vorwiegend katholisch war und in der das katholische Glaubensbekenntnis weitgehend als Prüfstein für die Annehmbarkeit einer Person gewertet wurde.

Anstoß hätte es wohl erregt, wenn Samuel Spindlers Vorstrafen publik geworden wären. Diesem seinem Vorleben anhaftenden Makel versuchte Samuel Spindler dadurch beizukommen, daß er ihn verschwieg - zumindest vor öffentlichen Stellen. Eine Zeit hindurch gelang ihm das auch. Allerdings mußte er dafür in Kauf nehmen, daß er lange keine Papiere ausgestellt bekam, die ihm das Heimatrecht in Bregenz verbürgt hätten.

 

Sozialdemokratisch

 

Für Samuel Spindler gab es in Vorarlberg viel, an das er aneckte, und wenig, das ihn dazu ermunterte, sich daheim und wohl zu fühlen. Etwas von dem wenigen war die Bekanntschaft mit der Bregenzerin Maria Vobr. Als das Paar heiraten wollte, ging das nicht, ohne daß es auf die Engherzigkeit der damaligen Gesellschaftsordnung stieß.

Maria Vobr und Samuel Spindler gehörten nicht der gleichen Glaubensgemeinschaft an. Eheschließungen konnten aber nur konfessionell vollzogen werden. Zivilehen waren in ganz besonderen Ausnahmefällen möglich, unter die Samuel Spindler und Maria Vobr aber nicht fielen. Eine weitere, rechtlich allerdings nicht anerkannte Möglichkeit war es, sich von einem von der katholischen Kirche abgefallenen Geistlichen trauen zu lassen: Die aus dieser Zeremonie herrührende Verbindung wurde als "Salzburger Ehe" bezeichnet. Eine solche gingen Samuel Spindler und Maria Vobr 1911 ein.

Diese beiden Menschen waren nicht nur durch die gegenseitige Zuneigung verbunden, sondern auch durch ein gemeinsames politisches Engagement. Sie waren Sozialdemokraten. Maria Vobr-Spindler war in der sozialdemokratischen Frauenorganisation von Bregenz aktiv. Sie wurde Mutter zweier Kinder. Ihr blieb wenig Zeit für politisches Wirken: Sie starb jung, 1915.

Nach dem Tod Maria Vobrs mußte Samuel Spindler seine beiden Töchter in Pflege geben. Das ältere Mädchen nahm eine Freundin Maria Vobrs auf, die wahrscheinlich Sozialdemokratin war oder zumindest der Sozialdemokratie nahestand. Für die jüngere Tochter fand Samuel Spindler einen Pflegeplatz im Bregenzer "Marienheim", einer katholisch geführten Institution.6

Zwischen der Leiterin und Eigentümerin des "Marienheims", Agathe Fessler, und Bregenzer Sozialdemokraten, darunter Samuel Spindler, war es 1910 zu einer Auseinandersetzung gekommen. Was diesen schließlich einigermaßen versöhnlich beigelegten Streit anbelangt, so ist er eher geeignet, eine Ausnahme von der Regel als die Regel selbst zu zeigen. Die den "Christlichen Arbeiterinnen-Verein" fördernde Agathe Fessler besuchte sozialdemokratische Veranstaltungen, meldete sich dort zu Wort und legte sich sogar engagiert mit der sozialdemokratischen Presse an. Das war ungewöhnlich, nicht nur für eine Frau. Dementsprechend viel Aufmerksamkeit und Raum wurde dieser Auseinandersetzung in der sozialdemokratischen Parteizeitung "Vorarlberger Wacht" geschenkt. Agathe Fessler beklagte sich nun, daß die in der "Vorarlberger Wacht" gedruckten Erwiderungen anonym erschienen.

"Wenn jeder Korrespondent der Vorarlberger Wacht seinen Namen hergeben würde, wo es sich doch durchwegs nur um Arbeiter handelt, dann wäre es ein wirkliches Wunder, wenn er noch auf seinem Posten bleiben könnte, speziell wenn er z. B. in einem christlichsozialen Geschäft wäre"

‑ damit verteidigten sich die Berichterstatter gegen Agathe Fesslers Vorwurf. Sie reagierte mit einem gewissen Verständnis, aber auch mit - im Grunde nicht angebrachtem ‑ Unglauben:

"Es muß jedoch schon ein vernagelter Kopf sein, der einem Manne es verübelt, wenn er offen seiner Meinung Ausdruck gibt, wenn sie auch entgegengesetzter Richtung ist."

Diesen aufgeklärten Standpunkt scheinen nur wenige mit der Leiterin des "Marienheims" geteilt zu haben. Diese Frau aber nahm ihn ernst: Als sie eine Tochter ihres durch den Tod seiner Frau in Not geratenen politischen Widersachers Samuel Spindler im "Marienheim" in Pflege nahm, stellte sie das unter Beweis.7

Wie sich Samuel Spindlers Hinwendung zur Sozialdemokratie vollzogen hat, läßt sich im einzelnen nicht darstellen. Es ist aber schwerlich zu bezweifeln, daß es Samuel Spindler aus eigener Erfahrung - mit dem Unterschichtendasein, mit der Obrigkeit - notwendig und wünschenswert schien, die bedrückende Gesellschaftsordnung zu verändern.

In der sozialdemokratischen Bewegung fand er einen Rückhalt, einen Platz, wo ihm seine Daseinsberechtigung wegen seiner "Fremdheit", seiner jüdischen Herkunft oder seiner verbüßten Gefängnisstrafen nicht streitig gemacht wurde. Als Sozialdemokrat konnte er seine gesellschaftliche Randexistenz zwar nicht aufheben. Aber er konnte hoffen und darauf hinarbeiten, sie zu beseitigen. Samuel Spindler brachte sein politischer Einsatz auch einen Gewinn an sozialem Ansehen.

Den Lebensunterhalt verdiente Samuel Spindler seit 1907 als Schuhmachergehilfe - im sozialdemokratischen Bregenzer Konsumverein. Die systematische Durchsicht des ersten Jahrganges der 1910 gegründeten Parteizeitung "Vorarlberger Wacht. Organ für das arbeitende Volk in Vorarlberg" läßt ein Bild von Samuel Spindlers enger Verbundenheit mit der sozialdemokratischen Partei entstehen:

Er tritt als Agitator in Erscheinung, als Adressat für Anmeldungen von Veranstaltungen und als Kassier bei Sammelaktionen. Auch von seiner Verwicklung in Querelen mit den Christlichsozialen ist zu erfahren. Besonders häufig ist von Samuel Spindlers Einsatz in der sozialdemokratischen Frauenbewegung die Rede. Er tritt als Redner bei Frauenversammlungen auf, bei kleineren ebenso wie bei dem als Großereignis gefeierten Besuch Adelheid Popps in Vorarlberg.

1914 wurde Samuel Spindler zum Militär eingezogen, aber bald wegen seines schlechten Gesundheitszustandes vom Kriegsdienst befreit.

Auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Bregenz am 11. November 1918, einen Tag vor der Ausrufung der Republik, beantragte Samuel Spindler die Wahl eines Arbeiterrates. Acht Männer und vier Frauen wurden gewählt - sie sollten sich besonders um die "Erreichung einer besseren Vertretung der Arbeiterschaft in der Stadtvertretung" bemühen. Am 4. Dezember 1918 verfügte der Staatsrat der jungen Republik eine Ergänzung der Gemeindevertretungen durch Arbeitervertreter. Am 30. Dezember 1918 gaben in Bregenz die Parteien die von ihnen gewählten Vertreter bekannt; unter den sozialdemokratischen befand sich Samuel Spindler.

Seine Wahl erregte bei den Bürgerlichen Anstoß. Ein christlichsozialer Stadtrat bezeichnete ihn in einer öffentlichen Sitzung als einen "galizianischen Juden" und damit als unwürdig, in der Gemeindevertretung mitzuarbeiten.8

Samuel Spindler trat in seiner neuen Funktion vor allem für die Beseitigung der drängenden Nahrungsmittelnot und für die angemessenere Entlohnung der Bregenzer Stadtarbeiter ein. Nach der ersten Gemeindewahl 1919 schied er aus der Stadtvertretung aus.

Er wirkte weiterhin als Einberufer von Versammlungen und Agitator. Beim Streik der Textilarbeiter in der ersten Maihälfte des Jahres 1921 fungierte er als Textilarbeitersekretär der freien Gewerkschaften.9 Um das Jahr 1925 wurde Samuel Spindler Vorarlberger Landessekretär der Union der Textilarbeiter.10

Am 18. Juni 1921 konstituierte sich die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Vorarlberg. Samuel Spindler wurde als Mitglied des Ausschusses für Sozialpolitik bestimmt. Nach den im Oktober 1926 abgehaltenen zweiten Arbeiterkammerwahlen behielt Samuel Spindler seine Funktion im Ausschuß für Sozialpolitik, dazu kam ein Sitz im Volkswirtschaftsausschuß.11

Samuel Spindler übernahm neben seinen Aufgaben in den freien Gewerkschaften die des Obmannes des Bildungsausschusses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Vorarlbergs.12 Seit wann er diese Funktion innehatte, ist unklar. Er verlor sie, als die Christlichsoziale Volkspartei der Ersten Republik durch eine "ständestaatliche" Diktatur das Ende bereitete. Im Dezember 1933 wurde die Neuordnung der Kammer für Arbeiter und Angestellte verordnet.13 Samuel Spindler verlor seine Funktionen. Das Verbot der Sozialdemokratie im Februar 1934 bedeutete das endgültige Aus für sein bisheriges politisches Engagement.

 

"Jüdisch"

 

Schläge - wenn auch nicht so vernichtende wie die der Jahre 1933 und 1934 - hatte Samuel Spindler in der Ersten Republik viele eingesteckt. Wer sich politisch profilierte, hatte damit zu rechnen, daß er oder sie angegriffen würde. In der Bekämpfung des Sozialdemokraten Samuel Spindler wendeten seine Gegner eine Methode an, die ihm letztlich keine Gegenwehr ermöglichte. Diese Methode war der Antisemitismus.

Die Belege für die mehr oder weniger offene Feindseligkeit gegen Juden sowie für Ausschreitungen gegen sie sind, soweit sie Vorarlberg betreffen, in einer von Werner Dreier herausgegebenen Regionalstudie gesammelt.14 Sie erfaßt den Zeitraum vom 13. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit.

Samuel Spindler war nicht Jude, sondern evangelischer Christ, als er 1918 als "galizianischer Jude" bezeichnet wurde. Das Wort "Jude" hatte für den Mann, der es auf Samuel Spindler anwendete, nicht den Rang einer bloßen Bezeichnung; der christlichsoziale Stadtvertreter verwendete es als Beschimpfung.

Welche Vorstellungen Albert Ölz mit "Jude" verknüpfte, das scheint Samuel Spindler ziemlich klar gewesen zu sein. Er verwahrte sich gegen sie in einem "Offenen Brief an Herrn Stadtrat Albert Ölz, Kaufmann in Bregenz"15. "Dieser bezeichnenden, boshaften und unwahren Verdächtigung meiner Person", wie es Samuel Spindler ausdrückte, hielt er entgegen, daß er der evangelischen Religionsgemeinschaft angehöre, seit dem "7. Lebensjahre deutsche Erziehung hatte, mit dem 15. Lebensjahre schon auf die Wanderschaft ging" und nicht mehr an seinen Geburtsort zurückgekehrt sei, daß er in Bregenz seit 1907 das rechtschaffene Leben "eines pflichtbewußten Arbeiters" führe und als "deutschösterreichischer Staatsbürger ... Wähler und wählbar" sei.

Haß auf Juden war salonfähig. "Der radikale Antisemitismus - in Vorarlberg de facto ein 'Antisemitismus ohne Juden'! - wurde zu einem Bestandteil der alltäglichen politischen Kultur gemacht."16 Die Sozialdemokraten hatten ihren Anteil an dieser politischen Kultur. In Samuel Spindlers Verteidigung gegen die Ölzschen Anwürfe fällt kein Wort darüber, daß der Antisemitismus nicht nur gegenüber seiner Person, sondern gegenüber jedem Menschen einer "bezeichnenden, boshaften und unwahren Verdächtigung" gleichkommt.

Kurze Zeit, nachdem Samuel Spindler so spektakulär angegriffen worden war, findet sich eine Erklärung in der "Vorarlberger Wacht" zur Haltung von Sozialdemokraten gegenüber den Juden:

"Der jüdische Sozialdemokrat steht ständig auf dem Kriegsfuße mit seinem Glaubensgenossen und bekämpft eben durch die Sozialdemokratie die Gesellschaftsordnung, die dem jüdischen Kapitalisten die ungerechten Gewinne bringt."17

Der - defensive - Antisemitismus der "Linken" existierte. Zum Programmpunkt erhoben wurde er aber nicht von ihnen. Die Christlichsoziale Volkspartei Vorarlbergs hingegen legt sich ausdrücklich auf die entschiedene Bekämpfung der "Vorherrschaft des Judentums" fest.18 Die antisemitische Vorstellungswelt kommt nicht aus ohne die Idee der jüdischen Vorherrschaft.

"Die Christlichsozialen und die Deutschnationalen schimpften oft auf die Juden und meinten die Sozialdemokraten."19 Kein Wunder also, daß sich der Stadtrat Ölz nicht dazu veranlaßt sah, sich bei Samuel Spindler zu entschuldigen. Dessen Ruf blieb geschädigt. Das wog im kleinstädtischen Milieu von Bregenz umso schwerer. Der Vorfall in der Bregenzer Stadtvertretung machte schnell die Runde. Daß Samuel Spindler 1919 nicht mehr zur Wahl in den Bregenzer Stadtrat kandidierte, darf damit in Zusammenhang gebracht werden.

Die Gegner der Sozialdemokratie hatten sich auf Samuel Spindler eingeschossen. Den Arbeiterkammerwahlen 1921 ging ein Wahlkampf voraus, der von den Christlichsozialen mit antisemitischen Slogans geführt wurde. Da hieß es im "Vorarlberger Volksblatt":

"VORARLBERGER, wählt die judenreine und judenfreie Liste: Christliche Gewerkschaften!"20

Welche Liste nicht als "judenrein" und "judenfrei" zu betrachten sei, wurde den Lesern und Leserinnen des "Vorarlberger Volksblatts" leicht faßlich serviert. Denn für die freien Gewerkschaften kandidierte und warb unter anderen Samuel Spindler. Seiner Wahlagitation schenkte das "Volksblatt" ein besonderes Augenmerk:

"Wie aufgeregt die Sozialdemokraten über ihre ,Aussichten' bei den bevorstehenden Wahlen sind, ergibt sich aus folgendem. Herr S p i n d l e r (Samuel aus Galizien) kommt schon ganz aus der Fassung über den leisesten Widerspruch, den einer seiner Zuhörer ihm schuldig zu sein glaubte."21

Die antisemitische Hetze verhinderte nicht den Gewinn der Mehrheit für die freien Gewerkschaften.

Im Wahlkampf zu den zweiten Vorarlberger Arbeiterkammerwahlen 1926 wendeten die Christlichsozialen dieselben Methoden an wie beim ersten. Hier wurde das Bild von einem "Judentum" gezeichnet, das "in gleicher Weise die freien Gewerkschaften und das Unternehmertum führt"22 und von dem die Gefahr ausgehe, daß "das Volk ... immer mehr vom ostjüdischen Geist verseucht, seine christlich-deutsche Kultur verlieren und reif für den asiatischen Bolschewismus" werde.23

Solche Zitate könnten ebensogut aus einem nationalsozialistischen Flugblatt stammen - mit einer kleinen Einschränkung freilich, die das Wort "christlich" auferlegt. Als Beiwort für die "Religion der Liebe" macht es keinen Sinn.

Die den Christlichsozialen erwünschte Ausschaltung eines Mannes wie Samuel Spindler konnte 1934 vollzogen werden. Er mußte seinen Lebensinhalt, den Kampf für eine sozialdemokratische Gesellschaft, aufgeben. Es wurde still um ihn.

Als im März 1938 die Truppen des "Dritten Reiches" Österreich annektierten, war Samuel Spindler ein kranker Mann. Die Lebensweise, zu der er im Austrofaschismus gezwungen war, war entwürdigend. Das Dasein, das ihm der Nationalsozialismus zugedachte, die Verdammnis.

Anfang November 1942 wurde Samuel Spindler auf dem Posten der Gestapo Bregenz aufgefordert, Aussagen über seine ehemaligen Genossen zu machen. Sollte er dazu nicht bereit sein, hole die Gestapo ihn am Samstag, den 11. November ab. In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1942 tötete sich Samuel Spindler.24

Ein Jahr nach seinem Begräbnis auf dem evangelischen Friedhof in Bregenz druckte das "Vorarlberger Tagblatt" jene denkwürdigen Zeilen:

"Ein Jude in der Bregenzer Stadtverwaltung. Auch das hat es einmal gegeben..."25

 

 

Anmerkungen

 

1 "Vorarlberger Tagblatt", 24.12.1943.

2 Barnay, Markus: Die Erfindung des Vorarlbergers. Ethnizitätsbildung und Landesbewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert. Bregenz 1988, S. 270, S. 274-277, S. 346-349; Oberkofler, Gerhard: Anfänge - Die Vorarlberger Arbeiterbewegung bis 1890. Vom Arbeiterbildungsverein zur Arbeiterpartei. In: Greussing, Kurt (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung, Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870-1946. Bregenz 1984, S. 22-72, hier S. 27; Sutterlütti, Robert: Italiener in Vorarlberg 1870-1914. Materielle Not und sozialer Widerstand, in: Greussing, Kurt (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung, Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870-1946. Bregenz 1984, S. 133-157.

3 Vorarlberger Landesarchiv (Bregenz), VLReg. Prs. 698/1928; "Vorarlberger Wacht", 3.1.1919.

4 "Vorarlberger Wacht", 3.1.1919; Stadtarchiv Bregenz, Anwesenheitslisten der Verhandlungsschriften zu den Gemeindeausschußsitzungen vom 22.2.1919 bis 28.5.1919.

5 Taufbuch der Evangelischen Pfarrgemeinde A. u. H. B. Bregenz.

6 Gespräch mit Emilie und Ernst Pruner, Bregenz, 25.4.1987; zu Maria Vobr siehe Mittersteiner, Reinhard: Peripherie und Sozialismus. Die Konstituierung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Vorarlberg (1889-1918). Diss. Univ. Wien 1988.

7 "Vorarlberger Wacht", 4.5., 2.6., 9.6.1910.

8 "Vorarlberger Volksblatt", 1.1.1919.

9 "Vorarlberger Volksblatt", 11.5.1921.

10 Wanner, Gerhard: Die Geschichte der Vorarlberger Kammer für Arbeiter und Angestellte 1921-1938. Ein Beitrag zur Vorarlberger Arbeiterbewegung. Feldkirch o.J. (1978), S. 112.

11 Ebd., S. 20, S. 51.

12 Vorarlberger Landesarchiv (Bregenz), VLReg. Prs. 265/1933.

13 Wanner (wie Anm. 10), S. 92.

14 Dreier, Werner (Hg.): Antisemitismus in Vorarlberg. Regionalstudie zur Geschichte einer Weltanschauung. Bregenz 1988.

15 "Vorarlberger Wacht", 3.1.1919.

16 Dreier, Werner: Zwischen Kaiser und "Führer". Vorarlberg im Umbruch 1918-1938. Bregenz 1986, S. 197.

17 "Vorarlberger Wacht", 1.1.1919, zitiert nach Dreier (wie Anm. 16), S. 196.

18 Dreier (wie Anm. 16), S. 193.

19 Ebd., S. 194.

20 "Vorarlberger Volksblatt", 24.4.1921.

21 Ebd.

22 "Vorarlberger Volksblatt", 21.10.1926, zit. nach Wanner (wie Anm. 10), S. 45.

23 "Vorarlberger Volksblatt", 16.10.1926, zit. nach Wanner (wie Anm. 10), S. 44.

24 Gespräch mit Emilie und Ernst Pruner, Bregenz, 25.4.1987; Egger, Gernot: Rassistische Verfolgung - Juden und Zigeuner/Roma, in: Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.): Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945. Bregenz 1985, S. 195-203, hier S. 198.

25 Wie Anm. 1.