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Kurt Greussing (2008): Der Heimatklang des Antisemitismus. Über die Intonation und den Gebrauch bestimmter Wörter

Wie ein Mensch im Vorarlberger Dialekt zum "Jud" wird und warum es auch heute keinen unschuldigen, wertfreien Gebrauch dieses Wortes gibt - das hat mit Sprache zu tun, deren Unter- und Obertöne die Soziolinguistik zu verstehen hilft. Und es hängt mit öffentlichem Reden über die Opfer des Nationalsozialismus nach dessen Ende zusammen: Die Schamlosigkeit im nachträglichen Umgang mit der Brutalität des NS-Regimes rief Scham bei jenen hervor, die diese Brutalität erlitten hatten.



Kurt Greussing

Der Heimatklang des Antisemitismus

Über die Intonation und den Gebrauch bestimmter Wörter

 

Erschienen in: Hanno Loewy (Hg.): Heimat Diaspora. Das Jüdische Museum Hohenems, Hohenems 2008, S. 256-262.


Wir alle reden um den heißen Brei herum. Wir sagen, jedenfalls im öffentlichen Raum, nicht: "Er ist Jude" oder: "Sie ist Jüdin". Sondern ausweichend: Er/sie ist jüdisch, jüdischer Herkunft und so weiter. Weil wir mit diesem Wort umgehen, als ob wir zusammen mit dem als "Jude" oder der als "Jüdin" Gemeinten ein Minenfeld beträten. Es gibt keinen wertfreien, unschuldigen Gebrauch dieses Begriffs.

Es hat lange gedauert, bis wir Vorarlberger Historiker und Sozialwissenschaftler wenigstens in einem wissenschaftlichen Fachgespräch sagen konnten: "Herr Soundso ist Jude." Das haben wir schon 1990 bei den Besprechungen zum Aufbau des Jüdischen Museums gemerkt. Das Museum sollte ein Ort werden, an dem anders, un-verschämt, über jüdische Erfahrungen, jüdische Geschichte, aber eben auch: über Juden gesprochen würde. Wir konnten damals leicht sagen: "die Hohenemser Juden", später auch, wie sich's gehört, genderkorrekt: "... und Jüdinnen", aber schon viel schwerer: "Herr Bollag ist Jude." Und wir wollten das auch oft gar nicht sagen, um nicht jene neuerlich zu markieren, die vom Rassismus der Nationalsozialisten zu Juden gemacht worden waren.

Den Umgang mit dem Wort "Jude" mussten wir erst lernen. Schon gar nicht konnten - und können - wir es im Dialekt sagen. Denn "Der Herr Bollag isch an Jud" ist eindeutig abwertend, und zwar nicht einfach so im Ungefähren (wie eine Weile lang beispielsweise "Steirer"), sondern ohne jeden Zweifel antisemitisch. Und sagt man im Dialekt, als freundlich gemeinte Alternative: "Der Herr Bollag isch Jude", so steht ein hochdeutsches Wort als sperriger Fremdkörper im Mund und in der Kommunikation herum - nicht anders als die Wörter "arbeiten" oder "Arbeiter", die es im (hoch)alemannischen Dialekt Vorarlbergs ebenfalls nicht gibt. Denn für "arbeiten" steht im hergebrachten Dialekt "schaffa" und für "Arbeiter" "Fabriklar". Zwar gibt es das Substantiv "Arbat" (für "Arbeit") durchaus ("wart a klä, i ho gad an Arbat"), doch ein diesem Hauptwort "Arbat" entsprechendes Zeitwort "arbata" oder ein Tätigkeitshauptwort "Arbatar" existiert im Dialekt nicht. Genauso wenig gibt es das Wort "Jude" als Dialektwort. Wohl aber "Jud".

Dass also die Ersetzung von "Jud" durch "Jude" im Dialekt nicht funktioniert und sich somit nur "Jud'" anbietet, legt das ganze Problem frei: die im sprachlichen Vorbewussten tief verankerte abwertend-gehässige Bedeutung des Wortes, mit dem in der Alltagskommunikation ein Jude bezeichnet wird.

Kurz und dumpf

 
"Jud" ist sofort als Schimpfwort erkennbar. "Jud" tritt in der dialektalen Kommunikation in vielfachen Zusammenhängen auf, die alle eine Grundlage haben: die Bezeichnung von Geiz, Raffgier, übertriebener Geschäftstüchtigkeit, Geldsucht - "gizigar Jud", "bisch an Jud", "Du Jud", "an richtiga Jud", letzteres auch zur Charakterisierung eines als unzumutbar empfundenen Preises. "Es goht zua wia i dr Judaschual" ist ein Stereotyp, das Lärm, Unordnung und disziplinloses Durcheinanderreden bezeichnet (wobei im Sprachbewusstsein die ursprüngliche Beziehung des Wortes "Judenschule" zum jiddischen "Schul", also zur Synagoge, in der auch gelernt und disputiert wird, verloren gegangen ist).

In der Vorarlberger Umgangssprache gibt es nicht eine einzige positive Assoziation zum "Juden". Andere diskriminierte Minderheiten haben es wenigstens metaphorisch gelegentlich zu etwas gebracht: der "Zigeuner" etwa - als ironisch-anerkennende Bezeichnung für die Lustenauer in Form der "Rhin-Zigünar", als "Zigünerle" für ein süßes umtriebiges Kind oder als romantisches Liedthema in der Volksmusik. Auch im Kinder- und Erwachsenenfasching erfreut sich der Zigeuner - und erst recht die Zigeunerin als Widerspiegelung einer heißblütigen Operngestalt - erheblicher Beliebtheit, der auch die nationalsozialistische Fasnacht nichts anhaben konnte. Anders der "Jud": Da gibt es nicht die Spur einer Ambivalenz. Er taugt weder zum freundlichen Diminutiv ("Jüdle") für den lieben Nachwuchs noch als lustige Figur, und ein "Jud" im Fasching wäre nur als hässliche Karikatur vorstellbar, die man deshalb heute im Zeichen des offiziell verpönten Antisemitismus lieber ganz bleiben lässt.

Im Alemannischen Vorarlbergs und der Schweiz kommt noch etwas Entscheidendes dazu: nicht nur die pejorative Verkürzung, die den "Jud" als etwas Ablehnenswertes, Minderwertiges markiert (während der "Jude" im Hochdeutschen sich von solcher Konnotation schon ein Stück weit freimachen konnte und so im Ansehen gestiegen ist, jedenfalls hinauf zu einem weniger wertenden Gebrauch), sondern vor allem die Intonation. Denn "Jud" wird im Hochalemannischen Vorarlbergs und der Schweiz mit einem geschlossenen, hinteren dumpfen "u" gesprochen, klar anders als das hochdeutsche "Jude" mit seinem offenen runden "u". Der dumpfe Ton beim "Jud" macht also hierzulande nicht allein das Wort, sondern speziell die Musik.

Es stimmt natürlich: Hierzu gibt es keine empirischen Untersuchungen, nicht einmal über die Häufigkeit des Gebrauchs des Wortes "Jud" als eines alltagskulturellen Pejorativums (es dürfte weithin durch "Türk" ersetzt worden sein, während der "Jugo" einen Teil seiner negativen Konnotationslast immerhin schon verloren hat.) Doch dass empirisch nichts erhoben wurde, heißt nicht, dass wir empirisch nichts wissen. Denn wir alle haben unser alltägliches Diskurswissen. Es wird - wie alles Alltägliche - nicht eigens reflektiert, sondern ruht tief in unseren Routinen, in nicht- und vorsprachlichem Verhalten (wie dem wochenendlichen Gang zur Kirche, heute eher zum Fussballmatch, der stillschweigenden Arbeitsteilung von Männern und Frauen, Kleidungsroutinen oder der Augenhaltung beim Zwiegespräch), also im Vorbewusst-Zeichenhaften. Da wird entschieden, wer "wir" sind und wer die "anderen". Testen Sie's ruhig aus, als Probe aufs Exempel: Sagen Sie zu einem Nachbarn einmal: "Sind Sie Protestant?", oder, wenn Sie mutiger sind: "Sind Sie Jude?", und einmal: "Sind S' an Jud?" - und warten Sie auf die Reaktion.

… wie wird der Mensch zum "Jud"?

 
Ein Blick in den Duden der Vorarlberger Umgangssprache, das "Vorarlbergische Wörterbuch" von Leo Jutz, 1965 aus dem Nachlass herausgegeben, fördert das landläufige Panorama des Wortes "Jude/Jud", somit also wenig Überraschendes, zutage. Es bezeichne einen "Angehörigen des israelitischen Volkes … bzw. der jüdischen Rasse", hebt der Eintrag in wissenschaftlicher Attitüde an, als ob das Rassenkonzept der Nationalsozialisten in aller Unschuld weiterexistierte. Doch plaudert der Autor damit immerhin aus, was dem Wort "Jud" im Vorarlberger Dialekt durchgängig zugrunde liegt: die Kategorisierung als etwas ganz Anderes, dem man, wie eben der Rasse, nicht entrinnen kann.

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    Aus: Vorarlbergisches Wörterbuch, Erster Band A-J, Wien 1965

Die zahlreich angeführten Fundbeispiele gehen, mit Ausnahme einiger Bezeichnungen von Pflanzen, alle in eine Richtung: Es handelt sich um Abgewertetes, um moralisch Abzulehnendes und um wucherisches, ehrloses Handeln. Manches davon ist inzwischen aus der Mode gekommen, weil die Wertungen des zugrunde liegenden Sachverhaltes sich verflüchtigt haben. So würde ein noch ungetauftes Kind in Frastanz heute wohl nicht mehr, wie noch vor fünfzig Jahren, als "Jüdle" bezeichnet werden. Doch anderes hat bestens überlebt, die "Judaschual" natürlich, "jüdala" (jüdeln) für wucherisch Handeln, "Judapries" (Judenpreis) bei überteuerter Ware und selbstverständlich der "Jud" als allgegenwärtige Bezeichnung für einen wucherischen Händler oder überhaupt jemanden, der einen zu hohen Preis für etwas fordert. Ein minderwertiger, schlechter Schnaps gilt im Montafon als "Judner", und der "Judafurz" hat als Knallkörper zwar seinen Weg noch nicht ins Jutzsche Wörterbuch, doch landesweit ins Sylvestertreiben von Jugendlichen gefunden.

Wie erhalten nun drei oder vier unschuldige Zeichen - "Jud" und "Juda" - eine solche Bedeutung? Wie wird das bloße Wort zum negativ geladenen Begriff? Oder anders, weil sich der Begriff ja auf konkrete Menschen bezieht: Was hat Sprache mit gesellschaftlichem Handeln zu tun? Wie politisch ist also der "Jud" im Dialekt?

Für ein Verständnis des Alltagssprechens von Vorarlbergerinnen und Vorarlbergern liefern die moderne Linguistik, John L. Austin und John Searle etwa, oder die Symboltheorie, zum Beispiel Susanne Langer, seit der Mitte der 1950er Jahre eine gute Basis. Zum einen ist erkannt worden, dass sich Begriffe - selbst die abstraktesten - immer mit bildhaften Vorstellungen verbinden. Zum anderen produziert der unmittelbare "Sprechakt" - ein Wort, ein Satz - allemal auch eine Bedeutung über sich selbst hinaus. Wer beispielsweise beim Betreten einer Gasthausstube zu seiner Begleitung sagt: "Die Bude ist verraucht", charakterisiert nicht nur den Gehalt an olfaktorischen Schwebstoffen in der Luft, sondern kann zum Beispiel meinen: "Hier habe ich keine Lust, mein teures Geld für ein Schnitzel hinzulegen." Bedeutungen können sich also je nach dem Bezug, in dem der Sprechakt steht, ändern, sie sind nicht ein-deutig, sie können neu erfunden und im Diskurs nach und nach vereinbart werden.

Oft sind sie aber schon vereinbart - und zwar recht fest. Beim "Jud" steht nun nicht mehr - wie eventuell noch beim hochdeutschen "Jude" - die analytische Funktion des Begriffs im Vordergrund, die eine bloße Sachbedeutung transportieren würde: Jude sei, wer der jüdischen Religionsgemeinschaft (für andere: der Abstammungsgemeinschaft) angehöre. Stattdessen wird hier die synthetische Funktion des Begriffes völlig dominant: nämlich als Lieferant von Bildern, die die Inszenierung und Dramatisierung des gesprochenen oder gelesenen Wortes leisten, die es lebendig machen und es mit starken Emotionen zusammenspannen. Einige dieser Bilder haben sich über Jahrhunderte im Diskurswissen christlicher Gesellschaften verfestigt - es sind dies die Stereotype des wucherischen, unbelehrbaren oder dem Kreuz tragenden Christus eine Rast verweigernden "ewigen" Juden, der das Unterfutter des ewigen Antisemiten bildet.

Dazu kamen jüngeren Datums, aber umso heftiger - auch hier in Vorarlberg - die Judenbilder des politischen Katholizismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Juden als Schuldige an Kapitalismus und Liberalismus wie an Sozialdemokratie und Bolschewismus, als aufdringliche Hausierer wie als ausbeuterische Unternehmer, als lüsterne Frauenärzte wie als Scharlatane des Bankwesens - kein Aspekt der industriellen Moderne, an dem die Juden nicht unheilvoll die Hauptverantwortung trügen, wobei nichtjüdische Liberale und Sozialdemokraten als "Judenliberale" oder "Judensozi" sowie Journalisten und Schriftsteller als "Pressejuden" oder "Tintenjuden" in ihrem Sold ständen. Die christlichsoziale Parteizeitung "Vorarlberger Volksblatt" ist hierzulande ab den 1880er Jahren das Programmheft zur öffentlichen Aufführung des Antisemitismus, von der Landespolitik hinunter bis in die kleinsten Dörfer und die dortigen Vereinshäuser, die Kasinos, geworden. Der Antisemitismus der Deutschnationalen und später der Nazis, der statt der christlichen Erlösungsgeschichte Rassenkunde und Biologie bemühte, konnte sich umstandslos aus dem Fundus der christlichsozialen Bilder und Wörter der Judenfeindschaft bedienen.

Das hysterische Totalbild eines die ganze Welt in den Griff nehmenden Judentums ist mit dem Ende der Nazi-Herrschaft hierzulande im Großen und Ganzen verschwunden (und die dadurch entstehende Leere wurde in manchem Kopf sogar durch eine militaristische Israel-Begeisterung gefüllt). Der Antisemitismus ist nach den Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft keine Ideologie mehr, mit der man in der Öffentlichkeit lauthals reüssieren könnte - sodass sich im Zweifel eher Codewörter wie das vom amerikanischen "Ostküsten-Establishment" empfehlen. Und seit 2001 scheinen sowieso Moslems - jedenfalls auf den Leserbriefseiten der hiesigen Tages- und Wochenzeitungen - den Platz einzunehmen, der von der Mitte des 19. bis fast in die Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Rundum-Szenario der weltgeschichtlichen Bedrohung den Juden reserviert gewesen war. Damit hat sich die Bedeutungslast, die dem Wort "Jude" aufgebürdet ist, zwar verringert, aber keineswegs verflüchtigt. Möglich ist das nur, weil diese negativen Bedeutungen, die mit dem Wort bis in die Intonation hinein verbunden sind, nach wie vor in der Plausibilitätsstruktur unserer Gesellschaft, also im Alltagswissen und im Alltagshandeln, fix eingebaut sind. Wer zum anderen "Du Jud!" sagt, weiß, was er meint und wer damit gemeint ist. Da gibt es keine freundliche Ausrede.

Der "Jud": spurlos verschwunden?

 
Zum Stichtag 17. Mai 1939 wohnten in Vorarlberg, nach einer penibel geführten Liste der nationalsozialistischen Behörden, insgesamt 104 "Juden und Mischlinge". Nur rund ein Dutzend Männer und Frauen, die nach den rassistischen Kriterien des Nationalsozialismus als "Juden", "Halb-" oder "Vierteljuden" galten und damit in die behördliche Maschinerie von Aussonderung und Verfolgung gerieten, lebte nach dem Ende des NS-Regimes noch (oder wieder) in Vorarlberg. Das hatte nichts mit einem Versehen der Behörden oder mit mildtätigen nationalsozialistischen Nachbarn zu tun, wie manche Betroffene nach dem Krieg vermuteten und ehemalige Nazis gerne glauben mochten, sondern mit einem amtlich kalkulierten Aufschub des Mordens: Wer in so genannter geschützter Ehe lebte, also mit einem formell nicht-jüdischen Partner oder einer Partnerin, beziehungsweise mit einem ebensolchen Elternteil, entging vorderhand - aber keineswegs immer - der Deportation in die Vernichtungslager.

Diskriminierungen waren dennoch die bürokratische Regel: Rundfunkverbot, Fahrradverbot, Reiseverbot, keine Bezugskarten für Fleisch, Milch oder Kleider, Verbot der Flucht in Luftschutzkeller bei Fliegeralarm, Arbeitspflicht zum Beispiel in der Rüstungsfabrik Michel-Werke in Bregenz. Diese Diskriminierung war allgegenwärtig, und auch die Angst. Die Angst konnte Todesangst sein, so bei Samuel Spindler in Bregenz, der sich im November 1942 das Leben nahm, weil seine Einlieferung in eine KZ bevorstand, bei Regina Sagmeister, geb. Guggenheim, die überlebt hat, aber im Bregenzer Gefängnis im Mai 1943 vor ihrer Deportation nach Innsbruck schon einen Abschiedsbrief verfasst hatte, oder bei Gisela Fragner, geb. Brandeis, in Lauterach, die bei jedem Schrittgeräusch auf der Außentreppe des Hauses fürchtete, doch noch abgeholt zu werden, und im Februar 1943 an Angina pectoris starb - einer Herzkrankheit, die durch große Angst ausgelöst wird und große Angst verursacht. Gemildert werden mochte die Angst, ab und zu, durch einen kostenlos behandelnden mutigen Arzt, etwa den aus Wien nach Lauterach zugewanderten Dr. Fritz Divischek, oder durch Besuche eines örtlichen Pfarrers wie Martin Tschavoll, der bei Begräbnissen auf dem Lauteracher Friedhof in Anwesenheit von Nazis gern und laut das göttliche Rachegericht und das Ende der Zeit beschwor, wann wieder einmal der Donnerhall von Bombardements auf Friedrichshafen über den Bodensee wehte. Das waren die - erwähnenswerten - Ausnahmen. Wegschauende, stillschweigende, achselzuckende, hilflos bis blöde grinsende oder sich ahnungslos gebende Nachbarn waren die Normalität.

Wie sind diese Menschen, soweit sie überlebten, und ihre Angehörigen nach dem Krieg mit dem umgegangen, was ihnen die nationalsozialistischen Bürokraten, oft auch die Nachbarn, angetan haben? Durch Schweigen. In den paar betroffenen Vorarlberger Familien war nach dem Krieg meist tabuisiert, was ein Eltern- oder Großelternteil erlitten hatte, weil er von den Nationalsozialisten als "Jude" oder "Jüdin" klassifiziert worden war. Die Reaktion war verständlich: Kinder sollten mit dem Leid ihrer Eltern oder Großeltern nicht behelligt werden. Doch vor allem der Grund dieses Leidens und der Verfolgung sollte ihnen verschwiegen oder wenn, dann nur leise gesagt werden - damit sie in einem ungebrochen judenfeindlichen, von der Sprache kontaminierten Beziehungsalltag nicht zu Außenseitern würden.

Und wenn sie es ihren Kindern dann eines Tages doch sagten, war deren Erschrecken meist groß: die Großmutter, der Großvater jüdisch? Und das Reden in der Schule - der joviale Deutschlehrer am Bregenzer Gymnasium zum Beispiel, der immer zu einer brutalen Kopfnuss und zu einem fröhlichen antisemitischen Scherzwort aufgelegt war - und erst recht das Reden draußen auf der Straße - du Jud, gizig wia an Jud, siascht us wia an ghänkta Jud, as goht zua wia i dr Judaschual -, hängt das dann auch mit der eigenen Großmutter oder dem eigenen Großvater zusammen und folglich mit einem selbst? Deshalb ist über solche Familiengeschichten lange Stillschweigen bewahrt worden, und meist haben erst die Enkel als Erwachsene darüber zu reden begonnen.

Die Tabuisierung des jüdischen Anteils der Familiengeschichten entspricht natürlich dem allgemeinen Umgang mit Widerstand und Verfolgung nach 1945. Die meisten Biedermänner und -frauen tendierten zur Ansicht, wer verfolgt worden sei, habe wohl irgendetwas ausgefressen, und wer "ordentlich tat", sei ja unbehelligt geblieben. Die Schamlosigkeit im nachträglichen Umgang mit der Brutalität des NS-Regimes rief Scham bei jenen hervor, die diese Brutalität erlitten hatten. Im Abschiedsbrief der Bregenzerin Karoline Redler, die im November 1944 wegen einer nazifeindlichen Äußerung hingerichtet wurde, steht der Satz: "Ihr braucht Euch meiner nicht zu schämen…" - er sagt alles über die Atmosphäre, auch nach 1945, in der nicht die amtlich legitimierten Verbrecher, sondern deren Opfer moralisch verurteilt wurden.

Vielleicht aber war es gerade auch die Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen, die es den überlebenden Opfern des Regimes und ihren Kindern verbot, die wortführenden und die mitlaufenden Nazis, die ja Nachbarn, Geschäftspartner oder anderweitige Mit-Vorarlberger waren, zur Rede zu stellen. Die Unfassbarkeit dieser Verbrechen wird durch die schieren Zahlen der Opfer ja nur noch größer; nur im Kleinen, Privaten, Persönlichen hellt sie sich auf. Und da wollte man es den Nazis oft schlicht nicht zumuten, sie nun, von Angesicht zu Angesicht, mit dem Angetanen zu konfrontieren - und sich selbst wollte man diese Angesichter wohl auch ersparen.

Umgekehrt taten die alten und die jungen Nazis alles, um sich von diesem Teil ihrer ureigensten Geschichte zu verabschieden: Es seien Auswärtige gewesen, die für Verfolgung und KZ-Einlieferung die Verantwortung gehabt hätten, es seien ja auch gar nicht so viele gewesen, die da umgekommen seien, und die Leiden derer, die in den Krieg gezogen waren, seien noch viel schlimmer gewesen. "Die fürs Vaterland gefallenen Helden" - so die Inschrift auf dem Lauteracher Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, also auch jenes Krieges, bei dem das Vaterland von Narvik bis an den Don gereicht hatte -, das waren im populären Sprachgebrauch und im Alltagsbewusstsein der Menschen bald die wahren Opfer der Nazi-Zeit.

Und gab es vielleicht nicht doch ein paar Gründe für die Verfolgung der Juden, wenn man dafür schon so viel Energie und bürokratischen Aufwand investiert hatte? Bei den Euthanasie-Opfern jedenfalls lag für viele eine solche Rechtfertigung nahe: unnütze Fresser, während eines harten Krieges, bei dem es - siehe Lauteracher Kriegerdenkmal - um nichts anderes als ums Vaterland gegangen war. Und die Angehörigen der Opfer haben diese Rechtfertigung nur allzu leicht gemacht, weil sie das Leid ihrer Mutter, ihres Vaters, ihrer Schwester, ihres Bruders oder ihres Kindes, die als lebensunwertes Leben vergast wurden oder die man verhungern ließ, auch nach dem Krieg geheim hielten und nicht öffentlich machen wollten. Es galt als Schande, oder zumindest als Anlass zu schweigen, jemand geistig Behinderten in der Familie zu haben. Noch am 23. Dezember 1983 erschien in den "Vorarlberger Nachrichten" eine Todesanzeige, nachdem 42 Jahre nach ihrer Tötung die Urne einer depressionskranken, deswegen von den Nationalsozialisten ermordeten Frau in Konstanz gefunden und dann in Vorarlberg beigesetzt worden war. Die Bregenzer Familie wollte weder den Ort der Bestattung noch den Namen des Euthanasie-Opfers in dieser Anzeige öffentlich machen: "Angesichts der vielen hilflosen und namenlos gebliebenen Opfer aus dieser unseligen Zeit der Gewaltherrschaft bleibe ihr Name unerwähnt. Das Gedenken an sie möge Mahnung für uns Lebende sein."

So verständlich dieser Wunsch der Hinterbliebenen war, ebenso wie das Schweigen der Nachkommen der als Juden verfolgten Vorarlbergerinnen und Vorarlberger - den ehemaligen und fortwährenden Nationalsozialisten musste das Gedenken an diese Opfer keineswegs eine Mahnung sein. Da die Opfer keine Namen hatten, stellte sich ja für jeden halbwegs normalen Vorarlberger die Frage: Hat es sie überhaupt gegeben?

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