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Leo Haffner (1987): "Der Liberalismus bringt keinen Segen". Martin Thurnher - ein Leben für den Konservativismus

Die Formierung des konservativen Lagers und des politischen Katholizismus in Vorarlberg - eine Analyse anhand der Lebenserinnerungen Martin Thurnhers, eines der Protagonisten dieser Entwicklung, die Vorarlberg bis heute geprägt hat.

Leo Haffner

"Der Liberalismus bringt keinen Segen"

Martin Thurnher - ein Leben für den Konservativismus

 

Erschienen in: Dornbirner Statt-Geschichten. Kritische Anmerkungen zu 100 Jahren politischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Hg. Werner Bundschuh / Harald Walser. Bregenz 1987, S. 83-121

 

Martin Thurnher wurde am 7. September 1844 als Kind einer Arbeiterfamilie bäuerlicher Herkunft in einem Haus an der Schmelzhütterstraße in Dornbirn geboren. Er starb am 2. Jänner 1922 in seiner Heimatstadt. 37 Jahre lang gehörte er dem Vorarlberger Landtag an, 27 Jahre dem Reichsrat und 27 Jahre der Dornbirner Gemeindevertretung. Als langjähriges Mitglied des Landtages, des Landesausschusses und als Stellvertreter des Landeshauptmannes zählte er zu den einflußreichsten Landespolitikern in den letzten Jahrzehnten der Monarchie. Die Bewertung seiner Tätigkeit fällt je nach dem Standpunkt des Betrachters verschieden aus. Leo Herburger, der Biograph des Dornbirner Bürgermeisters Dr. Johann Georg Waibel, nannte ihn "den eigentlichen Beherrscher des Landtages" (1); Statthalter Merveldt warf ihm und Johannes Thurnher als Wortführern im Landtag unversöhnliche Anschauungen vor; die (liberalen) Dornbirner Fabrikanten bezichtigten ihn, eine sozialdemokratische Richtung zu verfolgen und eine rücksichtslose Opposition gegen alle Fabrikanten - welcher Partei auch immer - zur Schau zu tragen (2).

Wenige Jahre vor seinem Tode, an seinem 75. Geburtstag im Jahre 1919, entschloß sich Martin Thurnher, seine politischen Erinnerungen in einer Art Autobiographie zusammenzufassen. Diese "Notizen", wie er sie nannte, waren hauptsächlich für seine Kinder bestimmt. Falls sich aber jemand finde, über ihn eine Biographie zu schreiben, sollten die "Notizen" diese Arbeit erleichtern.

Die "Notizen" sind für den Historiker eine wertvolle Quelle. Sie geben Aufschluß über die politische Entwicklung des Landes Vorarlberg in den letzten fünf Jahrzehnten der Monarchie, insbesondere über die konservative bzw. christlich-soziale Partei. Sie vermitteln uns Informationen über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Lande; die politischen Leitbilder der Kasino-Bewegung werden ebenso deutlich wie die Verhältnisse im Schulwesen. Der Leser der "Notizen erfährt auch manch interessante Details über das Leben der kleinen Leute in Dornbirn, die auch dann noch von bäuerlichen Traditionen geprägt waren, wenn sie keine Landwirtschaft mehr betrieben, sondern als Fabrikarbeiter ihre Familien ernährten .

Für die vorliegende Publikation wurden jene Abschnitte der politischen Erinnerungen Martin Thurnhers ausgewählt, die die Entwicklung der katholisch-konservativen Partei vom Ende der sechziger bis zum Beginn der neunziger Jahre schildern. Martin Thurnher bemüht sich offensichtlich um Objektivität. Nun, da er als 75-Jähriger dem politischen Leben mehr oder weniger entrückt war, fiel ihm dies leichter als in seiner aktiven Zeit. Zuweilen übt er auch Selbstkritik. So urteilt er etwa über seine Haltung in Straßenbaufragen im Jahre 1888, er habe damals eine Kirchturmpolitik verfolgt und das Prinzip der Sparsamkeit für das Land etwas zu weit getrieben.

Um das Profil eines Berges oder gar die Konturen einer Gebirgskette erkennen zu können, ist Abstand vonnöten. Martin Thurnher kann sich jedoch auch im Jahre 1919, im hohen Alter, nicht zu einer gerechteren Beurteilung seiner politischen Gegner durchringen. Auch die Nachteile der prinzipiellen und zwanzig Jahre lang praktizierten Oppositionshaltung der Parteiführung in der Schulfrage, die sich auch auf andere Politikbereiche negativ auswirkte, werden unzureichend dargestellt. Schließlich sind auch die Fragen des Historikers im Jahre 1987 andere als jene des Landespolitikers Martin Thurnher im Jahre 1919. Zwar ist der Blick Martin Thurnhers auch in der Rückschau von keinerlei Sentimentalität oder Verklärungsabsicht getrübt. Was seine Perspektive aber einschränkt, ist die Tatsache, daß er in der Darstellung der von ihm erlebten und mitbestimmten politischen Geschichte Vorarlbergs ganz Kind seiner Zeit bleibt. Seme "Notizen" bedürfen also der Kommentierung und Ergänzung.

Der Abstand zur politischen Szene jener Zeit versetzt uns Heutige in die Lage, die Ereignisse nicht isoliert zu betrachten, sondern in ihrem größeren geschichtlichen und geographischen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Entwicklung der Demokratie in Österreich im Zeitraum zwischen 1861 und 1934.

Die Fragen, die zu stellen wären, lauten etwa: Wie war die Ausgangslage der parlamentarischen Demokratie nach 1861, als nach der Überwindung des Absolutismus die ersten hoffnungsvollen Ansätze zur Schaffung neuer Freiräume für den Bürger erkennbar wurden? Unter welchen Voraussetzungen entwickelte sich die Parteienlandschaft? Welche Hindernisse stellten sich dem demokratischen Leben entgegen, und wie war es um die Autoritätsverhältnisse in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestellt? Wie gingen die politischen Parteien miteinander um?

Das Wissen um den totalen Zusammenbruch, oder besser: um die Zerstörung des demokratischen Systems im Jahre 1934 erlaubt es uns, die Frage nach den Wurzeln dieser Entwicklung zu stellen. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß die politischen Spannungen und der Bürgerkrieg der Zwischenkriegszeit weit zurückliegende Ursachen haben und daß das Aggressionspotential über viele Jahrzehnte hinweg aufgestaut wurde.

Die Untersuchungen von Werner Dreier und anderen Autoren über Vorarlberg im Umbruch in den Jahren 1918 bis 1938 haben ergeben, daß Vorarlberg im Hinblick auf den Stellenwert des demokratischen Prinzips keine Ausnahmestellung beanspruchen darf, sondern daß die Situation hierzulande im großen und ganzen der großräumigen, um nicht zu sagen gesamteuropäischen, Entwicklung entsprach. Die Frage liegt also nahe: Wie hat die parlamentarische Demokratie moderner Prägung, also die Parteiendemokratie, in Vorarlberg funktioniert, bevor sie zusammenbrach? Welche Möglichkeiten und Voraussetzungen fand sie von Beginn an vor? Vorauszuschicken ist, daß sich die folgenden Bemerkungen hauptsächlich auf die konservative Partei, die dominierende politische Kraft im Lande, beziehen.

 

Der Kampf gegen den Liberalismus - die Anfänge der Konservativen

 

Das 19. Jahrhundert brachte eine ungeahnte Erweiterung des Wissenshorizontes mit sich. Neue Produktionsmethoden wurden entwickelt, neue Industrien entstanden. Die Ansammlung von Kapital, vor allem in den Städten, die Ausdehnung des Handels durch die Verbesserung neuer Verkehrswege und die Entdeckung neuer Länder bedeuteten ungeheure Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Mit der Verlagerung von Macht wurden auch die traditionellen Autoritäten erschüttert: nämlich der Feudaladel und die Kirche. Der Aufstieg des Bürgertums und die politische Position der Städte Vorarlbergs spiegelt diese Autoritätsverlagerung wider. Diese kraftvolle Emanizipation des Bürgertums hat eine Parallele lediglich im Aufstieg des neuzeitlichen Bürgertums im 15. und 16. Jahrhundert.

Die Ansammlung von Kapital in der Hand von verhältnismäßig wenigen Vorarlberger Fabrikantenfamilien verschaffte diesen auch in politischer Hinsicht eine dominierende Rolle. Für unseren Zusammenhang ist bedeutsam, daß auch in Vorarlberg ein starkes soziales Gefälle entstand zwischen jenen, die durch Besitz oder Bildung privilegiert waren auf der einen Seite, und Kleinbürgern, Arbeitern und Bauern auf der anderen Seite. Martin Thurnher weist an mehreren Stellen seiner "Notizen" darauf hin, daß auf der Basis der ungleichen Besitzverhältnisse auch die politische Macht ungleich verteilt war: Das Privilegienwahlrecht bewirkte z.B. in Dornbirn, daß 45 Wähler des I. Wahlkörpers dasselbe Gewicht hatten wie 3.000 Wähler des III. Wahlkörpers.

Das Entstehen politischer Parteien in der Monarchie nach 1867 brachte einen neuen Faktor ins Spiel: Parteilichkeit als Massenphänomen. Die Parteien erkannten bald, daß es im Kampf um die Wählergunst entscheidend war, die psychische Disposition einer größeren Zahl von Menschen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Versuche, als neue Partei Kontur und Identität zu gewinnen, schienen umso erfolgreicher, je besser es gelang, "Gegner zu produzieren". In einer Zeit, in der der Nationalgedanke eine beherrschende Rolle spielte, in der sich Nationen und Volksgruppen streng voneinander abzugrenzen suchten, wurde auch auf der innenpolitischen Ebene der Freund-Feind-Gegensatz ein konstituierendes Element politischen Denkens.

Neben den ungeheuren sozialen Spannungen taten sich hier also weitere Konfliktfelder auf, die für die junge parlamentarische Demokratie eine ständige Zerreißprobe darstellten. Eines der wichtigsten Merkmale der eben erst entstehenden Parteien war die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes, die Totalität des politischen Anspruches. Der ideologische Faktor trat mit Macht ins politische Kräftespiel. Das Land wurde in mehrere Lager gespalten, die einander erbittert und zeitweilig mit Haß bekämpften.

Will man ein Psychogramm der konservativen Partei und ihrer Führer entwerfen, dann muß man auf einen Umstand hinweisen, der für das Verständnis ihrer Motive von grundlegender Bedeutung ist: Die konservative Partei wurde nicht als eine politische Partei im heutigen Sinn gegründet, sondern als eine Bewegung für Papst und Kirche. Im Zuge der Einigung Italiens war nämlich der Kirchenstaat aufgelöst worden; der Papst verlor den größten Teil seiner Besitzungen in Mittelitalien. In Österreich hatte die Kirche einen wesentlichen Teil ihres Einflusses auf Schule und Gesellschaft verloren, weil eine liberale Gesetzgebung der Kirche die Oberaufsicht über das Schulwesen entzogen und dem Staat übertragen hatte. Ebenso schmerzlich für die katholische Kirche war die Abschaffung der geistlichen Ehegerichte: Ab 1868 war die "gottlose" Ziviltrauung möglich.

Für die führenden katholischen Männer Vorarlbergs bestand kein Zweifel, daß all diese Maßnahmen nicht nur eine "Verletzung der geheiligten Rechte der Kirche" darstellten: Dies war auch ein Angriff auf die Religion. In der Schul- und Ehegesetzgebung konnte und durfte es nach ihrer Meinung keine Kompromisse geben. Und da Vorarlberg als erzkatholisches Land galt, fiel es den konservativen Parteiführern nicht schwer, ihr Anliegen als ein Anliegen des ganzen Landes darzustellen. Das Gefühl, einen Kreuzzug zu führen für Religion und Kirche, verband sich mit dem Bewußtsein, auch im Hinblick auf die "alten Traditionen" des Landes Vorarlberg "im Recht" zu sein. Festigkeit im Glauben und Heimattreue lautete die Losung. Wer gegen diese Prinzipien verstieß, handelte religionslos, handelte gegen die "Vorarlberger Sache". Das Interesse daran, Vorarlberg, ideologisch gesehen, als Einheit darzustellen, war deshalb so groß, weil dies die Bemühung rechtfertigte, die konservative Partei als die Partei der Vorarlberger ins Bewußtsein zu rücken und damit die Positionen der liberalen und der sozialdemokratischen Partei in den Augen der Bevölkerung abzuwerten.

Heimattreue, Festigkeit im Glauben und Festigkeit in der Politik waren eines. Das staatliche, soziale und kulturelle Leben sollte sich an zwei Prinzipien orientieren: am Katholizismus und am päpstlichen Primat. Diese Grundsätze konnten praktisch jedoch nur verwirklicht werden im Rahmen einer geschlossenen Gesellschaft, wie sie z.B. im Mittelalter bestanden hatte. Damit befand sich die politische Konzeption der Konservativen in einem grundlegenden Gegensatz zum parlamentarischen System moderner Prägung - einem für Österreich noch jungen und daher noch keineswegs gefestigten System. Dieses System sah ja gerade die Existenz verschiedener Parteiströmungen vor.

Was auch die katholisch-konservative Partei unter der Führung von Dr. Josef Anton Ölz, Johannes Thurnher, Johann Kohler und Pfarrer Bartholomäus Berchtold anstrebte, war aber im Grunde nichts anderes als eine ideologisch geschlossene Gesellschaft, in der andere politische Gruppierungen und Gruppenwerte keinen Platz hatten.

Erst unter dieser Perspektive wird die Heftigkeit des Parteienkampfes erklärbar. Die liberale Partei wurde mit demselben Pathos bekämpft, wie man zum Beispiel 1861 versucht hatte, die Ansiedlung von Protestanten in Vorarlberg zu verhindern (3).


"Der Sieg war ein großer"

Aus den "Notizen" Martin Thurnhers

 

Durch die Tätigkeit im Lehrerverein, dann durch die vom Jahr 1867 an das neugegründete "Volksblatt" gelieferten Korrespondenzen war die Öffentlichkeit auf mich aufmerksam geworden. Im ersten Moment, wo die Scheidung der Geister begann, wurde von seiten der Liberalen der Versuch gemacht, mich für ihre Partei zu gewinnen. Ein solcher Versuch war im Frühjahr 1868 seitens der Gemeindevertretung von Dornbirn gemacht worden, durch den Beschluß, mich von der Gemeinde aus zur Erlernung des Turnunterrichts nach Leipzig zu entsenden. In Dornbirn herrschte bis zum Jahre 1867 mehr oder minder ein konservatives Regiment, und es waren mit wenig Unterbrechungen meist Glieder der Firma Herrburger & Rhomberg auf dem bürgermeisterlichen Stuhle, zum Beispiel Franz Rhomberg, dessen Nachkommen aus diesem Grunde heute noch "Ammann Franzes" bezeichnet werden, dann Albert und Wilhelm Rhomberg, während zwischendrin anfangs der 1860-er Jahre in einer Periode von drei Jahren einmal David Fußenegger Bürgermeister von Dornbirn war.

1867 war es dem Mediziner Dr. Waibel gelungen, in den Gemeinderat zu kommen, und mit ihm kam ein liberaler Zug in die Gemeindestube. Wenn auch in der Periode 1867-1870 Arnold Ruf als Bürgermeister fungierte, gewann Waibel trotzdem großen Einfluß. In der Gemeindevertretung war er es, der im Frühjahr 1868 den "Antrag auf Entsendung Martin Thurnhers nach Leipzig zum Besuch eines Turnkurses" stellte. Dieser Beschluß wurde denn auch gefaßt. Der Antragsteller hatte sicher nicht meine besondere Begabung zum Turnen, die ich ohnedies nicht besaß, im Auge, sondern er glaubte vielmehr, mich durch den Aufenthalt in "Klein-Paris" für seine Anschauungen und Parteibestrebungen gewinnen zu können. Er hat sich darin jedoch getäuscht. Vermutlich war Dr. Waibel Freimaurer, man munkelte, er sei Mitglied einer Loge in Preßburg gewesen.

1868 kam es dann zu meiner Leipzigreise. Ich wohnte an Wochentagen dem Turnunterricht aller Altersklassen bei, an den Abenden machte ich die Turnübungen der Turnvereinsriegen mit.

Der politische Umschwung in Vorarlberg. Man müßte besser "Aufschwung" statt Umschwung sagen, denn im eigentlichen Sinn des Wortes war die Bevölkerung Vorarlbergs nie liberal, sondern sie ist und war, wenn auch demokratisch veranlagt, konservativ und kirchlich gesinnt. In den 1860-er Jahren erregte es zwar nach außen hin den Anschein, als ob das Land ganz liberal sei. Die erste Zeitung, die in Vorarlberg gegründet wurde, war die "Feldkircher Zeitung". Sie war das Organ der Liberalen. Das zweite in Vorarlberg gegründete Blatt, die amtliche "Landeszeitung", war nicht viel besser. Der Landtag, besonders in der Periode 1867/1870, war in seiner Mehrheit liberal. Dieser Landtag erwies sich insbesondere bei der Schulgesetzgebung als einer der radikalsten unter den Landtagen der im Reichsrate vertretenen Länder. Damals sprach man vom "roten Ländle", später vom "schwarzen Ländle".

Es war höchste Zeit, dafür zu sorgen, daß die wirklichen Anschauungen der Bevölkerung in der Öffentlichkeit zum Durchbruch und zur Geltung gelangten. Die erste Tat in dieser Richtung war die Gründung des "Vorarlberger Volksblattes". 1867 gründeten die "Liberalen" den "Verfassungsverein". Die Werbung der Liberalen wurde im großen Stil betrieben. Die Folge war die Gründung der katholisch-konservativen Kasinos. Das Vorbild dafür gab uns Baden. Dort herrschte in den 1860-er Jahren der Kulturkampf, insbesondere auf dem Gebiete der Schule. In den Sommermonaten der 1860-er Jahre hielten sich in dem Badeort Obladis bei Landeck hervorragende katholische Männer aus Baden auf. Ebenso der spätere Führer der katholischen Partei von Vorarlberg, Johannes Thurnher. Dort war auch der spätere Reichsratsabgeordnete Dr. Ölz viele Jahre Badearzt. Der Verkehr mit den Badensern mag dazu beigetragen haben, oder wenigstens Mitursache sein, daß die ursprüngliche Organisation der Konservativen Vorarlbergs in der Form von Kasinos erfolgte. Das erste Kasino in Vorarlberg (jenes von Bregenz) wurde 1868 errichtet. Dieses Kasino hatte am Anfang seinen Sitz im "Rad". Weitere Vereinsgründungen folgten. Die meisten Kasinos entfalteten anfangs eine rege Tätigkeit und bildeten unstreitig eine gute Schule für die politische Ausbildung. Jene Kasinos, die begabte Leute hatten, entwickelten eine außerordentliche Tätigkeit und griffen energisch und machtvoll in das öffentliche Leben des Landes und der Gemeinden ein. Mehrere dieser Vereine, denen es an der Leitung fehlte, führten von allem Anfang an ein kümmerliches Dasein und konnten sich nur einige Jahre, meist mit Hilfe von außen, erhalten. Wenn aber auch manche derselben von der Bildfläche verschwanden oder anfingen, ein Still-Leben zu führen, so haben die Kasinos in den 1860-er und 1870-er Jahren doch eine große Rolle gespielt und zu dem Umschwung und zu den guten Erfolgen der Wahlen im Jahre 1870 ganz wesentlich beigetragen. Ich selbst hielt ein Vierteljahrhundert hindurch hunderte von Kasinoreden.

Meine Haupttätigkeit entfaltete ich im Kasino Dornbirn. Im Juli 1868 fanden sich im Gasthaus "Zum Kreuz" dreißig bis vierzig Männer zusammen, die unter der Leitung des Josef Ölz, eines Bruders des Dr. Ölz, den Grund zu dem Kasino Dornbirn legten, das bald an Größe und tatkräftigem Eingriff in die öffentlichen Angelegenheiten alle anderen Kasinos des Landes überragte und eigentlich heute noch unter dem anfangs dieses Jahrhunderts umgeänderten Namen "Christlich-soziale Partei" fortbestand. Die konstituierende Versammlung fand am 4. Oktober 1868 statt, das Gründungsfest wurde am 11. November gefeiert. Zum Vorstand wurde Johannes Thurnher gewählt. Er leitete das Dornbirner Kasino drei Jahre hindurch und brachte es zu großem Ansehen. In der höchsten Blütezeit zählte das Kasino etwa 600 Mitglieder. Als Johannes Thurnher seine Tätigkeit beim "katholisch-politischen Volksverein für Vorarlberg" übernahm, fiel die Haupttätigkeit des Kasinos durch zwei Jahrzehnte hindurch mir zu. Diese Arbeit führte ich unter verschiedensten Titeln durch wie Schriftführer, Vorstandstellvertreter oder Vorstand, je nachdem es die Verhältnisse erforderten. In den ersten Jahren wurde fast jeden Sonntag eine Kasinoversammlung abgehalten. Doch nicht nur Reden allein wurden gehalten, bei jedem wichtigeren Anlaß wurden auch Resolutionen gefaßt, Eingaben an Behörden und Körperschaften gerichtet sowie Stellung genommen zu den öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere auch zu den Gesetzen. Man erteilte Unterricht an Jugendliche, Redner wurden herangebildet, ein Sängerkranz geschaffen und Unterhaltungen veranstaltet.

1870 wurde das hölzerne Haus des Josef Thurnher in der Schulgasse samt großem Grundkomplex um 15.000 Gulden erworben und sofort mit den Bauten begonnen. Aktien zu je 50 Gulden wurden ausgegeben. Auch ich kaufte eine Aktie. Das Einzugsfest ins Kasino fand im Jänner 1873 statt. Auch Bischof Amberg war dabei anwesend. Ich will noch bemerken, daß das Vereinshaus seinem Zwecke sehr entsprach, aber in materieller Beziehung keine besonderen Erfolge erzielte, sondern sich nur mit Mühe und Opfern über Wasser zu erhalten vermochte. Eine Verzinsung der Aktien erfolgte nie...

1881-1888 war ich Obmann der Vereinshausgesellschaft, wie die Aktienunternehmung hieß. Einige Differenzen in Wirtschaftsangelegenheiten mit dem damaligen Pfarrer Fink ver-anlaßten mich, eine weitere Wiederwahl abzulehnen. Mein unmittelbarer Nachfolger war Adolf Rhomberg, dann kamen in bunter Reihenfolge andere wie Dreher, Bobleter usw. In späteren Jahren erfolgte die Vergrößerung des Vereinshauses und der Bau des Arbeiterheimes. Die Gesellschaft lud sich eine Schuldenlast auf und verkaufte auch den schönen Grundkomplex mit 26 Viertel Land. Dies wäre sicher nicht geschehen, wenn ich noch Einfluß gehabt hätte. Aber es waren mittlerweile jüngere Kräfte à la Dr. Drexel, Engelbert Luger und dergleichen in den Vordergrund gelangt und wußten den Hauptaktienbesitzer Adolf Rhomberg in ihrem Sinne zu leiten.

Die Gründung der zahlreichen Kasinos in den Jahren 1868 und 1869 brachte einen vollen Umschwung in der Zusammensetzung des Vorarlberger Landtages. Die Landesvertretung war in der ersten Hälfte der 1860-er Jahre ziemlich farblos, da damals einepolitische Parteigruppierung nicht bestand und auch zur Bildung einer solchen kein besonderer Anlaß bestand. In dieser Zeit hatte der Bischof Dr. Feßler, ein gebürtiger Vorarlberger, im Landtage einen nicht unbedeutenden Einfluß, kam dann aber als Bischof nach St. Pölten. Der Zeitpunkt der Scheidung der Geister trat erst ein, als nach der Belkredischen Sistierung der Verfassung und nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges vom Jahre 1866 die liberale Hochflut sich ergoß, als deren Resultat sich die 1867-er Dezemberverfassung und die interkonfessionellen Gesetze sich ergaben.

Die Landesvertretung Vorarlbergs geriet dabei ins liberale Fahrwasser, und es zeigte sich namentlich bei der Votierung der Schulgesetze 1869 eine große liberale Majorität. Außer dem Bischof waren es nur die vier Vertreter der Landgemeinden des Bezirkes Bludenz, die als konservativ angesehen werden konnten.

Die Gemeindewahlen in Dornbirn 1870

Unter allen Gemeinden des Landes setzte es wohl in Dornbirn den heftigsten und erbittertsten Kampf ab. Es ist kaum zu beschreiben, wie hoch die Wogen des Wahlkampfes gingen. Aufgrund der durch die vorausgegangenen zweijährigen Vorbereitungen, der Belehrung, Schulung und Organisation durch die zahlreichen Vereinsversammlungen sowie aufgrund der sich immer mehr steigernden Erbitterung gegen die liberalen Machenschaften wurde der Sieg der Konservativen als geradezu sicher erwartet. Aber die Gegner leisteten Unglaubliches. Dazu kam, daß die Gemeindewahlordnung mit ihrem Wahlkörpersystem den Reichen allzuviel Rechte einräumte, indem die 45 Wähler des I. Wahlkörpers gerade soviel Mitglieder in die Gemeindevertretung zu senden berechtigt waren wie 3000 Wähler des III. Wahlkörpers.

Die Wahl des III. Wahlkörpers konnte in einem Tage nicht beendet werden, das Mißtrauen gegen die Wahlkommission und gegen die Gemeindevorstehung sowie anderer gegnerischer Elemente war so groß, daß die Stimmzettel die ganze Nacht hindurch unter Beleuchtung in einem Zimmer des Erdgeschoßes des Gemeindehauses aufgestellt werden mußten, sodaß die im Freien kontrollierenden Bauern dieselbe stets im Auge behalten konnten, die Tür zum Zimmer aber von einem Polizisten bewacht wurde.

Der Sieg im III. Wahlkörper war ein großer, mit mehr als Zweidrittelmajorität erfochten, aber leider blieben wir im I. und II. Wahlkörper in der Minorität, und so verlor sich der schöne Traum der Eroberung der Gemeindestube. Es handelt sich bei dieser sowie bei allen in den folgenden 30 Jahren in Dornbirn duchgeführten Gemeindewahlen immer um das Ergebnis des II. Wahlkörpers, und es wurden gerade hinsichtlich dieses Wahlkörpers seitens der Gegner oft die unlautersten Mittel wie künstliche Stimmenfabrikation durch Fatierungen pkt. Gemeinde- und Staats steuern, Stimmenkauf, Drohungen und dergleichen in Anwendung gebracht und zwar immer mit Erfolg (4).

1890 kam Dr. Johann Georg Waibel von Dornbirn in den Landtag, der bissigste und unverfrorene liberale Gegner, und dieser brachte einen groben Ton in die Landtagsverhandlungen, er ließ es in sehr gehässiger Weise an persönlichen Angriffen nicht fehlen. Schon in der Debatte über die Wahlverifikation wetterte er darüber, daß Kandidaten (er meinte den Landeshauptmann Rhomberg) um Stimmenwerbung von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Bergparzelle zu Bergparzelle, von Bauernhof zu Bauernhof sich begaben, wie die Priester in die Häuser eindrangen, die Kanzel für die Wahlagitation benützten, was er (Waibel) für ein Unglück halte und anderswo verpönt sei.

Martin Thurnher zitiert in seinen "Notizen" in indirekter Rede seine Erwiderung im Landtag.

Man glaube sich um zwanzig Jahre zurückversetzt, wenn solche Anschuldigungen gegen den Klerus vorgebracht werden. Der Priester sei zur Einflußnahme bei den Wahlen ebenso berechtigt wie jeder andere Staatsbürger; er kenne am besten die Bedürfnisse des Volkes, er sei aus demselben hervorgegangen und mit demselben aufgewachsen und sei dessen Führer von der Wiege bis zum Grabe. Es sei nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht der Priester, dafür zu sorgen, daß nicht kirchen- und vaterlandsfeindliche Männer (ich spielte dabei auf Dr. Waibels Freimaurertätigkeit an, da er einer Loge in Preßburg angehört haben soll) auf höhere Vertrauensposten befördert werden. ... Die persönlichen robusten Angriffe Dr. Waibels wurden in späteren Sessionen ... noch viel intensiver, aber er gewann dadurch für sich und die von ihm vertretene Partei nichts, da man seinen Anregungen immer nur mit einem gewissen Mißtrauen begegnete und eine gewisse persönliche Gereiztheit auch auf anderer Seite hervorgerufen wurde... (5).


Schule und Schulstreit -

Die Karriere des Lehrers Martin Thurnher

 

Religiöser und politischer Kampf waren ein und dasselbe. So ordnete zum Beispiel der aus Vorarlberg stammende Bischof von Linz, Rudigier, vor den Urnengängen in Oberösterreich "öffentliche Andachten um gottgefällige Landtagswahlen" an (6), und der "Landbote für Vorarlberg" erklärte seinen Lesern:

"Der Hauptgrund, warum unsere Schulen zu Räuberhöhlen werden, liegt darin, daß man die katholische Kirche gewaltsam aus der Schule hinauswirft" (7).

Zu "Räuberhöhlen" waren die Schulen Vorarlbergs nach Ansicht der Konservativen deshalb geworden, weil die Lehrerschaft des Landes liberal wählte und damit in Opposition stand zu jener Partei, die seit 1870 die Mehrheit im Landtag stellte.

Martin Thurnher geht auf diese erstaunliche Tatsache in seinen "Notizen" nur flüchtig ein (8). Wie stark der Zustrom der Lehrer zu den Liberalen bzw. die Abkehr von den Konservativen war, erschließt sich daraus, daß der katholisch-pädagogische Verein aufgrund des Mitgliederschwundes seine Tätigkeit einstellen mußte. Erst in späterer Zeit kam es zur Gründung eines neuen katholischen Lehrervereins. Die Sympathie der Vorarlberger Lehrer gegenüber dem Liberalismus war umso bemerkenswerter, als sich daraus zwangsläufig eine politische Gegnerschaft zur einflußreichen Geistlichkeit ergab. Die Gründe für diese Haltung lagen freilich auf der Hand:

Die materielle Lage der Lehrer in Vorarlberg war trostlos, ihr sozialer Status niedrig. Hier wurden die Lehrer im Vergleich zu allen anderen Ländern der Monarchie lange Zeit hindurch am schlechtesten bezahlt - und dies trotz des Umstandes, daß die Industrieregion Vorarlberg sehr hohe Lebenshaltungskosten aufwies. Ohne einer Nebenbeschäftigung nachzugehen, war ein Lehrer nicht in der Lage, eine Familie zu ernähren. Sein Lohn war weit niedriger als der eines gewöhnlichen Fabrikarbeiters (9). Zahlreiche Lehrer mit besseren Zeugnissen sahen sich gezwungen, in andere Kronländer abzuwandern. Die Folge war eine negative Auslese im Schulwesen.

Die Hauptverantwortung für diese mißliche Situation trug die radikale Fraktion innerhalb der konservativen Partei. Ihren Exponenten Johannes Thurnher, Johann Kohler und Pfarrer Berchtold war es gelungen, die Führung der Partei an sich zu reißen. Sie vertraten die Auffassung, daß die staatlichen Schulgesetze der Jahre 1868 und 1869 für das Land Vorarlberg keine Gültigkeit haben sollten. Diese Gesetze gaben dem Staat das Recht der obersten Leitung und Aufsicht über das Schulwesen. Nur für den Religionsunterricht hatte die jeweilige Kirche Sorge zu tragen. Der Unterricht in allen Gegenständen, außer in Religion, sollte unabhängig von jedem Einfluß der Kirche oder der Religion sein.

Abgesehen von weltanschaulich-religiösen Erwägungen war es jedenfalls hoch an der Zeit gewesen, das Schulwesen zu reformieren. Besonders deutlich wird dies in den "Notizen" Martin Thurnhers. Er berichtet, daß der Unterricht für angehende Lehrer in den sogenannten "Präparandien" sehr primitiv gewesen sei. So gab es nicht einmal eigene Lehrpersonen für die in Bregenz bestehende Anstalt.

Was Johannes Thurnher und Johann Kohler für Vorarlberg anstrebten, war ein Rückfall in eine bereits überwundene Zeit. Denn im Jahre 1876 legte der Landesausschuß dem Landtag einen Schulgesetzentwurf für die Volksschulen vor, der unter anderen folgende Bestimmungen enthielt: Die Volksschule jeder Gemeinde sollte der direkten Aufsicht des jeweiligen Ortspfarrers unterstellt werden. Der Landesschulrat - faktisch die höchste Instanz im Schulwesen - sollte aus einem vom Diözesanbischof zu ernennenden Landesschulinspektor und aus einem Referenten für die wirtschaftlichen und administrativen Angelegenheiten bestehen. Die Schulaufsicht wäre ausschließlich der Geistlichkeit zugekommen. Das staatliche Unterrichtsministerium wurde in bezug auf die Aufsicht über die Volksschulen gänzlich ignoriert. Der Lehrplan für die Volksschulen sah weiters vor, das Turnen ganz wegzulassen; die naturwissenschaftlichen Fächer und Mathematik wurden als Nebengegenstände eingestuft (10).

Es war klar, daß dieser Schulgesetzentwurf keine Aussicht hatte, vom Kaiser sanktioniert zu werden, "aber", so der Landesausschuß, "was sind Regierungen und was sind Systeme, die auf Tagesgesinnungen fußen? ... Wir aber, das katholische Vorarlberg ... wird bleiben" (11).

Für die Parteiführer Johannes Thurnher, Johann Kohler und Pfarrer Bartholomäus Berchtold war dieser Gesetzesentwurf ein Kernstück konservativer Politik. Alle Begriffe, die in der Argumentation der Parteiführung einen hohen Rang einnahmen - wie Eigenständigkeit des Landes, Sittlichkeit, Katholizität - wurden mit der Schulfrage verknüpft. Die Parteiführung war nicht nur entschlossen, sich außerhalb der staatlichen Gesetze zu stellen, sondern auch jede innerparteiliche Opposition gegen ihren Entwurf zu unterdrücken. Die gemäßigten Mitglieder des Landtages, die Bedenken hatten, derart radikale Forderungen in einem Landesgesetz zu formulieren, wurden schwer unter Druck gesetzt, und zwar durch Einführung des Klubzwanges: "Die konservativen Klubmitglieder wurden durch ein Gelöbnis gebunden, in allen Fällen so zu stimmen, wie der Beschluß der Klubmajorität entscheidet" (12).

Die Parteiführung war von der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ihres Standpunktes derart überzeugt, daß sie es ablehnte, auch nur zu erwägen, mit der Regierung in Wien über den Schulgesetzentwurf des Vorarlberger Landtages von 1876 zu verhandeln. Nach der Meinung Johannes Thurnhers, Johann Kohlers und Bartholomäus Berchtolds war jede - auch die kleinste - Konzession in der Schulfrage nicht vereinbar mit dem Recht auf Eigenständigkeit und mit der kirchlichen Tradition Vorarlbergs.

Die Folgen waren tiefgreifend. Zwischen der Regierung in Wien und dem Vorarlberger Landesausschuß bzw. der Landtagsmajorität entstand ein äußerst frostiges Klima. Bis zum Jahr 1890, also bis zur Wahl des gemäßigt konservativen Politikers Adolf Rhomberg zum Vorarlberger Landeshauptmann, gab es auch in fast allen anderen politischen Sachproblemen, die zwischen Wien und Bregenz zu lösen gewesen wären, kaum Fortschritte. Das bestätigt auch die Bemerkung Martin Thurnhers über die Zeit vor 1890: Der Staat habe sich um Vorarlberg wenig gekümmert, Vorarlberg aber auch wenig um das Reich. Dies ist nicht allein, wie Thurnher anmerkt, auf den Arlberg als Hürde zwischen Vorarlberg und dem im Osten gelegenen Hauptteil des Reiches zurückzuführen, sondern auch auf die unnachgiebige Haltung der Landtagsmajorität.

Die Leidtragenden dieser Politik waren - wie erwähnt - nicht zuletzt die Lehrer, deren Entlohnung aufgrund fehlender Verhandlungen viele Jahre auf dem alten Niveau blieb. Die kärglichen Hilfsmittel, zu denen der Landtag laut Martin Thurnher Zuflucht nahm (13) - es handelte sich um bescheidene Zuwendungen des Landes an Gemeinden und Lehrer - waren lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein.

Erstaunlich ist die Argumentation, mit der den Vorarlberger Lehrern die jahrelang ausstehende Gehaltserhöhung vom Landtag verweigert wurde: Die konservative Partei, die immerhin den Anspruch erhob, christliche Politik zu betreiben, wollte den Mitgliedern des starken liberalen Lehrervereines eine Gehaltserhöhung nicht zuteil werden lassen, weil "deren Richtung in striktem Widerspruche steht mit christlicher Lehre und christlicher Weltanschauung" (14).

Für die konservative Partei war die Erziehung der Jugend in kirchlichem Sinne das A und O jeder Politik. Ein ähnlich hoher Stellenwert kam der christlichen Erziehung des Volkes zu. Aus diesem Grund wurde im Vorarlberger Landtag ein eigener "Sonntagsheiligungsausschuß" gegründet. Dieser Ausschuß hatte die Aufgabe, darüber zu wachen, daß das Gebot, an Sonntagen die Kirche zu besuchen, eingehalten wurde. Wer den Sonntag entheilige, so stellte Martin Thurnher im Landtag fest, trage nicht nur zum Abbau der Religiosität bei; die weiteren Folgen seien der Verfall der Sittlichkeit, zunehmende Rohheit und Widersetzlichkeit der heranwachsenden Generation in Familie, Gesellschaft und Staat, steigende Genußsucht, Abhandenkommen der Sparsamkeit, Verarmung des Volkes und Niedergang des allgemeinen Wohlstandes (15).

Für die rechtschaffenen Männer der katholisch-konservativen Partei, die ihre Kinder streng und in kirchlichem Sinn erzogen, ihr öffentliches Amt mit großer Gewissenhaftigkeit ausübten, sparsam mit öffentlichen Geldern umgingen und auch privat einfach, ja spartanisch lebten, ließen sich die Leitbilder politischen Handelns auf eine einfache Formel bringen: Vor allem mußte die kirchliche Autorität gestärkt werden. Mangelnde Erfahrung auf dem politischen Felde - die katholisch-konservative Partei in Vorarlberg war noch eine sehr junge Bewegung - mochte im Vergleich zu dem oben genannten Grundsatz nur wenig zählen. Und was die Überlegenheit der liberalen Partei in bezug auf ihre gebildete, zum Teil akademisch geschulte Anhängerschaft betraf, so war ja leicht zu erkennen, wohin die Überbetonung des Intellekts, der Wissenschaft und des Freiheitsgedankens führte: zu Sittenlosigkeit und Anarchie.

Die Aufklärungs- und Schulfeindlichkeit der konservativen Partei hatte eine Parallele in der Wissenschaftsfeindlichkeit der katholischen Kirche jener Zeit, sie hatte aber auch handfeste materielle Gründe. Einem in bescheidensten Verhältnissen lebenden Landwirt oder Fabriksarbeiter, der unter Umständen auch verschuldet war, konnte es nicht gleichgültig sein, ob er seine heranwachsenden Kinder in die Schule schicken mußte oder ob er sie zur Aufbesserung des kärglichen Lohnes in einer Fabrik arbeiten lassen bzw. zur Stall- und Feldarbeit heranziehen konnte. Die achtjährige Schulpflicht wurde somit als "große und vielseitige Last des Volkes" betrachtet, und liberale Politiker, wie Dr. Johann Georg Waibel, die für die Beibehaltung der achtjährigen Schulpflicht eintraten, wurden von der konservativen Presse heftig kritisiert (16).

 

"Mit apostolischer Kraft und heiligem Eifer"

Aus den "Notizen" Martin Thurnhers

 

Mein Vater war durch mehr als 40 Jahre als Spinner bei der Firma Herrbuger und Rhomberg in der ältesten Fabrik Dornbirns in Juchen beschäftigt. Wir Kinder wurden ziemlich strenge und religiös aufgezogen. Mangel hatten wir zu Hause gerade keinen zu leiden, doch die Familie war genötigt, sich in vielfacher Hinsicht einzuschränken und auf das einfachste und bescheidenste zu leben und zu kleiden. Ich hatte sieben Geschwister. Während des Krimkrieges konnte sich die Familie nicht sattessen.

Das Lernen ging mir leicht vonstatten. Nachdem ich das zehnte Lebensjahr vollendet hatte, wurde ich durch drei Sommer von Georgi bis Martini in der Spinnerei Herrburger & Rhomberg in Juchen als "Fadenbube" (Gehilfe des Spinners) bei meinem Vater verwendet. Den Erfolgen in der Schule machte aber der Fabriksdienst keinen Eintrag. Mit dreizehn Jahren begann für mich der Besuch der zweiklassigen Unterrealschule in Dornbirn. Diese Schule genoß einen sehr guten Ruf und wurde von Schülern aus allen Teilen des Landes, sogar aus Tirol, stark besucht. Ein weitergehendes Studium war nicht möglich, da unsere Familie ziemlich mittellos war. Die nächsten zwei Jahre war ich also in Fabriken tätig. (Eineinhalb Jahre als Dreherlehrling in der mechanischen Werkstätte der Firma I. I. Rüsch.) Dannfolgte ein "großes" Studium an der Präparandie in Bregenz. Der ganze Kurs, den ich mitzumachen hatte, dauerte neun Monate, von Oktober 1861 bis Juli 1862. Ich verließ dann diese Schule als "Schulgehilfe" (Unterlehrer) mit "Vorzug".

Die zu jener Zeit bestehenden Präparandien hatten eine sehr primitive Einrichtung und Gestaltung. Eigene, nur für die Anstalt bestimmte Lehrpersonen gab es nicht. Die Lehrpersonen, die an der Haupt- und Realschule in Bregenz wirkten, besorgten auch den Unterricht an der Lehrerbildungsanstalt. Die Fächer waren: Rechtschreiben, Methode, Religion, Sprache, Naturgeschichte & Geographie, Rechnen, Stenographie, Gesang, Landwirtschaft (Gesang und Landwirtschaft wurden von demselben Lehrer unterrichtet), Schreiben, Lesen. Meinen Eltern verursachte mein Studium in Bregenz kaum nennenswerte Auslagen, denn ich hatte sogenannte "Kosttage".

Ab Martini 1862 folgte meine Tätigkeit im Lehramte, und zwar als Schulgehilfe in Watzenegg. Ab 1863 unterrichtete ich als selbständiger Lehrer in Watzenegg (drei Jahre lang). Im Sommer 1863 legte ich die Lehrerprüfung in Bregenz mit "sehr gut" ab. Damit begnügte ich mich aber nicht; ich wollte nicht bloß Bergschullehrer mit 90 Gulden Gehalt bleiben, sondern mir den Weg zu etwas Besserem bahnen. Daher widmete ich mich mit großem Eifer dem Privatstudium.

1864 unterzog ich mich den Prüfungen als Hauptschullehrer über beide Jahrgänge der sogenannten "k. k. Musterhauptschule" in Innsbruck. (Wanderung teilweise zu Fuß nach Innsbruck, der Aufenthalt dort dauerte drei Wochen). Die einzige schwache Note war die über das Orgelspiel. Damit war mein Studium jedoch noch nicht beendet, ich wollte weiterkommen und Realschullehrer werden, und tatsächlich studierte ich in den nächsten Jahren in diese Richtung weiter (Selbststudium). Doch spätere Verordnungen verlangten ein Universitätsstudium für diesen Beruf. Meine Hoffnungen fielen somit ins Wasser. Immerhin hatte ich mir durch mein Weiterstudieren eine Weiterbildung erworben, die mir im späteren Leben sehr nützlich war. Im Jahre 1866 erfolgte meine Ernennung zum Lehrer an der Hauptschule in Markt.

1867 trat der vorarlbergische Viehversicherungsverein ins Leben. Ich war 1867 bis 1891 (also bis zu meiner Wahl in den Reichsrat) als Agent des Vereins tätig. Diese Arbeit brachte viel Gelegenheiten zum Verkehr mit der bäuerlichen Bevölkerung und zum Kennenlernen ihrer Bedürfnisse. Der Nebenverdienst war mir sehr willkommen. Um 1878 herum übernahm ich auch die Agentur der Feuerversicherungsgesellschaft Riunione Ad. di Sicurta in Triest und besorgte dieselbe bis in die Mitte der 1890-er Jahre sowie verschiedene andere Nebenbeschäftigungen. In den 1870-er und 1880-er Jahren nahm die politische Tätigkeit immer größere Ausdehnung an: Im Gemeindeausschuß, im Landtag und Landesausschuß (besonders im letzteren war viel Arbeit zu leisten wie z.B. die Überwachung des Rechnungswesens aller Gemeinden des Landes, die Abfassung von Gesetzen, das Referat für Beschwerdesachen), sowie im Vereinswesen, das mich ebenfalls stark beanspruchte. Was meine Tätigkeit als Lehrer betrifft, hatte ich nicht gerade ein glückliches Temperament zum Lehrfache, es fehlte mir vielfach die für einen Lehrer so unbedingt notwendige Geduld und Ruhe. Ich war aber kein Tyrann.

1867 nahm ich - hauptsächlich über Betreiben des Lehrers Wendelin Rädler von Kennelbach, dem späteren Oberlehrer von Wolfurt - am ersten österreichischen Lehrertag in Wien teil. Weitere Teilnehmer aus Vorarlberg waren Wendelin Rädler, Reallehrer Kinz von Dornbirn und Reallehrer Zimmerl von Bregenz sowie Lehrer Hagspiel von Riefensberg. Von dem dreitägigen Lehrertag will ich nur erwähnen, daß derselbe in radikalster Weise verlief, daß derselbe in uns einen Widerwillen erregte und in uns die entgegengesetzten Wirkungen hervorbrachte, als die Veranstalter desselben beabsichtigten und wünschten... Von Wien gings nach Innsbruck, wo in der anschließenden Woche die letzte deutsche allgemeine Katholikenversammlung auf österreichischem Boden stattfand. War das ein Unterschied zwischen Wien und Innsbruck! Dort radikales Hetzgeschrei, hier die auserlesenste Schar gewiegter deutscher Männer, die mit apostolischer Kraft und heiligem Eifer für das Höchste und Heiligste eintraten. Innsbruck war ein Balsam auf die bitteren, schmerzvollen Enttäuschungen in Wien, und das Echo der Innsbrucker Versammlung verlor sich nicht mehr aus meiner Erinnerung und dürfte auch Einfluß und Eindruck auf mein späteres Denken und Wirken genommen haben.

Die Rückreise von Innsbruck führte uns auf einer großen Fußpartie über Telfs, Mieming und das Lechtal bis Sonthofen, von dort gelangten wir über Riefensberg nach Hause. Am ersten Tag marschierten wir von morgens drei oder vier Uhr nachts bis elf Uhr. In dem nach Eintritt der Nacht zu durchkreuzenden Heiterbachwalde (?) begannen wir drei -Rädler, Hagspiel und ich -Redeübungen aus dem Stegreif, überzeugt und willens, daß wir nach den gewonnenen Eindrücken in Wien und Innsbruck fortan doch mehr ins öffentliche Leben einzugreifen uns berufen fühlen werden.

Das erste war, daß wir bald nach unserer Rückkehr in Verkehr mit anderen Lehrern gleicher Gesinnung traten, darunter Kinz, Jochum, Matt, Ratz usw., gemeinsam Statuten für einen zu gründenden Lehrerverein entwarfen und Vorbereitungen hiezu trafen. Anfang 1868 wurde dann der Wortlaut der Statuten festgesetzt. Das vorbereitende Komitee wollte einfach einen "Lehrerverein" gründen, abgesehen von Parteitendenzen. Bei der allgemeinen Versammlung im "Kreuz" in Dornbirn traten Kohler und Rädler mit dem Antrag hervor, der Verein solle den Namen "katholisch-pädagogischer Verein" erhalten und sie drangen auch mit diesem Antrag durch. Der Verein hielt mehrere Versammlungen und Lehrerkonferenzen in verschiedenen Orten Vorarlbergs ab. Reallehrer Kinz wurde Präsident des Vereins, ich wurde zum Schriftführer gewählt.

Mittlerweile hatte sich das politische Leben in Vorarlberg allgemeiner entwickelt und eine Scheidung der Geister begonnen. Die Organisation der Parteien wurde eingeleitet. So konnte auch die Gründung eines liberalen Lehrervereines nicht verhindert werden. Nach dem Inslebentreten der neuen Schulgesetze wandten sich bei der neuen Zeitströmung und aus anderen Gründen manche Lehrer vom katholisch-pädagogischen Verein ab und dem liberalen Lehrerverein zu. Der katholisch-pädagogische Verein stellte dann seine Tätigkeit ein und in einer späteren Zeit, nach Eintritt neuer Verhältnisse, und nachdem auch in der vorarlbergischen Lehrerschaft der katholische Sinn und Geist wieder zu neuem Leben gelangte, kam es zur Gründung eines neuen katholischen Lehrervereins. Ich habe damals und auch später die Interessen des Vorarlberger Lehrerstandes vertreten: beim Zustandekommen der neuen Vorarlberger Schulgesetze als Berichterstatter und bei den diesbezüglichen Verhandlungen mit der Regierung (17).

Den Hauptpunkt der Landtagsverhandlungen 1899 bildete die Reform der Schulgesetzgebung. Als 1870 die Wahlen eine Dreiviertelsmajorität für die konservative Partei ergeben hatten, war die Reform der Schulgesetzgebung als eine der wichtigsten Arbeiten in das Programm aufgenommen worden. Diese Reform sollte eine gründliche, eine außer dem Rahmen des Reichsvolkschulgesetzes stehende sein. Aber die dahin gerichteten Bestrebungen blieben ohne Erfolg. Die Führer des Landtages in den 1870er und 1880er Jahren blieben aber doch auf dem einmal angenommenen prinzipiellen Standpukte stehen, gingen auf eine teilweise Änderung der Schulgesetze nicht ein, sondern wollten eine Zeit, die der gründlichen Reform der Schulgesetze günstiger sich gestalten würde, abwarten. Als ich 1882 in den Landtag gelangte, trug ich diesem Standpunkte der Partei vollkommen Rechnung, und wenn ich auch oft Gelegenheit fand, auf die so mißliche finanzielle Lage der Lehrer hinzuweisen, so vermied ich es, Anträge auf Änderung der Schulgesetze einzubringen und zwar auch aus dem Grunde, weil ich als Lehrer mich nicht berufen fühlte, gegen einen von der Konservativen Partei zur Geltung gebrachten Grundsatz aufzutreten. Der Landtag nahm sonach hinsichtlich der Lehrerbesoldung zu Palliativmitteln Zuflucht und behalf sich mit Gewährung von Subventionen an Gemeinden und Lehrern... Diese Mittel reichten aber nicht aus. Mehr und mehr drängte sich allgemein die Erkenntnis auf, daß die Schulgesetzrefom unausbleiblich geworden sei (18).

 

Fundamentalisten und Realpolitiker

Martin Thurnher und die konservative Partei

 

So kräftig und unnachgiebig die Parteiführung nach außen hin auftrat, es wäre falsch, die Politik Johannes Thurnhers, Johann Kohlers und Pfarrer Berchtolds gleichzusetzen mit den Ansichten aller Konservativen in Vorarlberg. Von Anfang an gab es auch Opposition innerhalb der Partei, zum Teil in grundsätzlichen Fragen. Bereits 1871 meinte der angesehene Bregenzerwälder Steuereinnehmer Josef Ratz, die Konservativen seien mit einigen ihrer Forderungen im Landtag zu weit gegangen. Für ihn war Politik die Kunst des Möglichen: "Nottuendes Erreichbares mit Ausdauer anstreben... Minder Nottuendes Unerreichbares aber nicht anstreben, ist ein Gesetz politischer Klugheit" (19).

Gemeinsam mit fünf weiteren Bregenzerwälder Wahlmännern stellte Josef Ratz deshalb eine eigene Kandidatenliste für die Landtagswahl von 1871 auf. Neben Dr. Andreas Fetz, einem Juristen von Rang, ließen sich auch die Gemeidevorsteher von Schwarzach, Möggers, Lochau, Lingenau und Bizau aufstellen. Diesen Männern schloß sich auch Dr. Samuel Jenny aus Hard mit vier weiteren Wahlmännern an (20). Josef Ratz und seinen Gesinnungsgenossen gelang es jedoch nicht, sich gegen die scharfe Agitation der Radikalen unter Johannes Thurnher bzw. gegen das "Vorarlberger Volksblatt" durchzusetzen.

Einen weiteren Versuch, die Vorherrschaft Johannes Thurnhers zu brechen, unternahm der Dornbirner Fabrikantensohn Adolf Rhomberg 1880. Die von ihm gegründete "Dornbirner Zeitung" erlitt jedoch Schiffbruch, weil es Johannes Thurnher und dem "Vorarlberger Volksblatt" gelang, das Unternehmen Adolf Rhombergs als Teil einer "mittelparteilichen Strömung" zu diskreditieren, was bedeuten sollte, daß der reiche Adolf Rhomberg damit im Grunde nur den Liberalen bzw. den Angehörigen seiner eigenen, d.h. vermögenden, Gesellschaftsschicht diente (21).

Als Adolf Rhomberg 1882 wieder versuchte, in den Landtag zu kommen, mißlang auch dies aufgrund des Widerstandes des Landeswahlkomitees unter der Führung Johannes Thurnhers (22).

Erst der dritte Versuch Adolf Rhombergs, der innerparteilichen Opposition gegen Johannes Thurnher mehr Geltung zu verschaffen und sich 1884 in den Landtag wählen zu lassen, gelang. Freilich, ohne kräftige Unterstützung des Dornbirner Pfarrers Gebhard Fink wäre auch dies kaum möglich gewesen. Pfarrer Fink hatte sich von der Kanzel aus mit Nachdruck für Adolf Rhomberg eingesetzt.

Dies sowie das persönliche Ansehen Adolf Rhombergs in Dornbirn bewirkten, daß die Dornbirner Konservativen fast geschlossen für Rhomberg stimmten. Dabei kam es zu tumultartigen Unmutsäußerungen gegen Johannes Thurnher. Die Aufregung war so groß, daß Johannes Thurnher lediglich durch das Dazwischentreten des Pfarrers Fink vor Tätlichkeiten bewahrt werden konnte.

Dies alles aber vermochte Johannes Thurnher nicht zu beirren. Er ignorierte die Tatsache, daß Adolf Rhomberg durch eine demokratisch durchgeführte Wahl in den Landtag gelangt war. Er setzte durch, daß Rhomberg nicht in den konservativen Landtagsklub aufgenommen wurde, weil seine Wahl nicht im Einverständnis und über Vorschlag des Landeswahlkomitees erfolgt war (23).

Auch im Hinblick auf die Landtagskandidaten anderer Orte Vorarlbergs war das unter der Leitung Johannes Thurnhers stehende Zentralwahlkomitee nicht zimperlich. Aufgrund der Auslese dieses Komitees konnten große Landgemeinden wie Götzis, Hohenems und Lustenau keinen Vertreter in den Landtag entsenden; statt dessen wurden gefolgstreue Kandidaten aus kleinen Gemeinden nominiert.

Die beherrschende Rolle Johannes Thurnhers in der Landespartei ist vor allem damit zu erklären, daß er als der große Organisator der konservativen Bewegung in Vorarlberg galt. Man glaubte, die Partei würde ohne Johannes Thurnher zur Bedeutungslosigkeit absinken.

Johannes Thurnher hatte in der Tat bei der Gründung der konservativen Kasinos eine entscheidende Rolle gespielt und den katholisch-politischen Volksverein als Landesorganisation der Konservativen aufgebaut. Er hatte der noch jungen Bewegung ihre Organisationsform gegeben, er hatte mit seiner Kompromißlosigkeit dem Geist der Partei seinen Stempel aufgedrückt.

Johannes Thurnher hat die konservative Partei stark gemacht, dem Land Vorarlberg jedoch geschadet. Seine Politik bewirkte, daß das Land von 1870 bis 1890 in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht auf der Stelle trat. Die Regierung in Wien zeigte nur wenig Bereitschaft, ein Land in größerem Stil zu fördern, dessen größte Partei in so grundsätzlichen Fragen wie der Schul- oder Ehegesetzgebung eine Obstruktionspolitik betrieb. Erst ab 1890, so lesen wir in den "Notizen" Martin Thurnhers, "gestaltete sich die Sache anders ... die Unterstützungen des Staates für Straßen-, Wasser- und Eisenbahnbauten wie auch für andere Zwecke und Einrichtungen stiegen in den nächsten zwei Jahrzehnten auf Summen, die auf viele Millionen gehen" (24).

 

"Widerstand gegen Adolf Rhomberg"

Aus den "Notizen" Martin Thurnhers

 

Der Abgeordnete des Marktes Dornbirn Albert Rhomberg legte 1882 sein Mandat aus Gesundheitsrücksichten zurück. Die Dornbirner wären nun, wenn es auf sie allein angekommen wäre, wohl darauf verfallen, wieder einen Rhomberg zu wählen, nämlich den späteren Landeshauptmann Adolf Rhomberg, der seit 1867 bereits dem Gemeindeausschusse von Dornbirn angehörte, an den Versammlungen regen Anteil nahm und sich durch Spenden für öffentliche Zwecke, wie zum Beispiel für den Bau der Bregenzerwälderstraße, bemerkbar machte.

Adolf Rhomberg hatte sich aber in den Jahren 1879 und 1880 mit der katholisch-konservativen Landespartei in Widerspruch und Konflikt gesetzt, und zwar durch die Gründung der Dornbirner Zeitung" unter dem vom "Volksblatt" als Redakteur desselben entlassenen Rudolf Freiherr von Manndorff. In dieser Gründung befürchtete die Parteileitung wohl mit Recht die Quelle spaterer Spaltungen in der Partei.

Infolge dieser Verhältnisse entschied sich das Landes-Wahlkomitee, von der Aufstellung der Kandidatur Adolf Rhomberg abzusehen und ich wurde als Kandidat aufgestellt und auch Adolf Rhomberg und die Dornbirner erklärten sich damit einverstanden, nachdem ich ja die Anschauungen und Wünsche der Wähler schon durch mehr als ein Dutzend Jahre in der Presse und in der Gemeindestube energisch vertreten hatte.

Adolf Rhomberg fügte sich nicht nur dem damaligen Votum des Landes-Wahlkomitees, sondern nahm an den Wahlarbeiten regen Anteil. Die Wahl ging ruhig vor sich. Die Liberalen enthielten sich der Wahl und ich wurde mit über 400 Stimmen einhellig am 7. September 1882 im Alter von 37 Jahren in den Landtag gewählt, dem ich dann ununterbrochen bis zum Frühjahr 1919, also durch nahezu 37 Jahre angehörte, eine Zeitdauer, die seit Aufnahme des parlamentarischen Lebens im Jahre 1861 kein anderer Abgeordneter des Landes aufzuweisen hat (25).

1884 gab es allgemeine Neuwahlen für den Landtag. In Dornbirn waren nun zwei Abgeordnete zu wählen. Hinsichtlich des einen Mandats gab es keinen Streit. Nachdem ich bereits zwei Jahre lang das Amt mit möglichst großem Fleiß besorgt und für Dornbirn ein zweites Mandat erwirkt hatte, war mein Mandat sicher. Anders verhielt es sich mit dem zweiten Mandat. Die Dornbirner wollten und verlangten Adolf Rhomberg zum Kandidaten. Das Landes-Wahlkomitee aber war der Anschauung, die Ursachen und Gründe, die im Jahre 1882 zur Nichtaufstellung Adolfs Anlaß boten, seien noch nicht behoben und wollte von dessen Kandidatur nichts wissen, sondern stellte vielmehr den damaligen Reichsratsabgeordneten Dr. med. Josef Anton Ölz von Haselstauden, der von 1870 bis 1884 den Bezirk Bregenz-Bregenzerwald im Landtag und das Land im Reichsrat vertreten hatte, als zweiten Kandidaten in Dornbirn auf. Der Wahlkampf war infolgedessen nicht nur wie in früheren Jahren zwischen Konservativen und Liberalen ein intensiver, sondern auch im Lager der Konservativen ein erbitterter.

Ein von Dr. Bernhard von Florencourt unterm 18. Juli verfaßtes, und an die Wähler verteiltes Memorandum zur Landtagswahl in Dornbirn, in dem auf acht Druckseiten die Gründe aufgeführt wurden, die das Landes-Wahlkomitee veranlassen müßten, für Dornbirn neben Lehrer Martin Thurnher Herrn Dr. Ölz als Kandidaten vorzuschlagen, welche dasselbe veranlaßten, für diesmal von der Aufstellung Adolf Rhombergs abzusehen, welche Herrn Adolf Rhomberg veranlassen sollten, unter diesen Umständen seine Kandidatur fallenzulassen und ebenfalls für Dr. Ölz einzustehen, welche die konservativen Wähler Dornbirns veranlassen müßten, für den Fall, daß Adolf Rhomberg zu Gunsten des Dr. Ölz zu verzichten sich nicht entschließen könnte, dennoch für Dr. Ölz, und nicht für Adolf Rhomberg zu stimmen, war nicht geeignet, die Erregung bei den konservativen Wählern, in die sie schon gelangt waren, zu beseitigen. Die Erregung steigerte sich, insbesondere infolge der Ausführungen des Memorandums auf Seite 7, in denen die eventuelle Wahl Adolfs als nach Weihrauch schmeckend dargestellt wird, "den die Israeliten vor dem goldenen Kalbe anzündeten, während Moses (gemeint war Dr. Ölz) ohne Geld, aber mit den Gesetzestafeln und mit wunderbarer Heilkraft ausgerüstet, vom Berge niederstieg." Bei dieser Stimmung der konservativen Wähler war mit einem Erfolg des Dr. Ölz nicht zu rechnen. Es erhielt derselbe auch nur wenige Stimmen. Diese kamen von Wählern einiger Bergparzellen, zum Beispiel Kehlegg, die dem Rufe des Landes-Wahlkomitees Folge leisteten, während die überwältigende Mehrheit der konservativen Wähler in öffentlicher Wahl die Stimmen auf Adolf Rhomberg abgaben und dieser neben mir gewählt wurde.

Der Unwille der Mehrheit der Konservativen Dornbirns richtete sich damals in ziemlich derber Weise gegen den Obmann des Landes-Wahlkomitees Johannes Thurnher, während die Stimmung im Lande im allgemeinen ihm und dem Landeskomitee mehr oder minder Recht gab; so kam ich zum zweiten und Adolf Rhomberg zum erstenmale in den Landtag, wo wir auch nebeneinander verblieben, bis im Frühjahr 1919 (am 26. April) nach dem erfolgten Umsturze und dem Zwischenakte der provisorischen Landesversammlung Neuwahlen nach dem Proporzsystem erfolgten und damit das Ende der alten Landtagstätigkeit endgültig eintrat.

Adolf Rhomberg wurde aber die ersten Jahre seiner Landtagstätigkeit in den konservativen Landtagsklub nicht aufgenommen, weil er nach Anschauung der Majorität nicht in legaler Weise, das heißt nicht im Einverständnis und über Vorschlag des Landes-Wahlkomitees in den Landtag gelangt war. Erst sechs Jahre später, bei den Neuwahlen 1890 hörte der Widerstand gegen Adolf Rhomberg auf, da inzwischen andere Begebenheiten das Augenmerk der Bevölkerung auf sich gelenkt hatten und die Vorgänge des Jahres 1884 damit in Vergessenheit geraten waren (26).


Geschlossene Gesellschaft oder Parteiendemokratie?

Weichenstellungen im 19. Jahrhundert

 

Zieht man Bilanz über die Geschichte der konservativen Partei Vorarlbergs in den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens, so fällt auf, daß die Fundamentalisten die Vorherrschaft in der Partei innehatten. Vielleicht hängt dies damit zusammen, daß seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch innerhalb der Kirche im Gebiet der Diözese Brixen die konservative "Brixner Schule" gegenüber der eher gemäßigten, liberaleren "Konstanzer Schule" die Oberhand behielt. Am anschaulichsten wird der Wandel von Franz Michael Felder geschildert, der den Pfarrer von Schoppernau, Alois Stockmayr, als verständnisvollen und in politischen Fragen aufgeschlossenen Geistlichen schildert, während dessen Nachfolger Georg Rüscher - ganz im neubrixnerischen Sinne - seine Gemeinde mit fast alttestamentarischer Strenge zu führen suchte (27).

Die Kirche wurde in Vorarlberg zur Obrigkeit. Und in der Tat war es das Hauptziel der konservativen Parteiführung in den Jahren von 1870 bis 1890, der Kirche wieder jene politischen Funktionen zurückzugeben, die sie hatte, als das Konkordat von 1855 noch in Kraft war. Die Kirche bot in einer Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen ein geistiges Koordinatensystem, an dem sich der irrende Mensch orientieren sollte. Sie bot kraft ihrer Autorität Hilfe und Sicherheit in einer Welt, die durch Wissenschaft und Aufklärung in Unsicherheit und Verwirrung geraten war.

Die katholisch-konservative Partei empfand sich vielfach als weltlicher Arm der Kirche. Dementsprechend war, wie das "Vorarlberger Volksblatt" schrieb, "der Liberalismus ein Irrtum, eine politische Verkehrtheit, die dem Land keinen Segen bringt", von der "Umsturzpartei" der Sozialdemokratie gar nicht zu reden (28). In derselben Zeitung wird festgestellt - es handelte sich um den Wahlaufruf der konservativen Partei an die Vorarlberger:

"Ihr fandet an dem von euch gewählten Landtage ebenso einen Beschützer der religiösen Interessen und der öffentlichen Sittlichkeit, wie einen emsigen Arbeiter am materiellen Wohle der Gemeinden und des ganzen Landes."

In den ersten Jahrzehnten des Bestehens des parlamentarischen Systems neuer Prägung bildeten sich politische und gesellschaftliche Verhaltensformen heraus, die weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkten, zum Teil bis ins Jahr 1938.

Die politischen Vereine auf konservativer und auf gegnerischer Seite erfüllten das Bedürfnis nach "Heimat" im sozialen Sinn. Sie waren eine wichtige Stätte der Information und Kommunikation. In den Vereinen bildete sich eine Gruppenidentität, die im politischen Kampf von großer Bedeutung war. Ebenso wie die Kirche mehr als bloß religiöse Inhalte vermittelte und die psychische Disposition, Autorität an sich anzuerkennen, förderte, wirkten auch die Vereine als gesellschaftsbildende Kraft. Hier wurde jene Kampfesstimmung verbreitet, die von den Wortführern des politischen Streites vorbereitet wurde. Die Vereine konnten in Vorarlberg eine große Wirksamkeit entfalten. Doch dort, wo das soziale Geflecht besonders eng ist, wird nicht nur das Bedürfnis nach Kommunikation, Geborgenheit und sozialer Identität befriedigt: Das bessere Funktionieren sozialer Kontrolle führt auch zu Anpassungsdruck und damit zu Vorurteilen gegenüber Andersdenkenden.

Der Anspruch der Parteien, im Besitz der Wahrheit zu sein, die Tendenz, "Festigkeit im Glauben" mit Festigkeit in der Politik gleichzusetzen, brachte es letzten Endes mit sich, daß einer Grundvoraussetzung der Demokratie der Boden entzogen wurde: der Fähigkeit zum politischen Kompromiß und zur Toleranz. Selbstverständlich - dies sei hier nochmals betont - darf die Entwicklung in Vorarlberg nicht von der großräumigen Entwicklung isoliert betrachtet werden.

Parteilichkeit als Massenphänomen bedeutete auch: sich religiös oder ethnisch abzugrenzen. Das erste gedruckte Dokument der konservativen Bewegung ist deshalb nicht zufällig auch ein Dokument der religiösen Unduldsamkeit. Es ist gegen jene Protestanten gerichtet, die sich im Zuge der Neugründung von Fabriken in Vorarlberg niedergelassen hatten. Auf einem von Dr. Josef (Anton) Ölz unterzeichneten Plakat, das im April 1861 an verschiedenen Orten in Vorarlberg angebracht wurde, forderte Ölz die Abgeordneten des Vorarlberger Landtages auf, "sich bei Seiner Apostolischen Majestät eiligst und kräftigst dahin zu verwenden, daß dem Lande Vorarlberg die Glaubenseinheit erhalten bleibe und die Protestanten von der Ansässigmachung ausgeschlossen bleiben" (29).

Ein Grund für diesen Appell war die Angst, die eingewanderten Protestanten - zum großen Teil waren es Menschen alemannischer bzw. schweizerischer Herkunft - könnten die alteingesessene Bevölkerung wirtschaftlich schädigen und politisch zu viel Einfluß erringen. Das Echo auf diese Petition, die zudem in den meisten Gemeinden von der Kanzel aus verkündet wurde, war damals allerdings verhältnismäßig gering. Lediglich in den Landgemeinden, wo der Klerus einen großen Einfluß hatte, stieß Ölz auf die erwartete Zustimmung. In den Städten und in Dornbirn jedoch konnte die Aktion nur wenig Unterschriften verzeichnen (30).

Beispiele für Versuche ethnischer Ausgrenzung sind zahlreich. Drei davon sollen hier erwähnt werden. In der Nummer 16 des "Landboten für Vorarlberg" vom 5. August 1887 erschien ein Artikel, der für den Antisemitismus jener Zeit typisch ist, und zwar auch für Gebiete, in welchen das Judentum zahlenmäßig keine allzu große Rolle spielte. Der Artikel nimmt eine "gewisse Klasse von Geldkönigen und Schmarotzern" aufs Korn, "die so eigentlich in vielfacher Beziehung der Ruin des Volkes ... und des Staates werden können. Es ist das nach Knoblauch riechende Judentum, das sich überall breitmacht, überall sich einnistet, überall rüffelt und schnüffelt und rüttelt und schüttelt". Diese Nummer des "Landboten" wurde übrigens beschlagnahmt - wie überhaupt die k. u. k. Behörden öfters als Schutzmacht von Minderheiten auftraten (31).

Beispiel zwei: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen zahlreiche welsche Arbeiter ins Land, die von den Fabrikanten aus dem Trentino angeworben wurden. Sie trugen wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung Vorarlbergs bei. Sie boten den Fabrikanten aufgrund ihrer geringeren Ansprüche allerdings auch die Möglichkeit, das allgemeine Lohnniveau zu drücken. Martin Thurnher machte sich im Vorarlberger Landtag zum Sprecher der Vorarlberger Arbeitnehmer; als Berichterstatter des diesbezüglichen Ausschusses im Vorarlberger Landtag formulierte er eine Forderung, die vielleicht charakteristisch ist für jene Zeit. Zum Schutz gegen die Überschwemmung des Landes durch Welsche sollten nämlich die italienischsprachigen Arbeiter mit einer Steuer belegt werden: eine Maßnahme, die das soziale Elend der welschen Arbeiterfamilien in Vorarlberg nur vergrößert hätte.

Bei der Ablehnung der Italiener spielten sicher nicht nur soziale Gründe eine Rolle, sondern auch rassistische Vorstellungen. So stellte auf der 16. Generalversammlung des Christlich-sozialen Volksvereins für Vorarlberg - unser drittes Beispiel - der nachmalige Vorarlberger Landeshauptmann und Autor der ständestaatlichen Verfassung des Jahres 1934, Dr. Otto Ender, die These auf, "für die körperlichen und geistigen Eigenschaften ist es nicht gut, wenn Romanen und Germanen zusammenheiraten, die Nachkommen sind physisch und moralisch gefährdet" (32).

Eine Bilanz über die Entwicklung des Demokratie-Gedankens in den letzten Jahrzehnten der Monarchie in Vorarlberg fällt negativ aus. Die Hauptziele maßgeblicher Führer der konservativen Partei standen in diametralem Gegensatz zu den Idealen der Aufklärung, also jener Bewegung, welcher die moderne demokratische und pluralistische Gesellschaft ihre stärksten Impulse verdankt. Am Beginn der konservativen Bewegung Vorarlbergs stand das Ideal einer religiös geschlossenen Gesellschaft. Sie ließ sich in Vorarlberg zwar ebensowenig verwirklichen wie eine ethnisch geschlossene Gesellschaft; im politischen und gesellschaftlichen Alltag spielten beide Vorstellungen jedoch eine wichtige Rolle.

Das "Ideal" einer parteipolitsch geschlossenen Gesellschaft konnte zwar ebenfalls nicht erreicht werden - wenn auch die liberale Landtagsfraktion im Jahre 1909 auf zwei Mandatare zusammenschmolz -, der Anspruch der konservativen Partei, für das ganze Land zu sprechen, blieb aber stets aufrecht. Die Abwehr von Andersartigkeit, sei sie religiös, ethnisch oder weltanschaulich begründet, setzte sich als Leitbild mehr und mehr durch.

Bei der Entwicklung der Ständestaatsidee hat dieses Leitbild dann wohl seinen deutlichsten Niederschlag gefunden; nach dem Februar 1934 sollte es auch in Vorarlberg in die Praxis umgesetzt werden. Am Ende stand die kampflose Kapitulation vor den Nationalsozialisten.

 

"Nicht päpstlicher als der Papst"

Aus den "Notizen" Martin Thurnhers

 

Als Berichterstatter fungierte ich im Landtag 1885 über die Besteuerung der Auswärtigen... Das Gesetz über die Besteuerung der Auswärtigen sollte ein Schutz gegen die Überschwemmung des Landes von Welschen werden ... Leider erhielt der diesbezügliche von mir verfaßte Gesetzentwurf wegen Kurzsichtigkeit der Wiener Regierung und deren Courtoisie gegen Italiener und der Rücksicht auf die Fabrikanten die kaiserliche Sanktion nicht (33).

Die Bistumsfrage brachte eine große Gefahr für die Einigkeit der konservativ-katholischen Partei. Dr. Bernhard von Florencourt hatte 1886 die päpstliche Bulle "Ex imposito Nobis" vom 9. 5. 1818 aufgestöbert und als Vereinsgabe des katholisch-politischen Volksvereins veröffentlicht. Da die konservative Partei in Vorarlberg seit ihrer Gründung in jeder Richtung für die Autonomie des Landes eintrat, fand Florencourt ein offenes Feld vor sowohl bei den Parteiführern Johannes Thurnher und Johann Kohler sowie beim Großteil der Geistlichkeit...

In der vierten Sitzung des Landtages vom 28. November wurde eine von mir als Vorstand des Kasinos Dornbirn unterfertigte Resolution dieses Vereins dem Landtage zur Kenntnis gebracht, in der sich das Kasino für die Errichtung eines eigenen Bistums aussprach und die Regelung dieser Angelegenheit vertrauensvoll von den kompetenten kirchlichen und staatlichen Behörden erwartete. Der Bischof bezeichnete die Verhandlung dieser Frage in den Kasinos als dieselbe "auf die Gasse hinausgeworfen" ... Der Bistumsstreit hatte schlimme Folgen und brachte Verwirrung in den Reihen der sonst so fest gefügten Partei mit sich. Die bisher anerkannten Parteiführer Johannes Thurnher und Johann Kohler traten als Vorstand des so blühenden katholischen Volksvereins zurück, infolgedessen dieser seine Tätigkeit vollständig einstellte, weil sich niemand im Lande infolge der Desavouierung desselben durch den Bischof anstelle der ausgetretenen Führer die Leitung desselben zu übernehmen herbeiließ. Die zunächst in Betracht kommenden Personen Abgeordneter Franz Schneider und ich lehnten entschieden ab. Erst in den 1890-er Jahren wurde anstelle des katholisch-politischen Volksvereins ein christlich-sozialer Volksverein gegründet..., der heute noch besteht (34).

Im Lande selbst wurden nun alle möglichen Versuche gemacht, die eingerissene Zerfahrenheit in der Partei wieder zu beseitigen, was aber erst 1890 einigermaßen gelang. Es wurde ein "Dreizehnerausschuß" eingesetzt, dessen Obmann ich wurde. Zu meinem Stellvertreter wurde Dr. Walter bestimmt. In meiner boshaften Art bezeichnete ich diesen Ausschuß als "Wohlfahrtsausschuß" und ich wäre demnach der Robespierre desselben gewesen. Ich und Dr. Walter wurden mit den mit dem Bischof durchzuführenden Verhandlungen betraut ... Der "Dreizehnerausschuß" bildete dann eine Art Parteileitung, und wenn auch die Parteitätigkeit in den nächsten Jahren sehr nachließ, gelang es doch, die Partei intakt zu erhalten und die Zerfahrenheit in derselben ziemlich zu beseitigen.

Die Nachwehen des Bistumsstreites zeigten sich bei den Landtagswahlen 1890 indessen noch in der Weise, daß seitens der schärferen Parteirichtung dahin getrachtet wurde, die fähigeren Elemente in der Partei dahin zu beeinflussen, sich nicht als Kandidaten aufstellen zu lassen, um sie dadurch weniger kräftig zu gestalten und bei einem Versagen desselben (des Landtages; Anm. L.H.) die Folgen des bischöflichen Vorgehens schärfer hervortreten zu lassen. Unter denen, die sich dieser Anschauung unterwarfen, war Johann Kohler, nicht aber Johannes Thurnher.

Ich hielt es mit dem letzteren. Ich hatte wohl, wie aus der früheren Darstellung hervorgeht, in der Bistumsfrage eifrig mitgemacht, mir aber die Finger dabei nicht verbrannt, getreu dem Grundsatze, man müsse nicht päpstlicher sein als der Papst und nicht kaiserlicher als der Kaiser. Auch hatte ich das Wirken im Landtage recht lieb gewonnen und wollte es fortsetzen. In einer Wählerversammlung, die ich als Obmann des "Wohlfahrtsausschusses" einberief, wurde ich zum Obmann des Landes-Wahlkomitees gewählt und hatte damit die Parteiführung für die nächsten sechs Jahre übernommen. Fortan beschäftigte sich der Vorarlberger Landtag nicht mehr mit dem Bistumsstreit...

Die Hoffnung der Extremsten, der neue Landtag sollte seiner Aufgabe nicht gewachsen sein, ging nicht in Erfüllung, sondern gerade in dieser Periode wurde begonnen, in größerem Ausmaß für notwendige Bauten und Institutionen im Lande vorzusorgen, als es in früheren Jahren möglich war...

Die Neuwahl in den Reichsrat fand im März 1891 statt. Johannes Thurnher lehnte die Wiederwahl aus Familienrücksichten ab, nachdem er das Mandat durch 17 Jahre innegehabt hatte. Der 80-jährige Dr. med. Josef Anton Ölz hätte die Wahl gerne wieder angenommen, das Landes-Wahlkomitee hatte auch die Absicht, denselben auch wieder aufzustellen und anstelle des Johannes Thurnher wurde ich in Aussicht genommen. Ich hatte gegen die Annahme des Mandats Bedenken ... wegen andauernder Kränklichkeit meiner Frau. Das Landes-Wahlkomitee war noch zu keinem Entschlusse gekommen, da meldete sich eine Art Nebenregierung unter Josef Ölz, Dr. Schmadl, Wegeier usw., wohl die gleichen, die bei den Landtagswahlen im Vorjahre gerne gesehen hätten, daß der Landtag weniger tatkräftige Männer erhalten hätte und sich nun schon im ersten Jahre getäuscht fanden, beim Landeskomitee mit dem Vorschlage, es wollen als Kandidaten für den Reichsrat der frühere Abgeordnete Johann Kohler, den sie mittlerweile zur Annahme beredet hatten, und der Landtagsabgeordnete Fink aufgestellt werden. In einer in Schwarzach zusammengetretenen und aus allen Teilen des Landes sehr stark besuchten Versammlung wurde nun mit erdrückender Majorität Dr. Ölz fallengelassen und an seine Stelle Kohler aufgestellt, meine Kandidatur aber aufrechterhalten. Die Versammlungsveranlasser Josef Ölz etc. hatten Kohler für den oberen Bezirk, für den unteren Bezirk aber (Jodok) Fink vorgeschlagen, den Bezirk, der bisher von Dr. Ölz vertreten war, und wollten auch dann noch, als die Versammlung sich für die Kandidatur Kohlers entschied, denselben für den "oberen" Bezirk aufgestellt wissen. Ich aber gab die feste und bestimmte Erklärung ab, daß ich "über die Leiche des Dr. Ölz nicht in den Reichsrat treten werde". So wurde dann ich der Nachfolger des Johannes Thurnher und Johann Kohler der Nachfolger des Dr. Ölz, welch letzterer noch etwa drei Jahre lebte und sich bis zu seinem Tode seinem ärztlichen Berufe widmete (35).

Die Tatsache, daß die katholisch-konservative Partei den Bistumsstreit ohne Machteinbuße überstehen konnte und der Übergang zur christlich-sozialen Partei ohne nennenswerte Schwierigkeiten vor sich ging, zeigt, wie gefestigt die Position der Konservativen in Vorarlberg war. Daß gerade Dornbirn zum Hauptschauplatz der politischen Kämpfe in Vorarlberg wurde, war kein Zufall. Denn es war ein Dornbirner, Johannes Thurnher, der mit großer Energie, aber auch höchst autoritär und rücksichtslos die Organisation zuerst des Dornbirner Kasinos und dann des katholisch-politischen Volksvereins vorangetrieben hatte. Mit Martin Thurnher stand ihm ein überaus fleißiger und tatkräftiger Politiker zur Seite, der sich durch taktisches Geschick und durch seine fast unglaubliche Arbeitskraft für die Partei unentbehrlich gemacht hatte, sodaß er sich bis zum Ende der Monarchie in den Führungsgremien der Partei halten konnte. Dornbirn, die Hochburg der Konservativen, blieb auch nach dem Tod Martin Thurnhers das Zentrum des politischen Kampfes in Vorarlberg. Die Nachfahren der Liberalen, deren Gedankengut sich in einem seltsamen Mutationsprozeß ins Gegenteil wandelte und zum Nationalsozialismus pervertierte, machten Dornbirn erneut zu einer politischen Hochburg, zur Hochburg der braunen Bewegung in Vorarlberg.

Abschließend soll noch auf ein besonderes Spezifikum Vorarlbergs hingewiesen werden. Von Anfang an hatten die Intentionen der konservativen Parteiführer stark erzieherischen Charakter. Die ordnungspolitischen Leitbilder der Kirche wurden zu Leitbildern der konservativen Partei; die Tendenz, die Kirche als eine Instanz anzuerkennen, die auch in weltlichen Dingen ein gewichtiges, manchmal sogar entscheidendes Wort mitzureden hatte, ist deutlich erkennbar. De facto lief es darauf hinaus, Vorarlberg als eine Art Kirchenstaat zu betrachten. Im Vorarlberger Landtag gab es einen eigenen "Sonntagsheiligungs-Ausschuß". Dies zeigt, daß die Partei der Erziehung des Volkes in kirchlichem Sinn eine außerordentliche Bedeutung beimaß. Welche negativen Konsequenzen es haben könne, wenn man die Pflicht des sonntäglichen Kirchenbesuches vernachlässige, zeigt Martin Thurnher 1882 in einer Rede im Vorarlberger Landtag auf. Die Folgen seien:

"Das Verschwinden der Religiosität, der Verfall der Sittlichkeit, das Wachsen der Roheit und der Widersetzlichkeit der heranwachsenden Generation in Familie, Gesellschaft und Staat, das Steigen der Genußsucht, das Abhandenkommen der Sparsamkeit, die Verarmung des Volkes und der Niedergang des allgemeinen Wohlstandes." (36)

 

 

Anmerkungen

 

1)      Herburger, Leo: Dr. J. G. Waibel, sein Leben und Wirken. Dornbirn 1909, S. 32

2)      Thurnher, Martin: Notizen. Handschriftliches Manuskript, Abschrift beim Verfasser, S. 83 f.

3)      Haffner, Leo: Die Aufklärung und die Konservativen. Ein Beitrag zur Geschichte der katholisch-konservativen Partei in Vorarlberg. In: Pichler Meinrad (Hg.): Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Bregenz 1982, S. 10-31

4)      Thurnher (Anm. 2), S. 27-43

5)      ebenda, S. 96-99

6)      VV, 5. 8. 1884

7)      Landbote für Vorarlberg, Nr. 17, 19. 8. 1887

8)      Thurnher (Anm. 2), S. 25

9)      Oberkofler, Gerhard: Vorarlbergs Weg zur modernen Schule. Dornbirn 1969, S. 71 ff.

10)   Oberkofler (Anm. 9), S. 113 f.

11)   ebenda, S. 122 f.

12)   ebenda, S. 117

13)   Thurnher (Anm. 2), S. 139

14)   Oberkofler (Anm. 9), S. 186

15)   Thurnher (Anm. 2), S. 65

16)   Landbote für Vorarlberg, Nr. 9, 1881

17)   Thurnher (Anm. 2), S. 3-26

18)   ebenda, S. 138-139

19)   Haffner, Leo: Die Kasiner. Vorarlbergs Weg in den Konservativismus. Bregenz 1977

20)   ebenda, S. 107

21)   ebenda, S. 111 ff.

22)   ebenda, S. 142

23)   Thurnher (Anm. 2), S. 74

24)   ebenda, S. 113a

25)   ebenda, S. 63-64

26)   ebenda, S. 71-74

27) vgl. Methlagl, Walter: Franz Michael Felder und Kaspar Moosbrugger im Kampf der politischen Parteien Vorarlbergs 1864 - 1968. Bregenz 1978

28) VV, 25. 9. 1896

29) Haffner (Anm. 3), S. 22

30) Spiegel, Walter: Das kirchliche Leben Vorarlbergs von 1855 bis 1870. Hausarbeit in Geschichte, Innsbruck o.J. (maschinschriftl. Manuskr.), S. 27 ff.

31) TLA, Statth. Präs. 1887 13/4495, Landbote Nr. 16, 1887

32) VV, 8. 2. 1910

33) Thurnher (Anm. 2), S. 76-78

34) ebenda, S. 86-89

35) ebenda, S. 90-111

36) ebenda, S. 65