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Markus Barnay (2011): Wehrmachtsdeserteure und ihr Umfeld im Großen Walsertal

Gerade junge Männer aus abgelegenen ländlichen Gegenden entzogen sich auffällig häufig dem Militär - in einem Zusammenspiel aus sozialer Randständigkeit und starkem antiautoritären Eigensinn. Im Großen Walsertal fanden solche Deserteure ein Milieu, das sie schützte, sie aber durch nachbarschaftliche Nähe auch äußerst gefährdete. Zwei von ihnen - Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz - wurden verhaftet und nach einem Prozess, dessen Details bis heute Fragen aufwerfen, hingerichtet.

 

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Markus Barnay

 

Wehrmachtsdeserteure und ihr Umfeld im Großen Walsertal

„Ich war weiß Gott keine Verbrecherin“

 

Zuerst erschienen in: H. Platzgummer / K. Bitschnau / W. Bundschuh (Hg.): „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist…“ Vorarlberger vor den Gerichten der Wehrmacht. Dornbirn: Stadtmuseum Dornbirn 2011, S. 51-56

 

An den 9. Juli 1944 sollte sich Delphina Burtscher, die 2008 82-jährig starb, zeitlebens erinnern. An jenem Tag stürmten zwei Dutzend Polizisten und Gestapo-Angehörige das Bauernhaus in der Parzelle Küngswald im hintersten Teil des Großen Walsertales:

 „Sie brachen die rückwärtige Tür auf und drangen herein wie die Ameisen. Zuerst gab es einen großen Lärm, sodass ich glaubte, dass die Buben eine Gaude machten und mit gutem Humor nach Hause kämen. Es war freilich ganz anders. Zwei Polizisten standen vor mir und riefen: ‚Hände hoch!’ Ich war so erschrocken, dass ich die Türschnalle nicht los lassen konnte. Sie stießen mich zur Seite und riefen: ‚Wo sind die Anderen?’ Ich sagte, dass Vater in der hintersten Kammer sei. Ich ging zu ihm hinein, wusste aber nicht, was sie mit ihm gemacht hatten. Ich sah nur, dass er mit nacktem Oberkörper auf dem Bett saß und Polizisten ihm die Arme festhielten. Er wollte etwas zu mir sagen, da schlug man ihm schon mit einem Gegenstand ins Gesicht, dass das Blut herunterrann. Ich ging dann in die Stube hinaus, da gab es so viele Uniformierte, dass die Stube fast gefüllt war. In diesem Augenblick kamen schon Gestapoleute mit Willi und Martin herunter, beide mit Handschellen gefesselt. [...] Keiner durfte mit dem anderen sprechen. Bevor die Verhafteten abgeführt wurden, umarmte Martin mich trotz der Handschellen und sagte: ‚Wir kommen bald wieder.’ Doch sofort wurden wir auseinander gerissen.“[1]

60 Jahre später, im Jahr 2004, schrieb Delphina Burtscher die traumatischen Erlebnisse dieses und der folgenden Tage nieder. Ihre Kinder und der Gemeindearchivar von Nenzing, wo Delphina inzwischen wohnte, hatten sie gebeten, die Ereignisse ihres Lebens zu Papier zu bringen. So wurden die näheren Umstände der Verhaftung ihres Bruders Wilhelm und ihres Verlobten Martin Lorenz erstmals öffentlich bekannt.

 

Der engste Umkreis: Schutz und Gefährdung

 

Wilhelm Burtscher war einer von rund einem halben Dutzend Wehrmachtssoldaten aus dem Großen Walsertal, die 1943 und 1944 nach einem Heimaturlaub nicht mehr zu ihrer Truppe zurückkehrten – die sich also entschlossen hatten, den weiteren Dienst in der Armee zu verweigern. Und Wilhelm Burtscher war einer der wenigen, deren Geschichte später auch dokumentiert wurde. Denn über die Schicksale der Deserteure wurde zumindest in den folgenden 50 Jahren nicht geredet.

Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, der aus Schlins im Walgau stammende Verlobte von Delphina Burtscher, hatten sich schon im Herbst 1943 entschlossen, nicht mehr an die Front zurückzukehren – gemeinsam mit Wilhelms Bruder Leonhard, der als einziger der drei den Krieg überleben sollte.

Wer das steile Gebirgstal kennt, das seinen Namen der Besiedelung durch Walser im 14. Jahrhundert verdankt, kann sich gut vorstellen, wie man hier monatelang den Nachstellungen der Behörden entkommen konnte. Zur Parzelle Küngswald zum Beispiel konnte man vom Tal aus nur in einem einstündigen Fußmarsch oder – verbotenerweise – mittels einer kleinen Transportseilbahn gelangen. Diese Seilbahn spielte auch bei den gescheiterten Versuchen, die Deserteure aufzufinden, eine wichtige Rolle:

„Polizisten sind im Winter zwei oder drei mal da gewesen. Sie waren zu zweit. Wir wurden aber immer von der Seilbahn her gewarnt. Der Halbbruder unseres Vaters, Josef Rützler, konnte uns dank des Seilbahntelefons von der Talstation zu uns ins Haus immer rechtzeitig die Ankunft fremder Personen mitteilen. Dann sind sie nicht mehr gekommen, bis zur Verhaftung.“[2]

Dieser Verwandte war nicht der einzige, der den Deserteuren half: Sie fanden auch bei Freunden, bei ihren jeweiligen Verlobten, vor allem aber im eigenen Elternhaus Unterschlupf. Dazwischen versteckten sie sich im Wald, in Felshöhlen und in unbewohnten Alphütten. Das zunehmende Vertrauen in die Umgebung wurde ihnen aber zumindest nach der Schilderung von Delphina Burtscher zum Verhängnis:

 „Alles wäre gut gegangen, wenn Willi [Wilhelm Burtscher] nicht ein solches Vertrauen zu einem Bekannten gehabt hätte. Er zeigte sich bei ihm einmal bei Gelegenheit und vertraute ihm alles an. Der Bekannte zeigte sich freudig und ganz begeistert. Seine Frau war allerdings ganz anders gesinnt. Sie zeigte es an und lockte die Burschen mit einem Festtagsmenü zu sich. Während sie so da saßen, hörte die Polizei im Schlafzimmer alles mit an.“[3]

Als Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz drei Monate später vor dem Reichskriegsgericht in Salzburg saßen, hielten ihnen die Ankläger nicht nur die Desertion vor: Vielmehr hätten sie in den letzten Wochen vor ihrer Verhaftung begonnen, eine Widerstandsgruppe namens „Österreichische Freiheitsbewegung“ aufzubauen, und im Verwandten- und Bekanntenkreis offensiv Mitglieder für diese Vereinigung geworben.[4] Die im Verfahren behauptete Bildung dieser Gruppe diente dem Gericht als Begründung für das Todesurteil gegen Wilhelm Burtscher: Es habe sich um „Kriegsverrat“ gehandelt, der nur mit der Todesstrafe geahndet werden könne.

 

Widerstandsgruppe und Todesliste?

 

Ob es die erwähnte Widerstandsgruppe wirklich gegeben hat, ist heute nicht mehr zu klären. Das Urteil, das dank der Hilfe ehemaliger Studentinnen und Studenten der Universität Wien, die schon 2001 und 2002 unter der Leitung des Politikwissenschaft-Professors Walter Manoschek das wahre Ausmaß der von der NS-Militärjustiz verhängten Urteile erforscht hatten, im Militärarchiv Prag gefunden wurde, ist unvollständig. Unter anderem fehlen dokumentarische Belege für den Kern der Anklage: einen „Briefentwurf“, der angeblich bei der Festnahme Wilhelm Burtschers am 9. Juli 1944 gefunden wurde. „Er datiert vom 6. oder 7. Juli 1944“, heißt es im Urteil, und man fragt sich zunächst, wie ein zwei bis drei Tage alter Brief vom einen oder vom anderen Tag datieren kann – wegen unleserlicher Schrift, oder weil er gar kein Datum trägt? Jedenfalls wird in dem zitierten Brief die Existenz einer „Selbstwehr für das freie Österreich“ proklamiert – gebildet durch Wilhelm und Leonhard Burtscher sowie den „treuen Kamerad Martin Lorenz“. Der angebliche Autor des Briefentwurfes, Wilhelm Burtscher, notiert mit beamtenhafter Sorgfalt die Geburtsdaten der „Selbstwehr“-Mitglieder, lässt aber ausgerechnet das Geburtsdatum seines Bruders Leonhard offen – ist es tatsächlich denkbar, dass er es vergessen hatte?

Laut Urteil gaben die Angeklagten zu, dass die drei sich tatsächlich als „österreichische Freiheitskämpfer“ verstanden hätten, die sich unter anderem mit Armbinden in den Farben der österreichischen Republik, selbst gegossenen Blei-Medaillen (mit der Aufschrift „Mein Leben für Österreich“) und roten Kragenspiegeln für die Wehrmachtsuniform ausgestattet hätten. Die Sterne auf den Kragenspiegeln habe Delphina Burtscher gestickt.

Zum Vorwurf der Bildung der aus heutiger Sicht ehrenhaften, wenn auch wohl nicht sehr wirksamen Widerstandsgruppe kommt im Urteil noch eine Behauptung dazu, die sich ausschließlich auf den angeblichen „Briefentwurf“ stützt: Wilhelm Burtscher habe demnach eine dreiseitige Liste mit Namen derjenigen erstellt, die eine „spätere Österr. Staatsführung“ für ihre „Schandtaten“ bestrafen solle. An der Spitze jener, die laut Wilhelm Burtscher die Todesstrafe verdient hätten, habe er seinen Bruder Franz Josef Burtscher gesetzt, „der ihm als tüchtiger deutscher Soldat und Zellenleiter der NSDAP wegen seiner nationalsozialistischen Gesinnung seit langem verhasst war“.

Das einzige, was sich an dieser Behauptung verifizieren lässt, ist die Tatsache, dass Wilhelms Bruder tatsächlich laut Geburtsurkunde Franz Josef hieß, von seinen Verwandten (und auch im amtlichen Verkehr, etwa im Gefängnis in Bludenz) aber stets nur Franz genannt wurde. Erstaunlich ist außerdem, dass eben jener angebliche „tüchtige deutsche Soldat“ schon seit Monaten kein Soldat mehr gewesen war, nachdem er sich bei Holzarbeiten zwei Zehen abgehackt hatte (in der Familie hält sich bis heute das Gerücht, es habe sich um eine der damals häufigen „Selbstverstümmelungen“ gehandelt, um einem weiteren Kriegseinsatz zu entgehen). Und von einer aktiven Rolle des Franz Burtscher in der NSDAP wissen seine Nachkommen bzw. Verwandten nach eigenen Angaben ebenfalls nichts.[5]

Bleibt noch die seltsame Tatsache, dass dieser Franz Burtscher – ebenso wie sein Vater Franz Xaver, seine Schwester Delphina und sein kleiner Bruder Ignaz – nach der Verhaftung der beiden Deserteure Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz ebenfalls festgenommen wurde – wegen des Verdachts der Beihilfe. Er wurde erst nach dem Prozess gegen seinen Bruder, also nach über drei Monaten, freigelassen. Was wäre der Grund für eine solche Haft gewesen, wenn es sich bei Franz Burtscher tatsächlich, wie im Urteil vermerkt, um einen linientreuen Nationalsozialisten gehandelt hätte? Wollten die Behörden ihn etwa vor dem noch flüchtigen Bruder Leonhard (der nach seiner Desertion nie gefasst werden konnte) schützen? Oder wurde er nur zur Täuschung verhaftet? Wen aber wollte man damit täuschen? Oder hatten die (Gestapo-)Ermittler die angebliche Todesliste, die laut Urteil schon „bei der Festnahme Wilhelm Burtschers gefunden wurde“, gar selbst fabriziert, um die Deserteure bei den Bewohnern des Tals als potenzielle Mörder zu diskreditieren? Fragen über Fragen, auf die es voraussichtlich keine Antwort mehr geben wird ...

 

Eigensinnig, randständig, widerständig …

 

Dass es heute so schwer fällt, die Wahrheit über die Vorgänge im Jahr 1944 herauszufinden, hat natürlich in erster Linie damit zu tun, dass keiner der Betroffenen mehr lebt (außer dem jüngsten Bruder von Delphina und Wilhelm Burtscher, der zwar beim Prozess in Salzburg aussagen musste, als 14-Jähriger aber zumindest nichts von den angeblichen politischen Aktivitäten seiner Brüder bemerkt hatte). Es hat aber auch mit der Tatsache zu tun, dass das Thema jahrzehntelang totgeschwiegen wurde. In dieser Hinsicht war das Große Walsertal freilich kein Sonderfall.

Auch in anderer Hinsicht ist das Schicksal der Fahnenflüchtigen aus dem Großen Walsertal durchaus typisch: Untersuchungen über Herkunft und Motivation der Deserteure aus der Deutschen Wehrmacht stellten fest, dass sich darunter besonders häufig junge Menschen befanden, die „über eine von der bürgerlichen Norm abweichende Biographie verfügten“[6], sei es, dass sie in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen waren, sei es, dass sie durch ihren sozialen Werdegang ein Misstrauen bzw. eine Abneigung gegen Obrigkeiten entwickelt hatten und entsprechend empfindlich auf Schikanen oder sinnlos erscheinende Befehle reagierten.

Auch Südtiroler Historiker, die sich mit dem Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg beschäftigt haben, sind zu solchen Schlüssen gekommen. Sie stellten fest, dass sich Desertionen von den deutschen Militäreinheiten in Südtirol auf den ländlichen Raum konzentrierten.[7] Gleichzeitig konnten sie beobachten, dass Kriegsdienstverweigerer aus dem ländlichen Bereich mit auffallender Häufigkeit von abgelegenen Höfen stammten. Auch in Bezug auf die soziale Stellung der Kriegsdienstverweigerer waren die sozial unteren Schichten eindeutig überrepräsentiert. Es handelte sich bei den Deserteuren meist um Kleinbauern, Pächter, Knechte und Arbeiter. Sie waren oft ausgeprägte Individualisten und gesellschaftliche Außenseiter. Die Parallelen zum familiären Umfeld der Delphina Burtscher sind offensichtlich.

Auch ein anderer (seit den erwähnten Forschungen der Studierenden der Universität Wien bekannter) Fall passt in dieses Schema: Der aus Blons stammende, 1924 geborene Tobias Studer hatte sich ebenfalls im Großen Walsertal versteckt, nachdem er im September 1944 nicht mehr zu seiner Einheit zurückgekehrt war. Auch er war nicht allein: Er versteckte sich gemeinsam mit dem gleichaltrigen Jakob Domig und zeitweise mit Delphina Burtschers Bruder Leonhard, der ja nach der Verhaftung fast seiner gesamten Familie im Juli 1944 mehr oder weniger allein unterwegs war und von seinen Verfolgern nie gefasst werden konnte.

Tobias Studer überlebte nur mit viel Glück: Am 12. April 1945, wenige Wochen vor der endgültigen Niederlage des NS-Regimes, wurden Domig und Studer von einem Bekannten verraten und von einem Gendarmerietrupp gestellt. Domig wurde dabei erschossen, Studer konnte entkommen. Als er von Suchmannschaften eingekreist wurde, versteckte er sich unter einer Baumwurzel und verharrte mit Moos bedeckt mehrere Stunden regungslos. Schließlich schaffte er es ebenso wie Leonhard Burtscher, der Verfolgung bis zum Kriegsende zu entkommen.

Tobias Studer ist der einzige der erwähnten Deserteure, der seine Lebensgeschichte zu Protokoll gegeben hat: 2002 interviewte ihn die Historikerin Maria Fritsche.

Die anderen, inzwischen bekannten Wehrmachtsflüchtlinge konnten keine Auskunft mehr geben: Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz wurden zum Tode verurteilt und am 8. Dezember 1944 in Graz hingerichtet. Leonhard Burtscher verstarb schon 1956. Damals, in den fünfziger Jahren und auch später, hätte sich kaum einer der Deserteure getraut, öffentlich über seine Geschichte zu sprechen – galten sie doch auch in der Vorarlberger Nachkriegsgesellschaft noch Jahrzehnte lang als „Drückeberger“ oder gar „Verräter“.

 

 


[1] Delphina Burtscher: Meine Lebensgeschichte (Nenzing-Schriftenreihe 3), 3. Auflage, Götzis 2011, S. 33.

[2] Thomas Gamon: Ignaz Burtscher: Mit 14 ins Gefängnis, ebd., S. 67.

[3] Wie Anm. 1.  

[4] Urteil des Reichskriegsgerichtes StPL 4. Sen. 89/44 RKA II 341/44, Militärarchiv Prag, Aktenzeichen RKG (II) 10, Geheim-Urteile VII.-XII. 1944.

[5] Auskunft von Thomas Gamon nach mehreren Gesprächen mit Angehörigen und Nachkommen der Familie Burtscher.

[6] Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien-Köln-Weimar 2004, S. 31.

[7] Leopold Steurer / Martha Verdorfer / Walter Pichler, Verfolgt, Verfemt, Vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–45, Bozen 1997.