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Ausstellung: Arbeiterbewegung in Vorarlberg (1984) - Begleittexte und Bilddokumentation

Diese Ausstellung - in Form einer großzügigen Bild- und Objekt-Inszenierung in der ehemaligen Bregenzer Remise - entstand auf Initiative von Bürgermeister Fritz Mayer durch eine Zusammenarbeit des Historischen Arbeitskreises der Landeshauptstadt Bregenz und der Johann-August-Malin-Gesellschaft. Sie bedeutete den Beginn einer umfassenden Beschäftigung mit der Vorarlberger Arbeiterbewegung - auch der christlichen (Gestaltung: Reinhard Mittersteiner; wissenschaftliche Leitung: Kurt Greussing).
  • für ausländische Investoren war Vorarlberg das Tor zum großen österreichisch-ungarischen Markt;

  • Wasserkraft war ausreichend verfügbar;

  • es gab viele freie Arbeitskräfte, die bisher im eigenen Land keine Arbeit gefunden hatten;

  • die Industrialisierung stieß wegen der herrschenden Armut nur auf wenig Widerstand. Die Einführung der Fabriksarbeit im Rheintal und im Walgau trug zunächst nur wenig dazu bei, dass die saisonweise Auswanderung vieler Einheimischer beendet werden konnte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vernichteten die Fabriken mit ihren modernen Fertigungstechniken mehr Arbeitsplätze in der Heimproduktion, als sie selbst neu schufen. Erst ab 1875 stieg die Anzahl der Fabriksarbeiter deutlich an.

Die Arbeitsbedingungen sind heute kaum vorstellbar: Mindestens 13 Stunden (von 1/2 6 Uhr morgens bis 1/2 8 Uhr abends mit einer Stunde Mittagspause) verbrachten die "Fabrikler" täglich in engen, lauten und schlecht gelüfteten Hallen. Im Gegensatz zu den großen Gewinnen der Fabrikherren reichten die Löhne für diese Schinderei kaum fürs Überleben, so dass meist mehrere Familienangehörige mitarbeiten mussten - auch acht- bis zwölfjährige Kinder. Erst als sich herausstellte, dass die Kinder so große Schäden erlitten, dass sie später weder in der Fabrik noch beim Militär einsatzfähig waren, beschränkten die Behörden die tägliche Arbeitszeit für Kinder unter 14 Jahren auf zehn Stunden. Das entsprechende Gesetz wurde allerdings in Vorarlberg noch jahrelang missachtet. Für viele änderten sich durch die Industrialisierung zwar die Arbeits-, aber keineswegs die Lebensbedingungen: Hunger blieb für zahlreiche Arbeiter eine alltägliche Erfahrung. Die Hauptnahrungsmittel waren Kartoffeln, Riebel und Kaffee. Wer auf eine eigene kleine Landwirtschaft zurückgreifen konnte, war bessergestellt als die völlig besitzlosen Arbeitseinwanderer. Viele Arbeiter konnten weiterhin die kleine Landwirtschaft mitbetreiben, weil sich die Fabriksansiedlungen über das ganze Land erstreckten. Dadurch wurde in Vorarlberg die in anderen Industrieregionen sehr rasch fortschreitende Entbäuerlichung verlangsamt. Dieses Verbleiben im bäuerlichen (auch kirchlichen) Umfeld führte dann auch zur engen Bindung großer Teile der einheimischen Arbeiterschaft an die christlichen Organisationen.

Die neue Form gemeinsamen Arbeitens in den Fabriken schuf auch andere Bedingungen und Notwendigkeiten für politisches Handeln. So kam es erstmals zu Arbeitsniederlegungen gegen Lohnkürzungen oder Verschärfungen der Arbeitsbedingungen. Der erste überlieferte Streik fand 1837 bei Jenny & Schindler in Hard statt. Er wurde aber ebenso wie jener in Kennelbach (ebenfalls bei Jenny & Schindler) im Jahre 1841 mit Hilfe von Entlassungsdrohungen niedergeschlagen.

Wesentlichen Zuwachs erfuhr die Vorarlberger Arbeiterschaft ab 1870 durch den Ausbau des Verkehrsnetzes (Bauarbeiter, Eisenbahner) und durch die Heranziehung von Arbeitskräften aus dem italienischsprachigen Tirol. Die frühe sozialistische Arbeiterbewegung - zunächst vorwiegend von Handwerksgesellen getragen - konnte diese besitzlosen Arbeitseinwanderer leichter ansprechen.

 

"Frönde Beattlar" und Zugereiste:
Italienische Arbeiter in Vorarlberg

Die Geschichte der Vorarlberger Arbeiterbewegung ist eng verbunden mit der Geschichte der Einwanderer, vor allem aus anderen Gegenden der Monarchie. Da viele dieser zugezogenen Arbeiter in der Sozialdemokratie bzw. den Gewerkschaften organisiert waren, hat die Beschimpfung der Sozialdemokraten als "Heimatlose" und "Landesfremde" dort ihren Ursprung.

Industrialisierung in Vorarlberg:
Zwischen Heim und Fabriksarbeit

Vorarlberg gehörte zu jenen Gebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie, die am frühesten industrialisiert wurden. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden im Rheintal und im Walgau die ersten Fabriken errichtet. Die erste bedeutende Industrialisierungswelle (1830 - 1845) vernichtete allerdings mehr Arbeitsplätze in der häuslichen Textilproduktion, als sie in Fabriken neu schuf. Erst die zweite große Industrialisierungsphase ab 1875 führte auch zum Anwachsen der Beschäftigtenzahlen, zum Ausbau der Verkehrswege (Rheintaleisenbahn, Arlbergbahn) und zur Einwanderung von Arbeitern aus anderen Gebieten der Monarchie und dem benachbarten Ausland. Die Industrialisierung hatte große Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse im Lande. Zunehmend begann die Arbeiterschaft, sich politisch zu organisieren.

1790

 erste "Cottonfabrik" in Dornbirn

 

1830-1845


erste große Industrialisierungswelle

1836

F.M. Hämmerle, Getzner & Mutter

1837

Jenny & Schindler

1838

Ganahl


1837

 
erster Streik bei Jenny & Schindler in Hard

1870

 Beginn der Arbeitseinwanderung

1871

 Beginn des Eisenbahnbaus

1885

 gesetzliche Beschränkungen der Kinderarbeit

1870

  Beginn der italienischen Einwanderung, vor allem aus dem Trentino

1880

  Baubeginn der Arlbergbahn (viele zugewanderte Bauarbeiter)

1890

  Italienischer Bevölkerungsanteil liegt in Bludenz, Bürs, Kennelbach und Tisis bei 20 %.

1898

  Gründung des ersten italienischen Arbeitervereins ("Società Italiana dei Lavoratori e Lavoratrici") in Dornbirn.

1900

  Ein Viertel der Textilarbeiterschaft Vorarlbergs ist italienischsprachig.

1918

  Trentino kommt zu Italien, viele Einwanderer kehren zurück.

Seit über hundert Jahren ist Vorarlberg ein klassisches Einwanderungsland. Die "Zugereisten" stellten zeitweise fast die Hälfte aller Industriearbeiter. Begonnen hat die zahlenmäßig bedeutende Einwanderung etwa um 1870: Zu jener Zeit kamen im Zuge des Eisenbahnbaus (1870-1872 Bregenz - Feldkirch, 1880-1884 Arlbergbahn) Arbeitskolonnen aus anderen Gegenden der Habsburger-Monarchie nach Vorarlberg. Nach 1870 begannen Textilfabriken mit der Anwerbung italienischsprachiger Arbeiterinnen - 3/4 der italienischen Einwanderer waren Frauen. Sie stammten zu einem großen Teil aus dem trentinischen Val Sugana (Distrikt Borgo), das bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörte. Insgesamt wanderten bis 1900 etwa 10.000 italienischsprachige Arbeiterinnen und Arbeiter ein, die sich auf wenige Industrieorte konzentrierten: In Hard und Kennelbach betrug ihr Bevölkerungsanteil 1900 etwa 40%, in Bludenz, Bürs und Lorüns über 20%, während der Anteil an der Gesamtbevölkerung etwa bei 5% lag.

Der Grund für die Anwerbung der "Italiener" lag nicht nur im Arbeitskräftemangel in Vorarlberg - zur selben Zeit wanderten immer noch Hunderte einheimische Arbeitssuchende aus -, sondern in ihrer leichteren "Verwertbarkeit": Die Unternehmer zahlten ihnen 10-20% weniger Lohn als den Einheimischen und senkten damit ihre Kosten. Da die Löhne fast durchwegs unter dem Existenzminimum lagen, mussten viele Einwanderer im Winter bettelnd durch das Land ziehen, um nicht zu verhungern - daher der Ausdruck "frönde Beattlar" für eingewanderte Arbeiter.

Auch die Wohnbedingungen der Einwanderer waren entsprechend schlecht: Viele von ihnen lebten in Wohnbaracken, wo sich bis zu fünf Arbeiter ein Zimmer und oft mehrere ein Bett teilen mussten. Manche hatten gar keine Unterkunft und mussten die Nächte auf dem Fußboden der Fabrikshallen verbringen.

Die eingewanderten Arbeiter/innen - und nicht nur jene italienischer Zunge - waren Proletarier im klassischen Sinn: Sie waren reine Lohnarbeiter ohne jeglichen Besitz. Sie konnten nicht - wie viele ihrer einheimischen Kollegen - einem bäuerlichen Nebenerwerb nachgehen und wenigstens eigene Lebensmittel anbauen oder gar im ererbten Haus leben. Kein Wunder daher, dass sich die Einwanderer stärker engagierten, wenn es darum ging, die soziale Lage der Arbeiterschaft erträglicher zu machen. Sie taten dies meist durch den Beitritt zu den Gewerkschaften oder zur Sozialdemokratischen Partei; und im Fall der Italienischsprachigen durch die Gründung eigener Arbeitervereine. 1898 wurde in Dornbirn der erste Italienische Arbeiter- und Arbeiterinnenverein ("Societá Italiana dei Lavoratori e Lavoratrici") gegründet, weitere folgten in Bregenz, Bludenz und Feldkirch. Außerdem entstanden Arbeiterkonsumvereine zum Erwerb billigerer Lebensmittel. Die Arbeitervereine waren durchwegs sozialdemokratisch orientiert; zeitweise bestand auch ein italienisches Arbeitersekretariat, das eng mit dem Landesparteisekretariat der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zusammenarbeitete. Vor dem Ersten Weltkrieg fanden öfters zweisprachige Volksversammlungen statt, auf denen Vertreter beider Volksgruppen zu Wort kamen. Die Einwanderer waren immer wieder - nicht zuletzt wegen ihres politischen Engagements - heftigen Angriffen ausgesetzt. Vor allem das christlichsoziale "Vorarlberger Volksblatt" und der deutschnationale "Volksfreund" beklagten lautstark die Überfremdung des Landes durch das "Welschtum". Die fremdenfeindliche Propaganda erleichterte die Bestrafung wegen Bettelei oder Vagabundage und die Ausweisung straffällig gewordener oder politisch "auffälliger" Einwanderer.

Während und nach dem Ersten Weltkrieg kehrten viele in ihre - nunmehr zu Italien gehörende - Heimat zurück. Die anderen wurden in den folgenden Jahren weitgehend assimiliert. Sie änderten zum Teil sogar ihre Familiennamen, um Diskriminierungen zu entgehen.

 

Auf dem Weg zur Arbeiterpartei:
Vorarlberger Arbeiterbewegung bis 1890

Nach Inkrafttreten des Vereinsgesetzes (1867) und des Koalitionsrechtes (1870) war es der Arbeiterschaft erstmals möglich, sich legal zusammenzuschließen. Ab 1869 entstand eine Reihe von Arbeiterbildungsvereinen, die von Handwerkern und Handwerksgesellen dominiert waren. 1877 wurden fast alle Vorarlberger Arbeiterbildungsvereine wieder aufgelöst, weil ihre Delegierten bei einer Verbandstagung in Lindau sozialdemokratische Positionen vertreten hatten. Dennoch war der politische Zusammenschluss der Arbeiterschaft nicht mehr aufzuhalten: 1890 wurde die erste sozialdemokratische Parteiorganisation für Tirol und Vorarlberg gegründet.

1867

  Vereinsgesetz erlaubt Gründung von Arbeiterbildungsvereinen

1869

  1. Vorarlberger Arbeiterbildungsverein in Bregenz

1870

  Koalitionsrecht ermöglicht Streiks

1877

  Verbot fast aller Arbeiterbildungsvereine wegen ihrer "socialdemokratischen    Richtung"

1889

  Einigungsparteitag der österreichischen Sozialdemokraten in Hainfeld

1890

  Gründung der Landesorganisation für Tirol und Vorarlberg der Sozialdemokratischen Partei in Telfs

Auch in Vorarlberg waren wandernde Handwerksgesellen für die Entstehung der Arbeiterbewegung von wesentlicher Bedeutung. Die besonderen Erfahrungen der Wanderschaft führten sehr früh zu solidarischem Handeln gegenüber Meistern und Behörden. Es kam zur Gründung von Bruderschaften und Gesellenvereinen. Schließlich verschlechterte auch noch die Industrialisierung die soziale Situation der Handwerksgesellen. Sie waren so für sozialistische Ideen empfänglich, die sie in den Metropolen kennenlernten und dann weiterverbreiteten. Die Interessen von Handwerksgesellen und Industriearbeitern waren allerdings in der Frühphase der Arbeiterbewegung nicht immer identisch.

Die Vorarlberger Behörden handelten durchaus konsequent, wenn sie ihr Hauptaugenmerk bei der Bekämpfung "subversiver" Tendenzen zunächst auf die wandernden Handwerker legten. Fälle wie jener des Schreinergesellen Joseph Anton Huber aus Sulzberg, in dessen Gepäck 1844 "kommunistische" Schriften gefunden wurden, schienen ihnen recht zu geben. Ab 1849 wurde infolgedessen nur noch unbedenklichen "Unterthanen" ein Wanderbuch für die Schweiz ausgestellt.

Bis zum Vereinsgesetz von 1867 wurde jeder Versuch einer Selbstorganisierung der Arbeiterschaft von den Behörden bekämpft. Erst jetzt waren "unpolitische" Zusammenschlüsse möglich. Das Koalitionsrecht von 1870 erlaubte sogar Absprachen über Streiks. Nun entstanden in Vorarlberg mehrere Arbeiterbildungsvereine, deren erster 1869 in Bregenz von liberalen Bürgern und Handwerkern gegründet wurde. Ein Vorkämpfer für solche Vereine war u.a. Kaspar Moosbrugger, der Schwager des Schoppernauer Dichters Franz Michael Felder. Moosbrugger und Felder hatten schon früher das allgemeine Wahlrecht gefordert und die Ideen der Sozialreformer Lassalle und Schulze-Delitzsch verbreitet.

Die Arbeiterbildungsvereine förderten auch die Einrichtung von Krankenkassen und gegenseitiger Wanderunterstützung. Der von den Behörden geforderte "unpolitische" Charakter der Arbeiterbildungsvereine ließ sich nicht lange aufrechterhalten.

Bereits im Mai 1877 kam es zum Eklat: Delegierte aus Bregenz, Hard, Dornbirn, Feldkirch und Bludenz nahmen am Bodensee-Gauverbandstag der Arbeiterbildungsvereine in Lindau teil. Dabei kam es zur großen Auseinandersetzung, weil sich die Vorarlberger für ein Grußtelegramm an die in Gotha tagenden deutschen Sozialdemokraten einsetzten und sich zur Sozialdemokratie bekannten. Sie wurden deshalb von der Versammlung ausgeschlossen und ihre Vereine kurz darauf von den Behörden aufgelöst.

Erst zehn Jahre nach den Lindauer Ereignissen machte sich die Arbeiterbewegung wieder öffentlich bemerkbar: 1887 trafen sich in Bregenz 400 - 500 Arbeiter zur ersten politischen Volksversammlung. Der Einigungsparteitag der österreichischen Sozialdemokraten in Hainfeld (1889) führte schließlich auch zur sozialdemokratischen Parteigründung für Tirol und Vorarlberg am 28. September 1890 in Telfs. Die wichtigsten Forderungen dieser neu gegründeten Partei waren:

  • Einführung des allgemeinen Wahlrechts

  • freie Betätigungsmöglichkeit der Arbeiterorganisationen

  • gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter

  • Einführung des Acht-Stunden-Tages.

 

 

"Vorwärts! Der neuen Zeit entgegen!"
Arbeiterbewegung von 1890 bis 1914

Drei Jahre nach der Errichtung der gemeinsamen Landesorganisation für Tirol und Vorarlberg gründeten die Vorarlberger Sozialdemokraten einen eigenen "Politischen Verein", aus dem 1899 eine selbständige Landesorganisation hervorging. Neben der eigenen Partei entstanden verschiedene Branchengewerkschaften, sozialdemokratische Nebenorganisationen und schließlich eine eigene Zeitung. Das Anwachsen der sozialdemokratischen Sport- und Kulturvereine trug zur Herausbildung einer eigenen Arbeiterkultur bei. Trotz des Aufschwungs in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die sozialistische Arbeiterbewegung in Vorarlberg nicht so stark wie in anderen Industriegebieten. Dazu trug wesentlich die Gründung christlicher Arbeiterorganisationen bei. 1907/08 gelang den sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften die Durchsetzung des Zehn-Stunden-Tages.

1892

Gründung der "Volkszeitung für Tirol und Vorarlberg" und erster Branchengewerkschaften

1893

Gründung des sozialdemokratischen "Politischen Vereins für Vorarlberg", des "Christlichsocialen Volksvereins" und des Katholischen Arbeitervereins in Dornbirn

1899

Sozialdemokratische Landesorganisation für Vorarlberg

1906

Allgemeines Männerwahlrecht

1910

Gründung der sozialdemokratischen "Vorarlberger Wacht"

1911

erstmals Stimmenmehrheit der SDAP bei Wahlen in Hard

Nach der Gründung der Landesorganisation für Tirol und Vorarlberg hatten die heimischen Sozialdemokraten den ersten Schritt in die politische Öffentlichkeit vollzogen. Es folgten die Gründung von Branchengewerkschaften (die ersten waren 1892 die Schuhmacher in Bregenz und die Holzarbeiter in Dornbirn) und die Herausgabe einer eigenen Zeitung, der "Volkszeitung für Tirol und Vorarlberg" (1892). Der 1893 gegründete "Politische Verein für Vorarlberg" war schließlich die erste eigene Organisation der Vorarlberger Sozialdemokraten. Unter der Führung von Johann Coufal und Ignaz Leimgruber gewann die sozialdemokratische Bewegung in Vorarlberg rasch an Stärke. Die Behörden reagierten mit Zensurmaßnahmen gegen die "Volkszeitung" und Strafverfolgung - so wurde Coufal wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" mehrmals zu Arrest verurteilt. Aber auch die stärkste politische Gruppe des Landes, die Konservativen, antwortete mit Gegenmaßnahmen: 1893 gründete sie den "Christlichsocialen Volksverein" - "als Damm gegen die socialistischen Vereine" - und Katholische Arbeitervereine (Dornbirn 1893, Hohenems 1896).

Die sozialdemokratischen Organisationen verzeichneten dennoch zwischen 1893 und 1900 einen beachtlichen Aufschwung: 1894 errangen sie bei Gemeindewahlen in der Industriegemeinde Hard erstmals zwei Mandate, bei den Reichsratswahlen 1897 waren sie in Hard, Rieden und in der Eisenbahnergemeinde Klösterle erfolgreich. Die Mitgliederzahl der sozialdemokratischen Landesorganisation stieg bis 1899 auf 1.000.

Innerparteiliche Auseinandersetzungen und unglückliche Personalentscheidungen führten nach 1900 zu einer schweren Krise der Vorarlberger Sozialdemokratie. Zugleich verloren die Gewerkschaften mit zunehmender Wirtschaftskrise an Mitgliedern und Einfluss. Bei den ersten Reichsratswahlen mit allgemeinem, freiem und geheimem Wahlrecht (für Männer) 1907 erreichten die Christlichsozialen zwar einen überwältigenden Wahlerfolg, aber die SDAP erhielt immerhin in den vier Städten 18% der Stimmen, in Hard, Rieden und Nüziders sogar 26 bis 34%; 1911 erreichte sie in Hard erstmals die relative Mehrheit. 1907 gelang den sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften auch endlich die Durchsetzung des Zehnstundentages, der in anderen Teilen der Monarchie bereits eingeführt war.

Erst ab ca. 1906 fassten die Gewerkschaften auch in der Textilindustrie endgültig Fuß. In diesem für Vorarlberg bedeutsamsten Industriezweig waren die Christlichen Gewerkschaften besonders erfolgreich und hatten stets mehr Mitglieder als die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften.

Auch der offiziell unabhängige, über 1.000 Mitglieder zählende Stickerbund wurde von Christlichsozialen geführt. 1910 erhielten die Vorarlberger Sozialdemokratie ihre erste eigene Zeitung: Die von Hermann Leibfried herausgegebene "Vorarlberger Wacht" blieb mit kurzen Unterbrechungen bis zur Gleichschaltung im Jahr 1934 das Organ der Sozialdemokraten.

 

Hunger, Not und "Heldentod":
Arbeiterschaft im ersten Weltkrieg

Am 28. Juli 1914 begann mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der 1. Weltkrieg. Er endete vier Jahre später mit dem Zusammenbruch der Monarchie. 5.000 Vorarlberger starben an den Fronten, im Lande selbst herrschten Hunger und Not. Für die Arbeiterbewegung bedeutete der Krieg einen schweren Niedergang des Organisationslebens. So wie die Frauen im Berufsleben den "Mann stellen" mussten, bewahrte ihre teilweise politische Mobilisierung auch die Vorarlberger Sozialdemokratie vor dem Zusammenbruch.

1914

Österreich-Ungarn und Deutsches Reich beginnen Krieg gegen Serbien, Russland, Frankreich und andere Alliierte

1915

Eintritt Italiens in den Krieg

1916

hohe Arbeitslosigkeit in der Textilindustrie wird durch Papiergarnproduktion gemildert

1917

Lebensmittelknappheit; Oktoberrevolution in Russland; Waffenstillstand im Osten

1918

Jänner: Nach Lebensmittelkürzungen "Jännerstreik" für Lohnerhöhungen und Friedensschluss

Oktober

Tod des "Vorarlberger Wacht"- Herausgebers Hermann Leibfried

November

Abschluß des Waffenstillstandes; Selbständigkeitserklärung der Vorarlberger Landesversammlung

Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo war für die österreichisch-ungarische Monarchie der Anlass, am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg zu erklären. Der Kriegseintritt der verbündeten "Mittelmacht" Deutschland und - auf der Gegenseite - der Entente-Mächte (Russland, Großbritannien, Frankreich) führten zu einer weltweiten Auseinandersetzung, der in den folgenden vier Jahren fast 10 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Zu Beginn des Krieges erfasste der nationalistische Eifer im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn vielfach auch Sozialdemokraten; die Vorarlberger SDAP und ihre Zeitung "Vorarlberger Wacht" jedoch vertraten überwiegend eine kritische Haltung zum Krieg. Intern hatten die SDAP und die Freien Gewerkschaften in den ersten beiden Kriegsjahren große Probleme, weil die Einberufung vieler Männer den Niedergang des Organisationslebens zur Folge hatte. Nur die massive politische Mobilisierung der Frauen bewahrte die Vorarlberger Sozialdemokratie vor dem Zusammenbruch.

Als 1915 Italien in den Krieg eintrat, wurde Vorarlberg als unmittelbares Kriegsgebiet behandelt. Im Stellungskrieg in den Dolomiten starben in den folgenden Jahren etwa 2.500 Vorarlberger für "Gott, Kaiser und Vaterland". Aber auch die Zivilbevölkerung musste ständig ums Überleben kämpfen: Rohstoffmangel führte schon gleich nach Kriegsbeginn in der Textil- und Stickereiindustrie zu Kurzarbeit und Entlassungen. Lohnkürzungen und - durch die zunehmende Lebensmittelknappheit - in die Höhe schnellende Preise ließen Hunger und Not immer weiter um sich greifen.

Besonders prekär wurde die Lage der Arbeiterschaft 1916, als neben Mehl und Brot auch noch Kartoffeln, Milch und Fett zu Mangelwaren wurden. Zwar konnte die Arbeitslosigkeit durch die Einführung der Papiergarnerzeugung eingedämmt werden, aber die Ernährungslage wurde ständig schlechter. Krankheiten wie Tbc breiteten sich weiter aus.

Die Kritik am Krieg wurde lauter, als nach der russischen Oktoberrevolution und dem Waffenstillstand an der Ostfront noch immer kein Friede in Sicht war. 1918 löste die Halbierung der Mehlration (auf 250 Gramm pro Woche!) in den ostösterreichischen Industriegebieten den großen "Jännerstreik" aus. Die Streikenden forderten neben materiellen Verbesserungen die Beendigung des Krieges. Ihre Hoffnung erfüllte sich erst im November 1918. Das Ende des Krieges bedeutete auch den Zusammenbruch der Monarchie.

 

Vorarlberg 1919:
Heimwehr statt Räterepublik

In der neuen demokratischen Republik Deutsch-Österreich erlangte die Sozialdemokratie erstmals politische Entscheidungsgewalt. Österreichweit wurde sie zur stärksten Partei und konnte in den ersten Jahren nach dem Krieg eine umfangreiche Arbeits- und Sozialgesetzgebung durchsetzen. Die Vorarlberger Sozialdemokraten waren nach einem kurzen Aufschwung 1919 schon bald wieder in der Defensive, während die durch den Zusammenbruch der Monarchie kurzfristig verunsicherten konservativen Kräfte bald wieder das Sagen hatten.

1918

November: Bildung von Räterepubliken in Ungarn, Württemberg, Bayern (München, Lindau); Ausrufung der demokratischen Republik Deutsch-Österreich (12.11.1918)

1919

Februar: Wahlen zur Nationalversammlung

März

Bildung von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten; Viehbeschlagnahmung in Dornbirn (9.3.1919)

April

Landesregierung beschließt Bildung von Volksmilizen

Die Ausrufung der demokratischen Republik am 12. November 1918 bedeutete für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei einen großen Erfolg und den Beginn einer neuen Phase ihrer Geschichte: Bei den ersten Wahlen zur Nationalversammlung erhielt sie österreichweit die meisten Stimmen und bildete gemeinsam mit der Christlichsozialen Volkspartei die Regierung. Bis 1920 konnte die SDAP deshalb mehrere wichtige Sozialgesetze durchsetzen.

Auch die Vorarlberger SDAP erlebte unmittelbar nach dem Krieg einen großen Aufschwung: Ihre Mitgliederzahl stieg 1919 auf 3.400, und bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 1919 erreichte sie 21,8% der Stimmen und stellte mit Hermann Hermann aus Hard einen der vier Vorarlberger Abgeordneten. Trotzdem standen die Sozialdemokraten in Vorarlberg auch nach 1918 im Schatten der Christlichsozialen.

Die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, die sich nach dem Vorbild der bayerischen und württembergischen Rätebewegung im März 1919 gebildet hatten, blieben ohne großes politisches Gewicht. Sie traten vor allem im Zusammenhang mit einer spektakulären Aktion in Dornbirn in Erscheinung: Am 9. März 1919 beschlagnahmte eine große Menschenmenge am Bahnhof zwölf Waggons mit Vieh, das nach Innerösterreich geliefert werden sollte, und forderte dessen Schlachtung. An den folgenden Tagen fanden in Bregenz und Dornbirn Volksversammlungen mit mehreren Tausend Teilnehmern statt.

Die Landesregierung unter Otto Ender benützte Vorfälle wie jenen in Dornbirn zu Gegenmaßnahmen: Bundesheer und Gendarmerie wurden durch gezielte Einstellungspolitik den Interessen der Landesregierung dienstbar gemacht. Im April beschloss die Landesregierung die Aufstellung von bewaffneten "Volksmilizen". Diese sollten anfangs der aus Bayern drohenden "spartakistischen Gefahr" wehren. Bald wurde aber daraus der Heimatdienst - die Vorarlberger Version der Heimwehren -, der als konservativer Wehrverband gegen Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften ausgerichtet war. Deren laute revolutionäre Propaganda - welcher aber eine durchaus reformerische Praxis gegenüberstand - hatte die Konservativen verunsichert.

 

1919 bis 1927:
Der kurze Sommer der Sozialdemokratie

Schon bald nach dem Zusammenbruch der Monarchie (November 1918) war klar, wie die politischen Verhältnisse in Vorarlberg gestaltet sein würden. Während die Arbeiterbewegung - in ein sozialdemokratisches, ein christliches und ein kleines kommunistisches Lager gespalten - von Jahr zu Jahr an Stärke verlor, unternahm die Landesregierung alles, um "Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen. Propaganda-Kampagnen, bei denen die Sozialdemokratie als "jüdische" Organisation von "Landesfremden" dargestellt wurde, gesetzliche Maßnahmen und schließlich auch der militärische Einsatz von Bundesheer, Gendarmerie und Heimwehr gegen Streikende drängten die sozialdemokratische Arbeiterbewegung immer mehr in die Defensive, schwächten aber auch die christliche. Mit den Juli-Demonstrationen des Jahres 1927 in Wien und dem anschließend ausgerufenen, aber nur teilweise durchgeführten Generalstreik hatte die österreichische Sozialdemokratie den Höhepunkt ihres Einflusses bereits überschritten.

1919

Schaffung der "Volksmilizen", aus denen später die Heimwehr wird, durch die Landesregierung

1919/20

Verabschiedung wichtiger Arbeits- und Sozialgesetze, u.a. Einführung des Acht-Stunden-Tages in Österreich

1920

Nach der Niederlage bei den Nationalratswahlen treten die Sozialdemokraten aus der Bundesregierung aus.

1921

Sozialdemokratische Freie Gewerkschaften erreichen Mehrheit bei den ersten Arbeiterkammer-Wahlen in Vorarlberg.

1923

Gründung des "Republikanischen Schutzbundes"

1926

Gewinne der Christlichen Gewerkschaften bei zweiten AK-Wahlen in Vorarlberg

1927

Freispruch der Mörder von Schattendorf führt zu Juli-Demonstrationen, Justizpalastbrand und Generalstreik; Bahn- und Poststreik in Vorarlberg werden mit militärischen Mitteln niedergeschlagen.

Während auf Bundesebene in den ersten Jahren der neuen Republik Sozialdemokraten und Christlichsoziale etwa gleich stark waren, dominierte in Vorarlberg von Anfang an die Christlichsoziale Volkspartei. Sie erhielt bei Landtags- und Nationalratswahlen zwischen 58 % und 65 %, die SDAP zwischen 18 % und 22 % der Stimmen. Die Landesregierung und die besitzenden Bevölkerungsschichten sorgten für die Aufrechterhaltung von "Ruhe und Ordnung", den Schutz des Eigentums und die Disziplinierung des auf soziale Veränderungen drängenden Teils der Arbeiterschaft. Das erlaubte es den Unternehmern, die neu geschaffenen Arbeits- und Sozialgesetze weitgehend zu ignorieren.

Die Vorarlberger Arbeiterbewegung war in dieser Situation nicht in der Lage, entscheidende Änderungen zu erzwingen. Einer der Gründe dafür war die weltanschauliche Spaltung in sozialdemokratische Freie und Christliche Gewerkschaften. Außer vereinzelten gemeinsamen Aktionen zu Beginn der 20er Jahre gab es keine koordinierten Arbeitskämpfe. Die Christlichen Gewerkschaften waren, als Teil des katholischen Lagers der Christlichsozialen Volkspartei, in ihren Möglichkeiten sehr eingeschränkt.

So wurde die Vorarlberger Arbeiterbewegung nach einer kurzen Phase der Stärke und Kampfbereitschaft immer mehr in die Enge getrieben. Die Sozialdemokratie verlor innerhalb der Arbeiterschaft zunehmend an Einfluss: Die Zahl der SDAP- Mitglieder sank von 3.400 (1919) auf 2.700 (1927), jene der Freien Gewerkschaften im selben Zeitraum sogar von 10.100 auf 4.800.

Den schwächer werdenden Arbeiterorganisationen stand eine immer schärfer vorgehende Landesregierung gegenüber. Demonstrationen und Streiks wurden so immer seltener, und ab 1925 streikten nur noch die Bauarbeiter und die Eisenbahner. Die Freie Textilarbeitergewerkschaft hatte nach der Niederlage in einem Arbeitskampf 1925 ihren Einfluss weitgehend verloren. Die Bauarbeitergewerkschaften wurden ab 1926 zunehmend schwächer: Die Aktionsgemeinschaft der Christlichen und Freien Gewerkschaft zerbrach, und die Fertigstellung verschiedener Großprojekte (Spullersee, Vermuntwerk) bewirkte einen empfindlichen Mitgliederschwund, da die dort beschäftigten Arbeiter den harten Kern dieser Gewerkschaft gebildet hatten. Die Freie Eisenbahnergewerkschaft verfügte traditionell über eine gut organisierte und stabile Basis und konnte durch die Lahmlegung des öffentlichen Verkehrs wirksame Maßnahmen setzen. Die Niederschlagung des Bahnstreiks 1927 war für die Eisenbahner ein großer Rückschlag.

Auslöser für den Juli-Streik 1927 war der skandalöse Freispruch mehrerer "Frontkämpfer" - Mitglieder einer rechten Wehrorganisation -, die im Jänner in Schattendorf (Burgenland) zwei Menschen erschossen hatten. Die Empörung über die Urteile führte am 15. Juli 1927 in Wien zu spontanen Arbeiterdemonstrationen und zum Sturm auf den Justizpalast, der dabei in Brand gesetzt wurde. Das brutale Vorgehen der Polizei, die mit Karabinern in die Menge schoss, kostete 90 Tote und 1.100 Verletzte. Der daraufhin ausgerufene Generalstreik wurde in Vorarlberg nur von Postbediensteten und Eisenbahnern befolgt. Landeshauptmann Ender reagierte mit der Einberufung des bewaffneten Heimatdienstes - des konservativen Wehrverbandes. Gendarmerie und Militär besetzten die bestreikten Bahnhöfe und schlugen den Streik nieder. Dies bedeutete nicht nur eine Niederlage der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Vorarlbergs, sondern zugleich eine eindrucksvolle Machtdemonstration der Christlichsozialen.

 

Auf dem Weg zum "neuen Menschen":
Arbeiterkultur und Arbeitersport in Vorarlberg

Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung kämpfte nicht nur um die politische und soziale Emanzipation der Arbeiterschaft. Sie versuchte zugleich, in ihren Vereinen ein eigenes kulturelles Umfeld zu entwickeln. Die zahlreichen Sport- und Kulturorganisationen der SDAP präsentierten sich alljährlich am 1. Mai der Öffentlichkeit. Den sozialdemokratischen Nebenorganisationen gelang es in Vorarlberg zwar nicht, die Mehrheit der einheimischen Arbeiter aus ihrem traditionellen Lebenszusammenhang zu lösen; sie boten aber vielen Arbeitseinwanderern eine neue soziale und politische Heimat.

1890

1. Mai wird erstmals als "internationaler Kampftag der Arbeiterklasse" begangen - auch in Bregenz und Dornbirn.

1898

Gründung des "Arbeiter-Gesangs-Vereins" Dornbirn

1900 - 1914

Entstehung von zahlreichen sozialdemokratischen Kultur- und Sportorganisationen

1919

1. Mai ist gesetzlicher Feiertag

1929

Rankweiler Marienwallfahrt als christliche Gegenveranstaltung zum 1. Mai

1933

Verbot der Maiaufmärsche

1934

Zerschlagung der Arbeiterkulturorganisationen

Neben der Sozialdemokratischen Partei und verschiedenen Branchengewerkschaften wurden in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in Vorarlberg auch die ersten Arbeiterkultur- und -sportvereine gegründet. Diese Vereine kamen einem Freizeitbedürfnis der Arbeiter nach und führten auch zu einer engeren Bindung an die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen. Gleichzeitig boten sie einen eigenständigen Lebenszusammenhang außerhalb der bürgerlichen Welt.

Wichtig waren

  • Theatergruppen, die Volksstücke mit zum Teil politischen Inhalten spielten;

  • Arbeiter-Gesangsvereine: Sie waren die Träger einer neuen proletarischen Festkultur. Ihr Programm umfasste nicht nur traditionelles Liedgut, sondern auch Arbeiterlieder und Volkslieder mit politischen Texten. Eigene Arbeiter-Musikkapellen waren für die Vorarlberger Sozialdemokratie zunächst kaum erschwinglich;

  • Sportvereine: Schon um die Jahrhundertwende wurden in Vorarlberg die ersten Arbeiterradfahrvereine, Ortsgruppen des Touristenvereins Naturfreunde und Arbeiterturnvereine gegründet.

 

Auch die katholische Arbeiterbewegung hatte sich mit einer Vielzahl von Vereinen (z.B. Theater-, Gesangs- und Sportvereinen) mitgliederstarke Nebenorganisationen geschaffen.

Während der Ersten Republik (1918 - 1934) bekamen die Nebenorganisationen für die politische Strategie der SDAP eine besondere Bedeutung.

Entsprechend der Theorie des "Austromarxismus" sollte die Erziehung zum "neuen Menschen" den Sozialismus vorbereiten. Die Bemühungen galten daher nicht nur der kulturellen und sportlichen Freizeitgestaltung, sondern vor allem der Bildungsarbeit und der Kindererziehung. In Vorarlberg wurden unter den sozialdemokratischen Nebenorganisationen besonders der "Freidenkerbund" und der Verein "Freie Schule - Kinderfreunde" wegen ihrer antikirchlichen Orientierung heftig angegriffen.

Die sozialdemokratischen Nebenorganisationen konnten zwar in Vorarlberg nur einen Teil der einheimischen Arbeiter aus den traditionellen Bindungen an Kirche, Dorf und Bauernhof lösen, für die "heimatlosen" Arbeitseinwanderer spielten sie aber eine überaus wichtige Rolle: Sie gaben sozialen und kulturellen Halt und boten ihnen damit eine neue Heimat.

 

1. Mai
Der "Kampftag der Arbeiterklasse"

Der 1. Mai wurde durch den Internationalen Arbeiterkongress 1889 zum Kampf- und Festtag der Arbeiterklasse erklärt. Anfangs wurde dieser Tag freilich fast nur von Handwerkern gefeiert. Später wurde daraus jener Tag, an dem die sozialistische Arbeiterbewegung "Heerschau" hielt:

Alle ihre Gruppen und Vereine präsentierten sich am 1. Mai der Öffentlichkeit: die Radfahrer und Naturfreunde, die Turner und Theatergruppen, die Frauen-, Jugend- und Kinderorganisationen, die Sänger und - in Vorarlberg erstmals 1926 - auch der Republikanische Schutzbund. An diesem Tag gehörte die Straße den Arbeitern: Da wurde die eigene Kampfstärke demonstriert und die angestrebte sozialistische Gesellschaftsordnung kurzfristig vorweg genommen.

Die Größe der Aufmärsche am 1. Mai zeigte die jeweilige Stärke der Arbeiterbewegung an: Die Teilnehmerzahlen wurden in Vorarlberg im Laufe der zwanziger und frühen dreißiger Jahre immer geringer. Die Behörden unterwarfen zugleich die Mai-Umzüge zunehmenden Beschränkungen: 1925 wurde die Teilnahme von Kindern verboten, 1930 durften die Lokomotiven nicht mehr geschmückt werden, 1933 wurden die Umzüge ganz verboten. In den Städten - zum Beispiel in Bregenz - spazierten die Sozialdemokraten an jenem 1. Mai statt dessen dicht gedrängt und unter Gendarmerie-Bewachung auf den Gehsteigen.

1929 hatte in Vorarlberg die katholische Kirche erstmals zu einer Gegenveranstaltung zum "roten Mai" aufgerufen: zu einer Lichterprozession zur Rankweiler Liebfrauenkirche am Vorabend des 1. Mais, gefolgt von einer mächtigen Mai-Feier am nächsten Tag.

 

"Saubere Genossinnen":
Frauen in der Vorarlberger Arbeiterbewegung

Obwohl der Anteil der Frauen an der Vorarlberger Fabrikarbeiterschaft immer sehr groß war - in der Textilindustrie lag er meist über 50 % -, spielten Frauen in der Arbeiterbewegung nur selten eine aktive Rolle. Dies lag am überaus großen gesellschaftlichen Druck, dem Frauen ausgesetzt waren, aber auch am patriarchalischen Verhalten selbst der Sozialdemokraten. Erst während des Ersten Weltkriegs, als viele Männer an der Front standen, wurden Frauen stärker in die Parteiarbeit einbezogen. Nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1919 fanden Frauen in der Politik mehr Beachtung. Das Bild von der "neuen Frau", die selbstbewusst und aktiv am politischen Geschehen teilnimmt, blieb aber Vorarlberg weitgehend eine sozialdemokratische Utopie.

1845

50 % der Vorarlberger Industriearbeiter sind Frauen, 37 % Männer und 13 % Kinder.

1860

Der Jahresverdienst von Frauen in der Baumwollindustrie liegt bei 6.100 Kreuzern (Männer 10.300) und damit unter dem Existenzminimum

1867

Vereinsgesetz schließt Frauen von politischer Betätigung aus

1870

Beginn der italienischen Textilarbeiterinnen, deren Löhne noch unter jenen einheimischer Arbeiterinnen liegen

1897

Sozialdemokratische Rednerin Therese Nötscher wird in Hohenems niedergeschrieen.

1907

Gründung der sozialdemokratischen Frauenorganisation in Vorarlberg

1919

Frauenwahlrecht

Wenn von den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts die Rede ist, wird oft vergessen, dass vor allem die Frauen unter diesen Bedingungen zu leiden hatten. Immerhin waren gerade in der wichtigsten Industriebranche Vorarlbergs, der Textilindustrie, mindestens die Hälfte der Beschäftigten Frauen. Viele dieser Frauen mussten sich neben ihrer 12-14stündigen Arbeit noch um Haushalt und Kinder kümmern und verdienten überdies wesentlich weniger als die Männer.

Trotzdem spielten Frauen in der frühen Arbeiterbewegung keine aktive Rolle. In einer Situation, in der öffentlich auftretende Arbeiter von christlichsozialen Zeitungen als "Pöbel" und "rohe ungebildete Horde" beschimpft wurden, in einem Land, in dem sich kaum einer der Kontrolle von Verwandtschaft und Kirche entziehen konnte, war es für Männer schwierig, sich öffentlich zur Sozialdemokratie zu bekennen. Für Frauen war es so gut wie unmöglich. Das "Vorarlberger Volksblatt", das Organ der Christlichsozialen, bezeichnete die "sauberen Genossinnen" mit Ausdrücken wie "Huren" und "Abschaum der ganzen Umgebung". So war es kein Wunder, dass sich Frauen zunächst nur selten an öffentlichen Aufmärschen der Arbeiterschaft - etwa am 1. Mai - beteiligten, zumal noch das Vereinsgesetz von 1867 Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen verboten hatte. Zudem waren auch die meisten Sozialdemokraten der Überzeugung, Frauen verstünden ohnehin nichts von Politik.

Dennoch gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder Frauen, die sich öffentlich zu ihrer Gesinnung bekannten - z.B. Marie Leibfried, Maria Turek oder die besonders geschmähte Bludenzer Arbeiterin Maria Spagolla, für die Konservativen geradezu der Inbegriff eines "roten Weibsbildes". Die sozialdemokratische Vorarlberger Parteiführung veranlasste um 1907 die Gründung einer eigenen Frauenorganisation, die aber bis 1914 unbedeutend blieb. An Arbeitskämpfen - wie den Streiks zur Durchsetzung des Zehn-Stunden-Tages 1907/08 - waren aber dennoch oft Frauen beteiligt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges bekamen die Frauen große Bedeutung für die Sozialdemokratie, deren Mitgliederzahlen durch die Mobilmachung empfindlich zurückgingen. Die SDAP rief nun "die Frauen der Eingerückten an die Stelle der Männer". Der Aufruf hatte tatsächlich einigen Erfolg. Die Übernahme von Männerarbeiten und die alltägliche Konfrontation mit Versorgungsschwierigkeiten führten zu einer Politisierung der Frauen und zu einer Zunahme ihres Anteils in der SDAP.

Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Ausrufung der Republik bedeuteten für die Frauen endlich die Anerkennung ihrer politischen Rechte - sie erhielten zum ersten Mal das Stimmrecht. Die in Vorarlberg zusätzlich eingeführte Stimmpflicht bereitete den Sozialdemokraten allerdings einiges Kopfzerbrechen. Sie mussten (zurecht) befürchten, dass die - oft unter stärkerem kirchlichen Einfluss als die Männer stehenden - Frauen mehrheitlich jene Partei wählten, die ihnen die Pfarrer von der Kanzel herab empfahlen: die Christlichsoziale Volkspartei. Dennoch hielt es keine der Vorarlberger Parteien für notwendig, eine Frau in den Landtag zu entsenden. Wie in der Kirche, so hatte die Frau auch in der politischen Versammlung zu schweigen.

 

1927 bis 1933:
Auf dem Weg in den "Ständestaat"

Nach der Niederlage der Sozialdemokratie im Juli 1927 konnte sich die Vorarlberger Arbeiterbewegung nicht mehr aus der Defensive lösen. Auch das relativ gute Landtagswahlergebnis der SDAP im Jahr 1928 änderte nichts an der Schwächung von Sozialdemokratie und Freien Gewerkschaften. Währenddessen griff die Weltwirtschaftskrise - und damit die Arbeitslosigkeit - auch auf Vorarlberg über.

Die Christlichsozialen neigten österreichweit immer mehr dazu, ihre Macht durch die schrittweise Beseitigung der Demokratie und die Ausschaltung der Sozialdemokratie zu erweitern. In Vorarlberg strebten die Christlichsozialen zwar eine Ausweitung staatlicher Macht, jedoch bis zum Beginn der dreißiger Jahre nicht die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie an.

1928

Landtagswahlen (CVP 59 %, SDAP 21 %)

1929

"Schwarzer Freitag" an den amerikanischen Börsen (25. Oktober) - Beginn der Weltwirtschaftskrise

1930

Anti-Terror-Gesetz: Einschränkung gewerkschaftlichen Einflusses; SDAP bei Nationalratswahlen bundesweit stärkste Partei; bürgerliche Koalitionsregierung mit Bundeskanzler Ender

1932

letzte freie Landtagswahlen in Vorarlberg - starke Verluste der SDAP, Gewinne für KP und NSDAP (CVP 56,7 %, SDAP 15,6 %, NSDAP 10,5 %, KP 3,4 %)

1933

Jänner: Arbeitslosendemonstrationen in Vorarlberg

März

Parlamentsausschaltung durch Bundeskanzler Dollfuß

Nach der Niederschlagung des Juli-Streiks 1927 gelang es der Sozialdemokratie nicht, sich aus der Defensive zu lösen. Das relativ gute Wahlergebnis der SDAP bei den Landtagswahlen 1928 und die Großkundgebung gegen Bürgerkriegsrüstung und Faschismus im September 1929 in Dornbirn gaben der Sozialdemokratie nur kurzfristig Auftrieb. Die Resignation der Arbeiterschaft nahm angesichts der wirtschaftlichen Krisenerscheinungen und der Politik der Großparteien zu: Nach einer kurzen Phase der Vollbeschäftigung waren die Arbeitslosenzahlen schon Mitte der zwanziger Jahre wieder angestiegen. Ende 1929 griff die Weltwirtschaftskrise auch auf Vorarlberg über und die Arbeitslosigkeit nahm immer größere Ausmaße an. Im Winter 1932/33 erreichte sie mit 13.000 Arbeitslosen - ca. 30 % aller Beschäftigten - einen verheerenden Höchststand. Krankheiten wie Tbc griffen wieder um sich und die Wohnungsnot nahm zu. Die Vorarlberger Landesregierung versuchte das Problem mit Zwangsmaßnahmen zu lösen: Sie wies arbeitslose Einwanderer, Bettler und Obdachlose kurzerhand aus. Geholfen wurde den Armen und Obdachlosen kaum: Nur ein Bruchteil des Überschusses der Landeskasse wanderte in die Armenfürsorge.

In dieser Situation gewann die bis dahin bedeutungslose NSDAP an Gewicht: Sie wurde von einflussreichen Textilindustriellen unterstützt, fand aber auch unter der Arbeiterschaft mit ihren antikapitalistischen Parolen einigen Anklang. 1932 lag die NSDAP bei den Landtagswahlen mit 10,5 % hinter den Sozialdemokraten an dritter Stelle. Bemerkenswert ist auch das Auftreten der Kommunistischen Partei, die in Vorarlberg zwischen 1923 und 1931 praktisch nicht existiert hatte: 1932 und 1933 organisierten die Kommunisten mehrere Demonstrationen, unter anderem eine große Arbeitslosen-Demonstration in Bregenz. Bei den Landtagswahlen 1932 erreichten sie 3,4 % der Stimmen.

Die SDAP hatte gegenüber den Landtagswahlen von 1928 ein Viertel ihrer Stimmen verloren und lag nun bei 15,6 %. Viele Arbeiter waren politikmüde geworden - 7 % der Wahlberechtigten gaben trotz Wahlpflicht ihre Stimme nicht ab oder wählten ungültig. Ein solches Ergebnis bedeutete einen Einbruch in die Kernwählerschichten der Sozialdemokratie.

Die ab Beginn der dreißiger Jahre auch in Vorarlberg deutlich werdende Politik der Christlichsozialen und der nationalen Rechtsparteien, die eine Ausschaltung der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften anstrebte, trug ihre Früchte - allerdings auch zum Nachteil der christlichen Arbeiterbewegung. Der Dornbirner Priester Dr. Karl Drexel, seit der Jahrhundertwende der Motor der christlichen Arbeiterbewegung Vorarlbergs, hatte bereits 1929 die Gefahr gesehen, dass eine Schwächung und die Ausschaltung der Sozialdemokratie auch einen schweren Schlag gegen die christliche Arbeiterbewegung bedeuten würde. Im März 1933 schaltete dann aber Bundeskanzler Dollfuß das Parlament aus und liquidierte schrittweise die demokratischen Freiheiten, ohne dass sich die christliche Arbeiterbewegung dagegen zur Wehr setzte.

 

Vorarlberg 1933/34:
Das Ende der Demokratie

Nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 regierte das Kabinett Dollfuß ohne demokratische Kontrolle mit Hilfe von Notverordnungen. Die Vorzensur wurde eingeführt, der Republikanische Schutzbund aufgelöst, öffentliche Versammlungen und Streiks verboten. Innerhalb der Vorarlberger Arbeiterbewegung breitete sich immer mehr Resignation aus. So blieb es auch ruhig, als am 12. Februar 1934 im übrigen Österreich Kämpfe zwischen sozialdemokratischen Schutzbündlern und Polizei, Bundesheer sowie Heimwehren ausbrachen.

März 1933

Parlamentsauflösung, Einführung der Vorzensur, Auflösung des Schutzbundes

April 1933

Streikverbot

Mai 1933

Verbot des Maiaufmarsches, Gründung der "Vaterländischen Front", Verbot der Kommunistischen Partei

Juni 1933

Verbot der NSDAP

November 1933

Wiedereinführung der Todesstrafe vor Standgerichten

12. Februar 1934

Waffensuche im Linzer Arbeiterheim löst bewaffneten Widerstand des Schutzbundes und tagelange Kämpfe aus; Einführung des Standrechts (nicht in Vorarlberg), Verbot der SDAP und der Freien Gewerkschaften

Mit der Parlamentsauflösung im März 1933 hatte die Regierung Dollfuß den ersten Schritt zur Errichtung der Diktatur vollzogen. Aber ihre Gegner - Sozialdemokraten und Kommunisten auf der einen, Nationalsozialisten auf der anderen Seite - waren noch nicht geschlagen. Der Einführung der Vorzensur, die auch die sozialdemokratische "Vorarlberger Wacht" zu spüren bekam, folgten ein Versammlungsverbot und die Auflösung des Republikanischen Schutzbundes. Der Schutzbund war allerdings in Vorarlberg nie eine Gefahr für die Regierenden gewesen: Er verfügte nur über knapp 350 Mitglieder sowie einige Pistolen und diente vor allem als Versammlungsschutz. Im April 1933 wurde ein Streikverbot verkündet - und das Verbot der traditionellen Maiaufmärsche. Statt dessen gingen am 1. Mai in Bregenz, Bludenz und anderen Orten viele Arbeiter demonstrativ "spazieren".

Der autoritäre Kurs der Regierung änderte nichts am beachtlichen Zulauf zur NSDAP, von der sich viele eine Lösung der drückenden wirtschaftlichen Probleme erhofften. Die Dollfuß-Regierung sah jedoch die Gefahr noch immer "links" und verbot noch im Mai 1933 die Kommunistische Partei, die in Vorarlberg seit Februar nicht mehr in Erscheinung getreten war. Dann folgte die Gründung der "Vaterländischen Front", der späteren Einheitspartei des austrofaschistischen Systems. Nach einer Reihe von nationalsozialistischen Sprengstoffanschlägen wurde im Juni 1933 auch die NSDAP verboten.

Im Winter 1933/34 folgten Hausdurchsuchungen und Waffensuchen bei sozialdemokratischen Funktionären - im wesentlichen ohne Erfolg. Die Behörden bereiteten währenddessen den letzten Schritt zur Ausschaltung der organisierten Arbeiterbewegung vor. Dieser Schritt erfolgte in Vorarlberg nach dem Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen in Linz am 12. Februar 1934 ohne Probleme: Die Verbände von Heimwehr, Bundesheer und Gendarmerie waren wohlvorbereitet und gut bewaffnet, die Vorarlberger Sozialdemokraten waren längst in der Defensive und nach der Festnahme maßgeblicher Funktionäre ohne Führung. Am 20. Februar kam der für viele Sozialdemokraten enttäuschende Aufruf ihres Parteisekretärs Linder, "sich mit den gegebenen Tatsachen abzufinden". Die "gegebenen Tatsachen" waren die Auflösung der Sozialdemokratischen Partei, Durchsuchungen, Verhaftungen und in anderen Bundesländern die standrechtliche Hinrichtung von Schutzbündlern. Die linke Arbeiterbewegung Österreichs wurde damit endgültig in die Illegalität gedrängt und der Handlungsspielraum der christlichen Arbeiterbewegung noch weiter beschnitten.

 

"Soldaten der Arbeit"
Vorarlberger Arbeiterschaft während der NS-Zeit

"Arbeit und Brot" hatten die Nationalsozialisten der Arbeiterschaft versprochen. Doch die Realität sah nach dem "Anschluss" im März 1938 ganz anders aus: Die Wirtschaft wurde in den Dienst des Krieges gestellt, den das NS-Regime im September 1939 begann. Dies bedeutete systematische Ausbeutung der Arbeiterschaft, Militarisierung des Betriebslebens und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen. Noch schlimmer war die Lage für die ausländischen Zwangsarbeiter, die auch in Vorarlberg auf Großbaustellen und in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Obwohl die Überwachung perfekt war und furchtbare Strafen drohten, leisteten viele Arbeiter Widerstand gegen das unmenschliche System. 42 Vorarlberger Arbeiterinnen und Arbeiter wurden hingerichtet oder in Gefängnissen und Konzentrationslagern zu Tode gebracht.

1938 - April

"Volksabstimmung" über den vollzogenen Anschluss

1939 - 1. September

Beginn des Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Überfall auf Polen

Oktober

Hitler-Mussolini-Abkommen über die Aussiedlung der Südtiroler - Bau von Südtirolersiedlungen in Vorarlberg

1939/40

erster Einsatz von ausländischen Zwangsarbeitern beim Bau der Kraftwerke Rodund und Obervermunt

1943 - Februar

Deutsche Niederlage bei Stalingrad - Aufruf zum "totalen Krieg" - Kürzungen der Lebensmittelrationen

1945 - Mai

Einmarsch französischer Truppen in Vorarlberg

Vor allem kriegswichtige Wirtschaftsmaßnahmen - Rüstungsaufträge, große Bauprojekte (Stauseen der Illwerke, Straßenbauten) und die Einführung des Reichsarbeitsdienstes - führten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Vorarlberg zu einem spürbaren Rückgang der Arbeitslosigkeit. Die Illusion, das NS-Regime könnte tatsächlich seine Versprechungen von "Arbeit und Brot" halten, währte aber nur kurz: Der Beginn des Zweiten Weltkrieges durch den deutschen Überfall auf Polen führte zu einer Anpassung sämtlicher Lebensbereiche an die Erfordernisse des Krieges. So mussten einige Betriebe, die keine Wehrmachtsaufträge ausführten, schließen. Arbeiter wurden an die Front geschickt oder zwangsweise in kriegswichtige Betriebe außerhalb des Landes verschoben.

Das Abkommen zwischen Hitler und Mussolini über die Aussiedlung der Südtiroler brachte eine vorübergehende Belebung der Bauwirtschaft, da 1940 bis 1942 fast 2.000 Wohnungen für die Südtiroler Umsiedler fertiggestellt wurden.

Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik hatte nach Kriegsbeginn zwei Ziele: die Ermöglichung der Kriegsführung und die Befriedigung der Interessen jener Industriellen, mit deren Hilfe die NSDAP an die Macht gekommen war. Dies bedeutete immer stärkeren Druck auf die Arbeiterschaft. Die Löhne wurden gekürzt, die Arbeitszeit wurde auf bis zu 60 Wochenstunden verlängert und die Rechte der Arbeiter noch mehr beschnitten. In der "Betriebsgemeinschaft" herrschte militärischer Drill; der Unternehmer wurde zum "Führer" erklärt, die Arbeiter unterlagen einer ständigen Kontrolle durch die Gestapo, "Verfehlungen" wurden mit Geldbußen, Arrest oder der Einweisung in das "Arbeitserziehungslager" Reichenau bei Innsbruck bestraft.

Noch schlimmer als den Einheimischen ging es den Fremden, die diesmal zum Großteil unfreiwillig nach Vorarlberg gekommen waren: weit über 10.000 Fremdarbeiter und Kriegsgefangene wurden vor 1945 auf Großbaustellen der Illwerke, in verschiedenen Großbetrieben und in der Landwirtschaft eingesetzt - ohne Rechte, von den Einheimischen möglichst getrennt und meist unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Die ausländischen Arbeiter hatten bei Verstößen gegen die strengen Vorschriften mit der Einweisung in Arbeitslager, KZs oder sogar mit der Todesstrafe zu rechnen.

Ein organisierter Widerstand gegen diese Zustände war im NS-Staat nur schwer möglich. Die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung hatte bereits der Austrofaschismus besorgt; die Nationalsozialisten richteten die "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) ein, eine Einheitsorganisation von Unternehmern und Arbeitnehmern. Die DAF kümmerte sich um die ideologische Ausrichtung und Gleichschaltung der Arbeiterschaft und um die Wiederherstellung der Arbeitskraft in der Freizeit (''Kraft durch Freude" - Veranstaltungen), keineswegs aber um die Rechte der Arbeiter.

Obwohl Widerstand gegen die NS-Politik lebensgefährlich war, gab es auch in Vorarlberg in vielen Bereichen Widerstand und Widersetzlichkeit von Arbeitern. Dieser Widerstand fand seinen Ausdruck hauptsächlich in Arbeitsverweigerung, Sabotage, politischer Agitation und humanitärer Hilfe für ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter. Wegen solcher "Verbrechen" an der heimischen "Arbeitsfront" kamen Dutzende Vorarlberger ins Gefängnis oder ins KZ, einige wurden hingerichtet. 42 Vorarlberger Arbeiter- und Arbeiterinnen verloren durch Terrormaßnahmen des NS-Regimes ihr Leben.

 

Schichtwechsel
Vorarlberger Arbeiterbewegung 1945/46

Mit dem Einmarsch französischer Truppen in Vorarlberg Anfang Mai 1945 endeten sieben Jahre faschistischer Herrschaft, deren Terror jegliche organisierte Arbeiterbewegung unmöglich gemacht hatte. Nach den Erfahrungen unter dem NS-Regime stand für christliche, sozialdemokratische und kommunistische Politiker und Gewerkschafter zunächst das gemeinsame Handeln im Vordergrund. Doch schon im Vorfeld der ersten Landtagswahlen im November 1945 begann der "Burgfrieden" wieder aufzubrechen, die unterschiedlichen Standpunkte traten stärker hervor. Die Wahlen brachten einen klaren Sieg der ÖVP, aber auch die SPÖ erzielte ein weit besseres Ergebnis als jemals zuvor und zog mit sieben Abgeordneten in den 20köpfigen Landtag ein. 1945 wurde auch die Gewerkschaft wieder aufgebaut: diesmal jedoch als Einheitsgewerkschaft mit fraktioneller Gliederung. Im Juni 1946 folgte die Wiedererrichtung der Arbeiterkammer.

29.4.- 6.5.1945

Einmarsch französischer Truppen in Vorarlberg

24.5.1945

Gründung des "Vorarlberger Landesausschusses" (oberste zivile Verwaltungsbehörde)

17.9.1945

Zulassung von ÖVP, SPÖ und KPÖ

25.11.1945

erste Nationalrats- und Landtagswahlen in der Zweiten Republik

8.12.1945

erste Landeskonferenz des Österreichischen Gewerkschaftsbundes für Vorarlberg

22.6.1946

Wiedererrichtung der Vorarlberger Arbeiterkammer

Durch den Einmarsch französischer Truppen zwischen dem 29. April und dem 6. Mai 1945 wurde der nationalsozialistische Machtapparat in ganz Vorarlberg beseitigt. Sozialistische, christliche und kommunistische Politiker und Gewerkschafter hatten - zum Teil in Gefängnissen und Konzentrationslagern - erfahren müssen, welche verheerenden Konsequenzen eine gespaltene und schwache Arbeiterbewegung haben kann. In den ersten Monaten nach dem Kriegsende - Parteien waren noch nicht wieder zugelassen - stand deshalb gemeinsames Handeln im Vordergrund. In den Stadträten und der überparteilichen "Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung" waren Aktive aller drei Parteien vertreten. Im "Vorarlberger Landesausschuss", der obersten zivilen Verwaltungsbehörde, saßen drei Sozialisten und fünf Christlichsoziale. Mit Ulrich Ilg stand ein führender Politiker der Jahre vor 1938 an der Spitze des Landesausschusses.

Nach der Zulassung von ÖVP, SPÖ und KPÖ durch die französische Militärregierung im September I945 traten die unterschiedlichen Standpunkte, besonders im Wahlkampf für die Nationalrats- und Landtagswahlen vom November 1945, wieder stärker hervor. Während die ÖVP sich möglichst unpolitisch gab und das Gemeinwohl in den Vordergrund rückte, erinnerten SPÖ und KPÖ auch an die Zeit vor der NS-Herrschaft und an die Ursachen des Faschismus.

Die Wahlen vom 25. November brachten einen klaren Sieg für die ÖVP (70%), aber auch einen Stimmenanstieg der SPÖ, die mit mehr als 27 % der Stimmen weit über ihren Ergebnissen von 1930 und 1932 lag. Obwohl 15.000 ehemalige Nationalsozialisten nicht zu den Wahlen zugelassen waren, dürfte der Wählerzuwachs von ÖVP und SPÖ aus jenem sozialen Lager gekommen sein, das früher für eine der kleineren Rechtsparteien gestimmt hatte.

Enttäuschend waren die Wahlergebnisse von 1945 für die KPÖ (2,4 % der Stimmen). Sie musste ihre Hoffnungen auf einen stärkeren Einfluss in Vorarlberg - den sie in den Monaten nach Kriegsende durchaus gehabt hatte - wieder begraben.

Kurz nach den Wahlen erfolgte auch die Wiedererrichtung der Arbeitnehmervertretungen. Zunächst wurde mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) die neue Einheitsgewerkschaft gegründet, die aus drei Fraktionen bestand - den sozialistischen, christlichen und kommunistischen Gewerkschaften. Die erste Landeskonferenz des ÖGB Vorarlberg am 8. Dezember 1945 erklärte den Abschluss von Kollektivverträgen, die Entnazifizierung der Wirtschaft und die betriebliche Mitbestimmung zu ihren wichtigsten Zielen. Eine Entnazifizierung der Vorarlberger Wirtschaft fand allerdings nie statt.

Der erste Sekretär des Gewerkschaftsbundes, Anton Linder, wurde im Juni 1946 auch zum Präsidenten der Vorarlberger Arbeiterkammer gewählt, seine Stellvertreter wurden Josef Kraft (ÖVP) und Josef Noflatscher (KPÖ). Die Gründungsvollversammlung der Arbeiterkammer stellte - im Gegensatz zur Gewerkschaft - keine gesellschaftspolitischen, sondern lohnpolitische und arbeitsrechtliche Forderungen.

 

Ausstellung 1984 - Plakat

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