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Markus Barnay (1987): Märchenonkel gegen Nestbeschmutzer. Anmerkungen zum "Historikerstreit" in Vorarlberg

Ein Beitrag zur Geschichte der (neueren) Landesgeschichtsschreibung - das Ende des Vorarlberg-Zentrismus und der Alemannen-Mythologie. Ein Ende mit Ächzen und Stöhnen, mit Hauen und Stechen, doch immerhin: ein Ende.

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Markus Barnay

Märchenonkel gegen Nestbeschmutzer

Anmerkungen zum "Historikerstreit" in Vorarlberg

 

Erschienen in: Allmende. Eine alemannische Zeitschrift, Heft 18/19, 1987, S. 210-218

 

"Im Geschichtswerk von Benedikt Bilgeri", lobte ein Redakteur der "Vorarlberger Nachrichten" (VN) den Träger des von den VN verliehenen Toni-Ruß-Preises 1985, "zieht sich der Faden auch jener Motive und Argumente durch, die zu den lebendigen Föderalismusbestrebungen in Vorarlberg auch unserer Zeit und Tage geführt haben, mit dem vorläufigen Höhepunkt der Föderalismusvolksabstimmung vom Juni 1980."

Eine solche Verknüpfung bestimmter historischer Leitbilder mit aktuellen Ereignissen gehört in Vorarlberg zum Alltag. Die konservativen Landespolitiker führen die "demokratische Geschichte des Landes" und andere historische Traditionen und Mythen stets im Munde, wenn es um die Rechtfertigung aktueller Ereignisse geht: "Seit jeher sind wir Föderalisten" (ÖVP-Klubobmann Herbert Sausgruber) lautet einer der Leitsätze der ÖVP, und um dies zu unterstreichen, wird ein ums andere Mal die Geschichte des Landes bemüht.

Den historischen Stoff für ihre Argumentationen liefert den Politikern die traditionelle Landesgeschichtsschreibung, die sich einer entsprechend sorgfältigen Pflege erfreuen darf. Daß die Vorarlberger Historiographie entsprechend schönfärberisch ausfällt, ist naheliegend, entspricht aber ohnehin einer allgemeinen Tendenz traditioneller Regionalgeschichtsschreibung. So ließ die Vorarlberger Geschichtsschreibung bis vor wenigen Jahren beispielsweise die Geschichte der letzten hundert Jahre weitgehend links liegen. Da erfuhr der Mythos vom ehemaligen "freien Rätien" allemal mehr Aufmerksamkeit als etwa die politische Entwicklung nach der konservativen Machtübernahme im Landtag (1870) oder die Zeit der austrofaschistischen bzw. nationalsozialistischen Diktatur.

Als sich jüngere, kritische Historiker vor fünf Jahren in der "Johann-August-Malin-Gesellschaft" zusammenschlossen (vgl. Allmende 7, S. 147-150) und in der Folgezeit mehrere Studien über die neuere Vorarlberger Landesgeschichte - darunter jene über "Verfolgung und Widerstand 1933-1945" (vgl. Allmende 11, S. 103-109) - präsentierten, war die Unruhe unter den Gralshütern des traditionellen Geschichtsbildes durchaus spürbar. Eine der Konsequenzen war die jüngst erfolgte Einrichtung einer Zweigstelle des Ludwig-Boltzmann-Institutes, die sich - unter der wissenschaftlichen Gesamtleitung des konservativen Sozialdemokraten Prof. Norbert Leser - der Erforschung von "alemannisch akzentuierten Fragenbereichen" widmen soll. Die neue Forschungseinrichtung soll innerhalb der Landesregierung mit der Begründung durchgesetzt worden sein, sie diene der "Neutralisierung der Malin-Gesellschaft". Das bisher vorgelegte Arbeitsprogramm, das zunächst zwei Biographien bekannter Persönlichkeiten vorsieht, läßt allerdings nicht erwarten, daß diesem Versuch Erfolg beschieden sein wird.

 

Personalisierung des Konflikts

 

Eine direkte Konfrontation zwischen Vertretern der traditionellen Geschichtsschreibung und jenen Historikern, die in methodischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht neue Akzente setzten, blieb aber weitgehend aus. Einzig der Feldkircher Honorarprofessor und Hobbyhistoriker Theodor Veiter versuchte in den VN und verschiedenen kleineren Gazetten sowie in Briefen, deren Inhalt schon mancherorts zur Erheiterung beitrug, vor dem "Umschreiben" der Landesgeschichte "aus ,linker' Sicht" zu warnen - freilich ohne Resonanz.

Die Historiker selbst hielten sich eher zurück. So war die Öffentlichkeit ziemlich erstaunt, als im November letzten Jahres der sogenannte "Historikerstreit" öffentlich ausbrach. Die Brisanz der Auseinandersetzung ergab sich dabei vor allem aus den handelnden Personen: Auf der einen Seite stand der Landesoberarchivrat Dr. Benedikt Bilgeri, Verfasser der fünfbändigen "Geschichte Vorarlbergs" und in gewissem Sinne die Personifizierung der traditionellen Landesgeschichtsschreibung, auf der anderen nicht etwa einer der jungen Historiker, sondern der Direktor des Vorarlberger Landesarchivs DDr. Karl Heinz Burmeister, Autor einer einbändigen Kurzfassung der "Geschichte Vorarlbergs" und in fachlicher Hinsicht "Historiker Nummer eins" in Vorarlberg.

Rumort hatte es zwischen den beiden schon lange, aber bis November 1986 waren die Differenzen zwischen Burmeister und Bilgeri fast nur in Fachkreisen bekannt. Wohl drang hin und wieder etwas über das gespannte Verhältnis der beiden Tür an Tür arbeitenden Historiker an die Öffentlichkeit - etwa, als Burmeister seinem Kollegen im Rahmen einer Buchbesprechung vorwarf, daß er dem "Grundsatz der Schönfärberei huldigt", als er in einer anderen Buchrezension den "im Sturm fachlicher Rezensionen angeschlagenen Viermaster ,Benedikt Bilgeri'" erwähnte, oder als Honorarprofessor Veiter 1985 beklagte, daß Bilgeri im Schatten von Burmeister "und unter dessen kaum glaublicher bis zur Verfolgung reichender Diskriminierung" arbeiten müsse. Zum Ausbruch kam der schwelende Konflikt aber erst durch ein vergleichsweise harmloses Rundfunkgespräch.

Der "fröhliche Stoiker" (Neue Vorarlberger Tageszeitung) Burmeister hatte in dem Gespräch anläßlich seines 50. Geburtstages seinem dreißig Jahre älteren Kollegen auf entsprechende Fragen vorgeworfen, daß jener "nur das Positive darstellt", "in einer sehr beschönigenden Form Geschichte schreibt ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse" und aus politischen Gründen eine "geradezu antiösterreichische Geschichte" verfasse. Diese Form der Geschichtsschreibung könne man "in gewisser Hinsicht" auch als politische Propaganda bezeichnen.

Burmeister sprach damit aus, was viele - vor allem jüngere - Historiker längst dachten und auch hin und wieder zu Papier gebracht hatten. Auch der Tenor der Fachkritik über Bilgeris "Geschichte Vorarlbergs" entspricht weitgehend Burmeisters Einschätzung. Schon nach dem Erscheinen des dritten Bandes - 1977 - wurden Bedenken laut, ob es vertretbar sei, das vom Land mit großen Summen geförderte und zumindest "offiziöse" Werk Bilgeris "in solcher Einseitigkeit" weiterzuführen. Der Journalist Wise Köhlmeier schrieb damals: "Wer eine ausgeglichene Darstellung mit nüchtern abwägendem Für und Wider in der Bewertung der Geschehnisse und Persönlichkeiten erwartet, muß schon beim ersten Überblättern betroffen feststellen, daß er unversehens mitten auf ein Schlachtfeld geraten ist, auf dem mit Hieb und Stich vorgefaßte Thesen verteidigt werden."

 

Ideologische Geschichtsschreibung

 

Tatsächlich lesen sich Bilgeris Bände über weite Strecken eher wie eine ideologische Kampfschrift als eine historische Darstellung - soweit sie sich überhaupt lesen lassen, verschwinden doch oft genug alle Zusammenhänge unter einem ungeheuren und in sich völlig unausgewogenen Berg von Zahlen, Fakten und Zitaten. Ein Zusammenhang ergibt sich da oft nur noch aus den Kapitelüberschriften, die in ihrer plakativen Einseitigkeit bisweilen noch über die Aussage im Text selbst hinausgehen. Der vierte Band der Landesgeschichte (Untertitel: "Zwischen Absolutismus und halber Autonomie") beginnt beispielsweise mit einem "Angriff des Absolutismus" Anfang des 18. Jahrhunderts. Die "versuchte Unterjochung der Stände", der "neue Schlag gegen die Landesverfassung", der "Anschlag auf die Wehrverfassung" und der "schwere Hauptangriff" durch das Regime Maria Theresias konnten allerdings von den vorarlbergischen Landständen - bei Bilgeri die Helden der Landesgeschichte - erfolgreich abgewehrt werden. Und auch Joseph II. "entmündigt das Volk und scheitert" Ende des 18. Jahrhunderts. Nicht verhindern konnten die Stände aber "die bayrische Knechtschaft" ab 1805, und auch nach dem Ende dieser "Fremdherrschaft" blieben die Vorarlberger "enttäuscht und rechtlos unter Metternichs Polizeiherrschaft". Selbst nach der Erringung der "halben Autonomie" in Form eines eigenen Landtages sah sich das geplagte Vorarlberg in Bilgeris Weltbild ein ums andere Mal einem "feindseligen Regime" gegenüber, das dem kleinen Land am Bodensee nicht nur "ständige Verachtung" zollte, sondern zugleich unentwegt damit beschäftigt war, den Landespolitikern das Leben schwer zu machen. Zugutegehalten wurde dem unermüdlichen Quellenforscher Bilgeri auch von Kritikern stets seine leidenschaftliche Parteinahme gegen die Obrigkeit, die für ihn persönlich zum Lebensprinzip gehört. Doch diese Distanz gegenüber den Mächtigen endet in Bilgeris Geschichtsschreibung dort, wo es sich aus seiner Sicht nicht mehr um eine "Fremdherrschaft" handelt. Über die realen Herrschaftsverhältnisse in Vorarlberg sah er immer großzügig hinweg. So rückte er denn auch Vorarlberg "in der Geschichte der Demokratie an die vorderste Stelle" und schrieb alles, was diesem Bild widersprach, äußeren oder inneren Störenfrieden zu ‑ Fremden eben, oder "innerlich Landfremden".

 

Herrschaftsgeschichte im Auftrag des Landes

 

Es ist verständlich, daß ein Historiker, der auch die bestehende Herrschaft rechtfertigt, indem er alle negativen Entwicklungen äußeren Einflüssen zuschreibt, in den Augen der Landesregierung prädestiniert erschien, eine umfassende "Geschichte Vorarlbergs" zu schreiben. 1964 erhielt Benedikt Bilgeri vom Land Vorarlberg einen Sondervertrag, der ihm diese Arbeit ermöglichen sollte. Unmittelbarer Auftraggeber war der kürzlich verstorbene Landesamtsdirektor Elmar Grabherr, der schon damals wegen seiner eigentümlichen Theorien über die Besonderheit der Vorarlberger bekannt war - auf sein Konto geht beispielsweise der als "Alemannenerlaß" bezeichnete Versuch, die nach 1945 abgeschaffte "Landesbürgerschaft" in Vorarlberg wieder einzuführen ‑ und der nach seiner Pensionierung die separatistische Initiative "Pro Vorarlberg" mitbegründete.

Der Vorgänger Karl Heinz Burmeisters als Leiter des Landesarchivs, Ludwig Welti, der selbst mit Grabherr wegen seiner mangelnden Anpassung an die politischen Vorgaben in Konflikt geraten und deshalb zeitlebens "provisorischer Leiter" des Archivs blieb und nie zum Direktor ernannt wurde, soll Bilgeri vorgeworfen haben, er sei "der Ideologie Grabherrs verpflichtet". Einem Aktenvermerk zufolge habe der Landesamtsdirektor die Anweisung gegeben, die Geschichte Vorarlbergs "unter besonderer Berücksichtigung der historischen Sonderstellung des Landes und seiner Beziehungen zur Schweiz" aufzuarbeiten. Der Beleg für diese unwissenschaftlichen Vorgaben unterliegt ‑ wie alle anderen Bestände des Landesarchivs - einer fünfzigjährigen Archivsperre und ist daher nicht überprüfbar. Es steht aber außer Zweifel, daß Grabherr ein ideologisch geprägtes Geschichtsbild pflegte - das letzte Zeugnis dafür lieferte er in seiner kürzlich erschienenen "Vorarlberger Geschichte", deren Zweck er so umschrieb: "Die vorliegende Schrift will dazu beitragen, das Geschichtsbewußtsein möglichst vieler Vorarlberger zu erweitern und zu stärken und so ihre geistige Landesverteidigung zu fördern."

Es ist aber fraglich, ob Bilgeri der Grabherrschen Vorgaben überhaupt bedurfte: "Seine Darstellung des freien Vorarlberg ist eine rückwärts gewandte Utopie (also reaktionär), an die er selber stets geglaubt hat, ohne sich der wesentlich niveautieferen Argumente Grabherrs bedienen zu müssen" (Kurt Bracharz in der Zeitschrift "Kultur").

Bilgeri hält sein Vorarlberg-Bild überdies mit einer Konsequenz aufrecht, die seinen Auftraggebern schon wieder unangenehm sein dürfte. Im jüngst veröffentlichten fünften und letzten Band der "Geschichte Vorarlbergs" (Untertitel: "Kanton oder Bundesland") bezichtigt er sämtliche Parteien und fast alle Spitzenpolitiker Vorarlbergs der Jahre 1918/19 mehr oder weniger direkt des Verrats an Land und Leuten, weil sie sich zu wenig dafür einsetzten, daß Vorarlberg nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Schweizer Kanton wurde: "Der unglückliche Ausgang der Schweizer Anschlußbewegung entschied die politische Zukunft des Landes. Österreich wurde Vorarlbergs Schicksal". (S. 89).

 

Der Streit wird öffentlich

 

Mit dieser "Chronologie einer politischen Enttäuschung" (Meinrad Pichler) vollendete der 80jährige Bilgeri sein Lebenswerk. Daß ihn der Direktor des Landesarchivs, in dessen Räumen Bilgeri 22 Jahre lang arbeitete, justament zu diesem Zeitpunkt öffentlich kritisierte, mag bei dem ehemaligen Gymnasiallehrer lang aufgestaute Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem ordentlichen Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Zürich und Privatdozenten an der Universität Innsbruck Karl Heinz Burmeister zum Ausbruch gebracht haben. Vier Tage nach Burmeisters Radiointerview schlug Bilgeri jedenfalls in den "Vorarlberger Nachrichten" zurück - und dabei deutlich über die Stränge:

"Seit Monaten versucht der Leiter des Vorarlberger Landesarchivs, DDr. Burmeister, meine ,Geschichte Vorarlbergs' in einer unanständigen, geradezu hysterischen Hetze in Druck und Rundfunk herunterzumachen ... Burmeisters rasende Profilierungssucht läßt ihm keinen anderen Ausweg, als alles um jeden Preis anders zu sehen, zu ,bearbeiten' bis zur groben Unwahrheit... In Wahrheit ist ihm die Geschichte Vorarlbergs, um die andere fünfzig Jahre bemüht waren, als Rheinländer von Krefeld und Wahl-Lindauer innerlich völlig fremd... Immer wieder treibt es ihn, Umarbeitungen vorzunehmen, mit Haß verfolgt er die Vorarlberger Tradition... Die freien Bregenzerwälder, Dornbirner, Vorderländer und Montafoner schwindelt er in seinen kleinen Machwerken zu Leibeigenen um... Diese systematische Verhunzung unserer in Wahrheit stolzen Geschichte setzt er auch für die Neuzeit fort... So zieht er herum, mit seinem Bündel grober Unwahrheiten, und sucht Vorarlbergs Geschichte auf seine eigene Trostlosigkeit zu nivellieren. Er schadet auch in Innsbrucks Hörsälen, wenn ein einsamer Hörer sich zu ihm verirrt."

Bilgeris verbaler Amoklauf allein hätte den "Vorarlberger Historikerstreit" noch nicht unbedingt in die Schlagzeilen der Tageszeitungen gebracht. Dafür sorgte erst eine redaktionelle Anmerkung aus der Feder des - inzwischen pensionierten - VN-Chefredakteurs Franz Ortner, in der es unter anderem hieß: "Die Vorarlberger Landesregierung sollte sich dieses Interview anhören und Burmeister zur Entschuldigung auffordern oder ihm nahelegen, das Ländle zu verlassen." Der Bannstrahl der "grauen Eminenz" Vorarlbergs, dem es schon einige Male gelang, hinter den Kulissen die politischen Fäden im Lande zu ziehen, traf den Direktor des Landesarchivs nicht nur, weil er am Denkmal sägte, das die VN Benedikt Bilgeri ein Jahr zuvor mit der Verleihung ihres Ehrenpreises errichtet hatten, sondern auch wegen Burmeisters Kommentar zur - von den VN getragenen - Initiative "Pro Vorarlberg": "Ich hab das von Anfang an als Unsinn betrachtet."

 

Rückfall in finstere Zeiten?

 

Ortners Aufforderung zum Landesverweis schlug hohe Wellen: Die "Johann-August-Malin-Gesellschaft" bezeichnete das Niveau der Auseinandersetzung in einer Aussendung als "nicht nur befremdlich, sondern beängstigend": "Drohungen mit Existenzvernichtung und Vertreibung von Andersdenkenden sind zwar in der Geschichte dieses Landes nicht neu - wie gerade die Arbeiten von Burmeister belegen ‑, doch glaubte man sie durch die schmerzlichen Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 überwunden."

"Mit Bestürzung" reagierten auch Professoren, Assistenten und Studenten der Universität Innsbruck. In einem Leserbrief, der nur in der "Neuen Vorarlberger Tageszeitung" erschien, warnten sie vor Versuchen, die Freiheit der Wissenschaft und das Grundrecht der freien Meinungsäußerung einzuschränken. Auch einige der "einsamen Hörer" von Burmeisters Vorlesungen über die Geschichte Vorarlbergs protestierten per Leserbrief gegen die VN-Angriffe. Und in einer bezahlten Anzeige, die wenige Tage nach Ortners Äußerungen ebenfalls im Konkurrenzblatt "Neue" erschien, forderten 180 Unterzeichner die politisch Verantwortlichen des Landes auf, "solchen Drohungen entgegenzuwirken." Auf eine entsprechende Anfrage erklärte Landeshauptmann Herbert Kessler im Landtag: "Ich habe mich in solche Dinge nie eingemischt, und werde das auch in Zukunft nicht tun."

Dennoch sah sich VN-Chefredakteur Ortner nunmehr veranlaßt, den Rückzug anzutreten - eine Seltenheit in der Geschichte der "Vorarlberger Nachrichten": "Wir werden uns nicht davon ablenken lassen, wegen einer vielleicht nicht sehr glücklichen Formulierung unsererseits die große Lebensleistung Benedikt Bilgeris zu verteidigen." Seine Aufforderung an die Landesregierung, Burmeister nahezulegen, das Ländle zu verlassen, könne nicht "irrtümlich als 'Landesverweisung' interpretiert werden", beteuerte Ortner und fügte wie eine Drohung hinzu: "Diese Diskussion wird bestimmt nicht verstummen, sondern ausgetragen werden."

Ein höheres Niveau als jenes von Bilgeris Replik fand sich für diese Diskussion in den VN aber nicht. Sie wurde nämlich mit einer Glosse des VN-Haushistorikers Christoph Vallaster fortgesetzt, in der dieser die Schmutzwäsche seiner persönlichen Erfahrungen mit Burmeister ausbreitete: Vallaster hatte 1979/80 im Landesarchiv gearbeitet und war dabei mit dem Archivdirektor in Konflikt geraten, weil der angeblich Krankenstände des Angestellten als "krank feiern" bezeichnet habe: "Im Sommer 1980 zog der Verfasser dieses Artikels dann die Konsequenzen und quittierte den Vorarlberger Landesdienst, verzichtete also wegen DDr. Burmeister auf eine Beamtenkarriere, um als freier Schriftsteller wieder ganz von vorne zu beginnen."

Die Enttäuschung über die verpatzte Karriere hatte den freien Schriftsteller Vallaster schon früher zu Ausfällen gegen Burmeister veranlaßt, so z. B. 1984, als er dessen offene Kritik an einem "Mangel an Aufklärung" und der "teilweise überzogenen Alemannentümelei" in Vorarlberg zum Angriff auf "uns Vorarlberger" und zur Kritik Burmeisters an "seinen alemannischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern" umdeutete. Und in einem VN-Artikel über das 40jährige Bestehen der landeskundlichen Zeitschrift "Montfort" wiederholte Vallaster die angeblich "gegen die Vorarlberger gerichteten" Äußerungen Burmeisters und verband damit die Anregung, dem Direktor des Landesarchivs die Schriftleitung der Zeitschrift zu entziehen.

 

Wenig Interesse an sachlicher Diskussion

 

In den VN fand die angekündigte Diskussion - abgesehen von einem Beitrag über die Rolle der Landstände - jedenfalls nicht statt. Vielleicht war sich Chefredakteur Ortner doch nicht so sicher, ob sie angesichts der neuen Generation kritischer Historiker, die andere Maßstäbe an Methodik und Seriosität der Geschichtsschreibung legt als Bilgeri, so ausgehen würde, wie sich das Franz Ortner wünscht.

Stattdessen nahm Karl Heinz Burmeister die Herausforderung an und vertiefte - in einem Volkshochschulvortrag im Januar - seine allgemeinen Vorwürfe mit Fakten und Details. Es fiel ihm freilich nicht besonders schwer, den selektiven und schönfärberischen Umgang Bilgeris mit der Wahrheit nachzuweisen: Dieser läßt beispielsweise immer wieder Fakten, die nicht in sein Weltbild passen, einfach weg ‑ auch wenn er die entsprechenden Quellen in ihren "genehmen" Teilen ausführlich zitiert. Oft genug "korrigiert" er auch historische Quellen, indem er das zitiert, was er herausliest, anstelle von dem, was wirklich darin steht. In manchen Fällen ist ein Studium der Quellen, die Bilgeri zitiert, allerdings nicht mehr möglich, weil sie inzwischen verschollen sind. Auf entsprechende Nachfragen deutet der Landesoberarchivrat auf einen riesigen Papierstapel in seinem Arbeitszimmer und erklärt, er wisse auch nicht, ob sich der gesuchte Akt vielleicht darunter befinde.

In seinem "Märchenwald der Freiheit" (Burmeister) verwischt Bilgeri nicht nur die Machtverhältnisse in Vorarlberg. Sein Geschichtsbild weist auch andere blinde Flecken auf - beispielsweise ignoriert er hartnäckig den traditionellen Antisemitismus im Land vor dem Arlberg, der sich vom ersten Auftreten jüdischer Einwanderer bis heute nachweisen läßt. Das erste Judenpogrom - 1349 in Feldkirch - kommt in Bilgeris "Geschichte Vorarlbergs" überhaupt nicht vor. Ein weiteres ‑ 1744 in Sulz ‑ übergeht er mit einigen lapidaren Sätzen, ohne das wahre Ausmaß der Übergriffe auch nur anzudeuten. Dabei wird gerade die Judenverfolgung von 1744 in der 1905 erschienenen "Geschichte der Juden in Hohenems" vom Rabbiner Aron Tänzer ausführlich dargestellt und mit zahlreichen Quellen belegt.

Ein Grund für Bilgeris Ignoranz gegenüber Judenverfolgungen und Antisemitismus ist leicht auszumachen: Drahtzieher und Propagandisten der Übergriffe waren nämlich meistens die vorarlbergischen Landstände - ausgerechnet jene "Sprecher des Volkes" (Bilgeri), die von ihm stets als die großen Freiheitskämpfer dargestellt werden. Die undistanzierte Art und Weise, wie Bilgeri antisemitische Vorurteile, die in verschiedenen historischen Auseinandersetzungen geäußert wurden, wiedergibt, läßt aber auch darauf schließen, daß er damit übereinstimmt - enthält er sich doch in anderen Fällen nie abfälliger Bemerkungen, wenn ihm bestimmte Positionen nicht passen. Im letzten Band der "Geschichte Vorarlbergs" zitiert er beispielsweise unkommentiert den Vorarlberger Nationalratsabgeordneten Emil Schneider, der die "Herrschaft des Judentums in Österreich" zum Grund für die Anschlußbewegung an die Schweiz erklärt hatte (S. 93). Und die Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit bezeichnet er selbst als "immer noch fremd empfundenen Vorposten im Lande... mit jüdisch durchsetzter Führung" (S. 90).

 

Wird die Geschichte Vorarlbergs neu geschrieben?

 

Die Diskussion über die Vorarlberger Geschichtsschreibung hat gerade erst begonnen und wird sicher noch einige Zeit anhalten. Die Frage ist, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Bilgeris "Geschichte Vorarlbergs" beginnt zwar in vorchristlichen Zeiten und endet vor wenigen Jahrzehnten, weist aber - neben der tendenziösen Einseitigkeit - große methodische und inhaltliche Lücken auf und entspricht sicher nicht den Anforderungen an eine moderne Geschichtsschreibung.

Ob es gelingt, in den nächsten Jahren - durchaus auf den von Bilgeri ausgehobenen Quellen aufbauend - eine umfassende Geschichte des Landes zu erarbeiten, die sich ohne Vorurteile und nicht nur aus der Perspektive der lokalen Herrschaft den Quellen nähert, hängt sicher auch von der finanziellen Unterstützung des Landes ab. Der alte Landeshauptmann Kessler hat sich zwar "nie eingemischt", als Bilgeri trotz aller Kritik sein Werk allein vollendete und dafür vom Land bezahlt wurde, benützte dessen Darstellung aber stets zur Unterstützung seiner Politik. Ob der neue Landeshauptmann Martin Purtscher hier ein anderes Verhältnis entwickelt und - im Interesse einer umfassenden Aufarbeitung der Vorarlberger Geschichte - auch die Arbeit jüngerer Historiker fördert, die sich ihre Forschungsergebnisse nicht vorschreiben lassen, oder ob er ebenfalls versucht, die Geschichtsschreibung für die eigene Politik zu instrumentalisieren, ist derzeit noch nicht abzusehen.