Sie sind hier: Startseite / Archiv / Medienarbeit / 17.02.2001 / Leserbrief: "Die Kälte des Februar"

17.02.2001 / Leserbrief: "Die Kälte des Februar"

Vorarlberger Nachrichten


Als bei einer Gedenkveranstaltung an den Bürgerkrieg im Jahre 1934 "rote" Gewerkschafter in Hinblick auf die sozialpolitischen Maßnahmen der Dollfuß-Regierung Parallelen zur gegenwärtigen Regierungspolitik der ÖVP/FPÖ-Koalitionen zogen, herrschte bei den "Schwarzen" helle Empörung. Selbstverständlich darf die Situation im heutigen Österreich nicht mit jener von 1933/34 gleichgesetzt werden. Doch sollte es mehr als zu denken geben, wenn ein bekannter Journalist wie der Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" Frank im "Wendeösterreich" des Jahres 2001 gefährliche "autoritäre Tendenzen" wahrnimmt.

Als Junglehrer hat mir anfangs der Achtzigerjahre der damalige Landesschulinspektor (und Ex-ÖVP-Politiker) während einer Inspektionsstunde historischen "Nachhilfeunterricht" erteilt. Im Geschichteunterricht erörterte ich die Frage, ob der sogenannte "Ständestaat" von 1933-38 eine "austrofaschistische Diktatur" oder "eine andere Demokratie" gewesen sei. Und ich wagte festzustellen, dass die Vorarlberger Landeshauptleute Dr. Otto Ender (Verfassungsminister unter Dollfuß) und Ulrich Ilg als "Austrofaschisten" mitverantwortlich für den Entdemokratisierungsprozess und die Zerstörung der 1. Republik gewesen seien. Der Inspektor erklärte "meinen" Schüler(innen) daraufhin wortreich, dass der Begriff "Austrofaschismus" ein Kampfbegriff sei, der im Unterricht keinen Platz habe. Heute wüsste ich ihm aufgrund der Erkenntnisse der Zeitgeschichtsforschung mehr zu antworten als damals. Zweifelsohne hat die demokratische Kultur in der 2. Republik sehr darunter gelitten, dass auf der einen Seite die Lüge von der "NS-Opferthese" verbreitet und anderseits die These von der geteilten Schuld am Bürgerkrieg 1933/34 viel zu wenig hinterfragt wurde.

Nach den Kämpfen des Februar 1934 ließ Dollfuß, der vom heutigen Bundeskanzler Schüssel bekanntermaßen sehr verehrt wird, eine Serie von Postkarten anfertigen, die die zerschossenen Wiener Gemeindebauten zeigten. Deutlich ist die Genugtuung zu spüren, mit der das autoritäre Regime seine Siegesfotos in die Welt hinausschickte. Jahrelang hatten zuvor konservative Politiker damit gedroht, eine "Wende" herbeizuführen und 1933/34 wurden tatsächlich die Errungenschaften der jungen Republik zertrümmert: das demokratische Wahlrecht, das Mitbestimmungsrecht in den Betrieben, die freien Gewerkschaften, die Arbeiterkammern, der unabhängige Rundfunk, das freie kulturelle Leben. Dass "rote Gewerkschafter" heute Assoziationen herstellen, ist verständlich.

Jene vielfältigen Faktoren, die zum Bürgerkrieg geführt haben, gilt es verstärkt ins Gedächtnis zurückzurufen, um argumentativen Widerstand gegen die neo-autoritären Züge der rechtskonservativen Regierung leisten zu können. Dazu kann auch politische und historische Erziehungsarbeit in den Schulen einen Beitrag leisten. Nach 1945 war es notwendig, dass sich die Bürgerkriegsgegner die Hände gereicht haben, aber es sollte heute jedem/jeder bewusst sein, dass die Demokratie im Sinne der Kelsen-Verfassung nicht erst von der Hitler-Diktatur beseitigt wurde, sondern bereits von den Christlichsozialen unter Dollfuss, dessen Bild immer noch im ÖVP-Klub hängt. Es war keine "andere Demokratie", es war eine Diktatur, die sich qualitativ vom NS-Regime unterschieden hat. Gemeinsam war den beiden Diktaturen, dass sie darauf abgezielt haben, die Sozialdemokratie mit Waffengewalt zu zerschlagen. Jedoch nicht alle haben damals innerhalb des Christlichsozialen diesen Entdemokratisierungsprozess mitgemacht: Ex-Vizekanzler Jodok Fink und Prälat Drexel haben vorausgesehen, dass die Schwächung der Arbeiterbewegung letztlich nur den Nationalsozialisten nützen würde. Diese unterschiedlichen "christlichsozialen" Traditionslinien sollten die "schwarzen Gewerkschafter" im Auge behalten, denn der Weg vom "neuen Regieren" zur "autoritären Wende" und zur "anderen Demokratie" ist schmal.

Dr. Werner Bundschuh
Obmann der Johann-August-Malin-Gesellschaft

 

Das Neueste online
+ + + ABSAGE + + + 09.04.2024 – Zeitzeuginnengespräch: "Milli Segal – Koffer voller Erinnerungen"
04.05.2024 – Öffentlicher Rundgang in Bregenz: "Widerstand, Verfolgung und Desertion"
11.03.2024 – Podiumsgespräch: Severin Holzknecht – "'Ich hätte mein Herzblut gegeben, tropfenweise, für dieses Lächeln.' Zur Biographie von Ida Bammert-Ulmer"
Nachruf Bernhard Purin (1963–2024)
11.03.2024 – Jahreshauptversammlung 2024
23.08.–01.09.2024 – Theaterwanderung: "Auf der Flucht" – Eine Grenzerfahrung zwischen Österreich und der Schweiz – Termine 2024
03.05.2024 – Vortrag: Johannes Spies – "Selma Mitteldorf. Oberfürsorgerin von Vorarlberg“
23.04.2024 – Vortrag: Ina Friedmann – "Unerwünschtes 'Erbe'. Zwangssterilisierungen im Nationalsozialismus in Vorarlberg"
11.01.–26.06.2024 – Filmsalon im Spielboden
21.02.2024 und 22.02.2024 – Filmpräsentation: "Wer hat Angst vor Braunau? – Ein Haus und die Vergangenheit in uns"
22.01.2024 – Buchpräsentation: Harald Walser "Vorarlbergs letzte Hinrichtung. Der Fall des Doppelmörders Egon Ender"
17.01.2024 – Vortrag: Meinrad Pichler "150 Jahre Vorarlberger Bildungsgeschichte"
+ + + ERINNERN:AT und Johann August-Malin-Gesellschaft: aktueller Hinweis + + +
07.02.2024 – Vortrag: Florian Guggenberger – "Die Vorarlberger Widerstandsgruppe ,Aktionistische Kampforganisation‘. Geschichte – Schicksale – Erinnerungskultur"
24.01.2024 – Buchpräsentation und Lesung: "Ein Lehrerleben in Vorarlberg. Albert Schelling 1918 – 2011"