Kurt Bereuter (2023): Die Kinder von Scheidegg
Die Kinder von Scheidegg[1]
Schon einmal wurde in dieser Zeitung vom strohblonden Jungen in der Kinderklinik Scheidegg berichtet, der nach einer schweren Hüftverletzung 1938 jahrelang liegend in einer Gipsschale verbringen musste.[2] Aber sein Schicksal war kein Einzelfall, denn die Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte in Scheidegg, unweit von Vorarlberg gelegen, war bis Mitte der 1970er-Jahre eine Fachklinik für Kinder mit TB (Tuberkulose) aus dem gesamten deutschen Raum – und sogar darüber hinaus. Bis zu 300 Kinder wurden dort jährlich behandelt und verbrachten teilweise mehrere Jahre – mit und ohne Unterbrechungen bei ihren Familien zuhause. Die Kinder waren zwischen 1 und 18 Jahren alt.
Sie wurden meist von ihren Eltern in die Heilstätte gebracht und durften sich dort, den meisten Berichten folgend, keinem Abschiedsritual hingeben, „um nicht den Abschiedsschmerz zu steigern“ und mussten Wochen, Monate oder gar mehrere Jahre in dieser Klinik, oft weitab der eigenen Heimat, der Eltern, Geschwister, Großeltern und Freunden, verbringen. Wenn sie an offener TB litten, kamen sie auf eine Isolierstation und wurden auf dieser ärztlich behandelt und von Barmherzigen Schwestern des heiligen Vinzenz gepflegt und versorgt. Die Behandlung war teilweise gefürchtet: vom oftmaligen Röntgen im Keller über das manchmal tägliche „Schlauchschlucken“ bis hin zu den monate- und oft jahrelangen Gipsschalen, in denen die Kinder „leben“ mussten. Diese Gipsschalen bei Wirbelsäulen-TB erlaubten nur das Liegen, entweder auf dem Rücken oder auf dem Bauch – letzteres wurde laut Berichten bevorzugt. Die Gipsschalen wurden alle paar Monate erneuert, die Kinder waren ja im Wachstum. Dabei berichten ehemalige Kinder, dass sie nach dem Wechsel bis zu zwei Tage lang mutterseelenallein im Heizungskeller „abgelegt“ wurden, damit der Gips schneller trockne. Manchmal habe dieser Gips fürchterlichen Juckreiz und sehr schmerzhafte Druckstellen verursacht, ohne sich dagegen wehren zu können. Das Abnehmen der Gipsschalen erlebten die meisten Kinder als sehr schlimm, weil der Blutkreislauf die aufrechte Haltung nicht mehr ausgleichen konnte, der Gleichgewichtssinn nicht trainiert war und der Muskelapparat völlig abgebaut hatte. In die Gipsschalen waren Holzteile eingegipst, die ein Tragen der Kinder ermöglichte, denn zentraler Therapieinhalt war die Liegekur an der frischen Luft und an der Sonne mit hoher UV-Strahlung in den Bergen. Und das Alles mussten die kranken Kinder oft weit weg von zu Hause, von den Eltern und Geschwistern, in einem großen Heim in den Bergen erdulden. Die Älteren verstanden wohl, dass dies für ihre Gesundung notwendig sei, die Kleineren nicht. Sie fühlten sich allein, abgegeben oder verstoßen. Den meisten Trost konnten sie bei ihren Mitpatienten finden, die oft schon jahrelang diese Prozeduren mitmachen mussten und die schlimmsten Phasen des Heimwehs wohl schon mehrfach überwunden hatten. Nachzulesen in einem Buch über „Die Kinder von Scheidegg“ von Dr. Carola Otterstedt. Sie war von Februar bis April 1968 eines dieser Kinder von Scheidegg und hat nun ein Buch mit Erinnerungen und Schilderungen dieser Kindheitszeit mit persönlichen Schilderungen von 31 ehemaligen Kindern, deren Angehörigen oder Beschäftigten der ehemaligen Kinderheilstätte Scheidegg gesammelt und publiziert. Carola Otterstedt (60) ist Buchautorin und Kulturwissenschafterin.
Gegründet wurde die Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte 1911, eröffnet 1916, und ist heute eine Fachklinik für Kinder und Jugendliche (von 0 bis 18 Jahren) mit ADHS/ADS, Adipositas, Asthma, Diabetes, Kopfschmerzen, Neurodermitis und psychosomatischen Erkrankungen. Im Gegensatz zu früher, kann heute fallweise aus medizinischen oder psychosozialen Gründen auch eine Begleitperson aufgenommen werden. Das war bis in die 1970er-Jahre nicht der Fall. Bis dahin wurden sie ihren Familien – Eltern und Geschwister, ihrem sozialen und räumlichen Umfeld – entrissen und lebten dann mitunter jahrelang in der Klinik. Und das eben unter teils unvorstellbaren Bedingungen wie bei der Absonderung bei offener TB oder wie beschreiben in Gipsschalen bei Wirbelsäulentuberkulose. Die Ernährungssituation war hingegen eine sehr gute. Gehörte doch damals eine „hochkalorische Ernährung“ zur Therapie, und die Heilstätte hatte dafür einen eigenen angeschlossenen landwirtschaftlichen Betrieb.
Die NS-Geschichte und ihre Folgen?
Abgesehen von vielen ärgerlichen orthografischen Fehlern im Buch von Otterstedt, sind auch inhaltliche Fehler nicht korrigiert worden. So z. B., dass der Ort Scheidegg auf 100 m liegt, tatsächlich liegt er auf über 800 m Meereshöhe, was den Ort ja gerade deshalb zu einem Lungenkurort werden ließ, wie Davos (Der Zauberberg von Thomas Mann) oder in Vorarlberg Viktorsberg: Klima und Ultraviolettstrahlung waren Teil der Therapie, weshalb es auch zu den Sonnen- und Liegebalkonen kam, die bei den Gebäuden errichtet wurden und heute noch beim ehemaligen Krankenhaus Gaisbühel zu sehen sind. Auch der Umgang mit der NS-Geschichte bleibt im Buch unbefriedigend. Schon im Vorwort des Medizinhistorikers Fritz Dross fehlt die Einordnung der nationalsozialistischen Geschichte, vielmehr ist dort sogar die Rede von der Tuberkulose als „Bedrohung für die nationale Überlegenheit eines gesunden Volkskörpers – die alle europäischen Nationen für sich beanspruchten“[3].
Begonnen hatte die NS-Geschichte nämlich schon 1918 mit Dr. Kurt Klare „als Leiter der Tuberkulose-Kinderklinik Scheidegg im Allgäu“. Dr. Kurt Klare gehörte ab 1926 der NSDAP an, erhielt das Goldene Parteiabzeichen, leitete ab 1928 die Fachgruppe „Ärzte der Nationalsozialistischen Gesellschaft für Deutsche Kultur“ und er war 1929 Gründungsmitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes „NSDÄB“ mit der Mitgliedsnummer 2. Der NSDÄB verstand sich als Kampforganisation und entwickelte die maßgeblichen Grundlagen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, die in der rassenhygienischen „Vernichtung unwerten Lebens gipfelte[4]. Bei seinem Weggang 1939 lobte ihn Dr. Nicol aus der Heilstätte Donaustauf: „Er war und bleibt eine ausgesprochene Kampfnatur. Sein politisches Leben hat ihn in der großen Zeit des Kampfes deswegen schon zu früher Zeit auf den Weg ADOLF HITLERS geführt.“
Seine erste ärztliche Anstellung in der Scheidegger Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte fand 1933 auch Dr. Georg Renno. Dr. Georg Renno[5] beteiligte sich als Assistent unter Hermann Paul Nitsche an der Entwicklung des sog. Luminal-Schemas auf der Suche nach einer unauffälligen Methode, Menschen zu ermorden, die als „unwertes Leben“ eingestuft wurden.[6] Im Mai 1940 wurde er nach Linz-Niedernhart abberufen und im Juni wurde er Stellvertreter von Dr. Rudolf Lonauer in Schloss Hartheim bei Wels, der größten „Euthanasieanstalt“ des Deutschen Reiches, zudem bald auch das Nebenlager Gusen gehörte. Büroleiter in Schloss Hartheim war übrigens Christian Wirth, der später Leiter der Aktion Reinhardt wurde, in der fast 2 Millionen Juden und Roma im deutsch besetzten Polen ermordet wurden.[7]
Auch der Nachfolger von Dr. Klare in Scheidegg, Dr. Walter Schwenk, trat bereits 1929 in die NSDAP ein und gehörte ab 1933 der SA an. Dr. Walter Schwenk wurde von der französischen Militärregierung aus der Klinik und aus dem Ort verwiesen und durfte nicht mehr als Arzt arbeiten. 1949 wurde er als „Mitläufer“ eingestuft und durfte sich in Scheidegg wieder als „Kassenarzt“ niederlassen. Im Buch von Carola Otterstedt findet sich ein Absatz zu „Therapieversuche während der NS-Zeit“. Dr. Georg Hensel[8] von der nahen Mittelberger Kinderheilstätte experimentierte an – seiner Meinung gemäß – „nicht gerade körperlich besonders wertvollen Kindern“ mit TB-Medikamenten und Impfstoffen. Mehrere der Kinder verstarben in Folge. Er stand in Kontakt zu Dr. Valentin Faltlhauser[9] von der nahen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irrsee, von der zwischen August 1940 und August 1942 – bis zur Einstellung der Aktion T4 – 687 Patienten in die Tötungsanstalten Grafeneck und Schloss Hartheim transportiert und ermordet wurden.[10] Die „wilde Euthanasie“ ging aber in „seiner“ Anstalt weiter, bis über das Kriegsende hinaus. Dazu positionierte Faltlhauser vor dem Krankenhaus ein Schild „Achtung Typhus“, um den amerikanischen Soldaten den Zugang zu verwehren und weiter zu morden.
Möglicherweise blieb gerade aus diesen NS-Experimentier- und „Euthanasie“-Erfahrungen der ab 1944 neue Chefarzt, Dr. Josef Heiland, bei den traditionellen Therapieformen als Grundlage für die Heilung der erkrankten Kinder, wofür der Ort an sich schon beste Voraussetzungen bilden sollte. So schrieb Dr. Heiland 1948 in seinem Jahresbericht: „Die fast zu große Zahl der Präparate zur medikamentösen Behandlung der Tuberkulose … konnte bei uns nur in einzelnen besonders begründeten Fällen Anwendung finden, da das entsprechende Krankengut fehlt und außerdem zum Teil die Präparate noch zu wenig erforscht sind, um evtl. schädliche Nebenwirkungen auf den kindlichen Organismus mit Sicherheit auszuschließen.“[11] Was er unter „Patientengut“ verstand, ist offen, aber seine Erfahrungen mit den von Dr. Hensel und Dr. Faltlhauser ausgesuchten Kindern könnten gemeint sein. Über Dr. Heiland findet sich auch kein entsprechender Hinweis und so muss er als einer gelten, der sich der „Euthanasie“ verweigerte, zumindest, weil er vermutlich nicht über solche Kinder 1944 verfügte, als Dr. Faltlhauser noch längst mit der sog. Wilden „Euthanasie“ im nahen Kaufbeuren weitermordete. Insgesamt wird Dr. Heiland im Buch und in den Berichten sehr wohlwollend und als bemüht beschrieben, was ihn lobenswert macht, ohne eine abschließende Beurteilung treffen zu können.
Möglicherweise blieben aber dafür neuere medikamentenbasierte Therapien im Hintergrund, die eine schnellere und nachhaltigere Gesundung ermöglichen konnten. Dr. Ulrich Aumann aus Münster, der zur Medizingeschichte der TB forscht(e), schrieb mir, dass es in der Medizin immer Traditionalisten und Modernisierer gab. Aber ab dem zweiten Weltkrieg standen verschiedene Medikamente zur Verfügung, die in Zusammenhang mit besseren Lebensverhältnissen und einer guten Ernährung dazu beitrugen, die Tuberkulose in den Griff zu bekommen. Und gegen Ende der 1960er-Jahre habe damit auch das „Heilstättensterben“ begonnen. Bis dahin sei das Gipsbett bei Kindern durchaus üblich gewesen, wobei die Zahlen in den 1950er- und 1960er-Jahren stetig abnahmen, da die medikamentöse Therapie ihre Wirkung zeigte. Glücklicherweise ist diese gefürchtete Krankheit seit 60 Jahren in unseren Landen stark rückläufig und es gibt bewährte Medikamente, aber ausgerottet ist sie bis heute nicht und bleibt gefürchtet.
Die Berichte im Buch beziehen sich ausnahmslos auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und auf die Chefarzttätigkeit von Dr. Josef Heiland, bis auf meinen über den Strohblonden Jungenund die knappe Chronologie im Buch. Aber eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit Der „Kinder von Scheidegg“ fehlt, wäre aber für eine Medizingeschichte und dem Umgang mit erkrankten Kindern lohnenswert, gerade dann, wenn es um die „Bedeutung von sozialen Beziehungen in der Begleitung von Patienten“ geht, wie es im Untertitel des Buches heißt. Vor allem, wenn es sich um Kinder handelt. Lesenswert ist das Buch auf alle Fälle, denn wer einen Funken Empathie besitzt, wird mit den Kindern mitleiden und dankbar sein, dass er von diesem Schicksal verschont blieb. Und manchmal sich mitfreuen, wenn alles gut gegangen war und die unmenschlich wirkende Therapie die körperliche Erkrankung überwinden half und die Schatten auf der Seele klein blieben.
[1] Titel eines Buches von Dr. Carola Otterstedt mit Berichten über die Prinzregent-Luitpolt-Kinderheilstätte Scheidegg, Springer-Verlag, 2022, ISBN: 978-3-658-38184-4 und eine von ihr betriebenen Website gleichen Namens: https://die-kinder-von-scheidegg.jimdofree.com/
[2] Thema Vorarlberg, Ausgabe 65 vom Februar 2021
[3] Vgl. https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/70274/ssoar-2020-graf_et_al-Propaganda_fur_einen_gesunden_Volkskorper.pdf?sequence=4&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2020-graf_et_al-Propaganda_fur_einen_gesunden_Volkskorper.pdf
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistischer_Deutscher_%C3%84rztebund
[5] https://www.gedenkort-t4.eu/de/biografien/13-01-1907-04-10-1997-georg-renno-arzt-bockenheim-an-der-weinstrasse#lebenswege
[6] http://www.nachkriegsjustiz.at/ns_verbrechen/euthanasie/renno_psw.php
[7] http://www.nachkriegsjustiz.at/ns_verbrechen/euthanasie/renno_psw.php
[8] https://www.aerzteblatt.de/archiv/60695/NS-Medizinversuche-Nicht-gerade-koerperlich-besonders-wertvolle-Kinder
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Valentin_Faltlhauser
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Bezirkskrankenhaus_Kaufbeuren
[11] Siehe Anm. 1, S. 30f;
Die Kinder waren oft monate- oder sogar jahrelang in einer Gipsschale fixiert und lebten in der Kinderheilstätte. Das Bild stammt aus dem Buch von Auguste Rollier: „Die Heliotherapie der Tuberkulose. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer chirurgischen Formen.“ Berlin, 1924. (Quelle: J. Springer-Verlag)