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Kurt Greussing (2000): Träge Mentalitäten? Über die Produktion von öffentlicher Meinung zu NS-Regime und 2. Weltkrieg

Überlegungen zur Heldenverehrung auf Vorarlberger Friedhöfen, zum Tod fürs Vaterland, das einst offenbar von Narvik bis an die Wolga reichte, und zu einem seltenen Fall von Mut, über die Verbrechen der Wehrmacht zu sprechen.

Kurt Greussing

Träge Mentalitäten?

Über die Produktion von öffentlicher Meinung zu NS-Regime und 2. Weltkrieg

 

Erschienen in: KULTUR, 15. Jg., Nov. 2000, S. 18-21

 

Als Jörg Haider vor zehn Jahren, am 7. Oktober 1990, seine Rede am Ulrichsberg hielt - beim alljährlichen Traditionstreffen von ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS -, da tat er dies, nachdem er zum ersten Mal Kärntner Landeshauptmann geworden war. Hier sprach also nicht mehr nur der Führer einer Partei, deren einziges, aber erfolgreiches Programm seine eigene Person geworden war - in wandelbaren Kostümierungen als Arbeiterkumpel, Sportfeschak, Rächer der Enterbten und Frustrierten, Kämpfer gegen die Flut der Fremden und last but not least Retter der Ehre der "Kriegsgeneration". Sondern es trat an der höchste Repräsentant eines Bundeslandes der demokratischen Republik, um den versammelten Kriegsnostalgikern unter anderem zu erklären:

"Unsere Soldaten waren nicht Täter, sie waren bestenfalls Opfer, denn die Täter saßen woanders und haben zu keiner Zeit der historischen Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert jenen Mut, jene Tapferkeit, jene Ehre aufbringen müssen, die die Soldaten im grauen Feldrock draußen an der Front täglich zu beweisen hatten! ... Diese Soldatengeneration hat sich nichts vorzuwerfen."[1]

Zu Recht wird auf diese Rede Haiders immer wieder hingewiesen, wenn es um sein und seiner Klientel Verhältnis zum 2. Weltkrieg geht. Indem Haider vorgibt, die Soldaten vor einer ständigen Kollektivschuld-Bezichtigung durch "die falsche Geschichtsschreibung" in Schutz nehmen zu müssen, betreibt er das Umgekehrte: eine kollektive Entschuldung - Opfer, Ehre, nichts vorzuwerfen, die Täter saßen woanders...

Haider hat für diese Entschuldung sehr familiare und sehr wahlpolitische Motive. Im öffentlichen Diskurs über den Nationalsozialismus jedoch - und deshalb auch die Beharrlichkeit, mit der Haider-Gegner auf diese Rede zurückkommen - provoziert eine solche kollektive Entschuldung zwei Fragen, deren kurzschlüssige Beantwortung ohne jede argumentative Kraftanstrengung möglich ist: Konnte das Ziel eines Krieges schlecht sein, wenn gerade die Soldaten, die ihn führten, sich durch Mut, Tapfer­keit und Ehre auszeichneten? Und ist ein Regime rundweg abzulehnen, das in einen solchen Krieg - mit solch prächtigen Soldaten - eintrat?

So unverblümt Haider mit seiner Ulrichsberg-Rede die Selbstverständlichkeiten, mit denen im "nationalen" Milieu immer schon über die NS-Zeit und den Krieg gehandelt worden war, öffentlich gemacht hatte - er bewegte sich weder auf Neuland noch auf unsicherem Terrain. Denn sowohl die Politik "oben" als auch der allgemeine Diskurs "unten" hatten eine solche Position, vielleicht nicht so pointiert und nicht vor so speziellem Publikum, aber inhaltlich mehr oder weniger identisch, längst bezogen.

Die führenden Nachkriegspolitiker West-Deutschlands waren gegenüber den Alliierten nachhaltig darum bemüht gewesen, die "Ehre" der Wehrmacht und ihrer Soldaten attestiert zu bekommen,[2] trotz oder gerade wegen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms gegen die "slawischen Untermenschen" Ost- und Südosteuropas, dessen Durchführung nun allein der SS angelastet wurde. Man wollte die Wählerstimmen der "Kriegsgeneration" und ein gutes Gewissen für die Wieder­bewaffung. In Österreich wiederum war es bekanntlich so, dass es gar keine Täter geben konnte, da durch den deutschen Überfall im März 1938 alle zu Opfern geworden waren - einschließ­lich der zur Wehrmacht Eingezogenen.

Doch unterhalb solcher hochoffizieller Entschuldung, deren opportunistisches Kalkül bei einer kriti­schen Betrachtung vielleicht auch manchem Zeitgenossen aufgefallen sein mag, gab es einen populären Diskurs, der die Äußerungen Haiders viel stärker unterfüttert, als die offizielle Politik es tat. Es ist ein Diskurs, der formel- und zeichenhaft abläuft, mit Begriffen und Symbolen, die die Gefühle mehr ansprechen als das Denken. Und es ist ein Diskurs, der sich gegen einen Einspruch immuni­siert, indem die Toten des Krieges zu seinen Zeugen aufgerufen werden. Die Diskursformel ist simpel, und auf Friedhöfen nachzulesen: "Die fürs Vaterland gefallenen Helden" - so steht es beispielsweise über dem Kriegerdenkmal auf dem Lauteracher Friedhof, das jene auflistet, die aus den beiden Welt­kriegen nicht mehr zurückgekommen sind. Egal, ob diese Widmung schon in der NS-Zeit oder kurz nachher angebracht wurde, sie gibt bis heute die populäre Lesart für die beiden Kriege ab, auch den von 1939 bis 1945.

Dass die, die im Granathagel, im russischen Winter und Morast oder an Unterernährung elend krepiert sind, dies als Helden getan haben sollen, das mag ein Zeichen des Trostes an die Hinterbliebenen sein und ein Versuch, Angst und Grauen zu bannen, das einen beim Nachdenken befallen könnte. Aber dass sie fürs Vaterland gefallen seien - das sich einst offenbar von Narvik bis an den Don erstreckte -, das ist die politische Pointe dieses Spruchs. Denn damit wird der Zweite Weltkrieg eben doch zu einem Verteidigungskrieg gemacht - und so sagte es Haider am Ulrichsberg:

"Eure Opfer werden erst in den nächsten Jahren in das richtige Licht gerückt werden, weil an der Gesamtentwicklung dieses Europa deutlich gemacht werden wird, dass die Grundlage von Euch für Frieden und Freiheit gelegt wurde."

Populäre Diskurse beziehen ihre Beharrlichkeit und ihre Macht aus einfachen Bildern und Formeln (wie jenen auf dem Lauteracher Kriegerdenkmal) sowie aus einer Atmosphäre, die derartige Bilder und Formeln plausibel, da unbeeinsprucht erscheinen lässt (Friedhöfe eignen sich gut zur Herstellung einer solchen Atmosphäre). Solche Diskurse sind in der Regel immun gegen Einsprüche von "außen", also von Personen oder durch Medien, die nicht zum Diskursfeld gehören. Das vorliegende Heft der "Kultur" wird folglich unter Lauterachern und Lauteracher Friedhofsbesuchern zu keiner Debatte über das Kriegerdenkmal und den Krieg führen. Ein Einspruch gegen den populären Diskurs würde nur gehört, wenn er von jemandem erfolgte, den man zum Diskursfeld zählt - etwa einem Kriegsteil­nehmer. Doch die haben über das, was sie getan und gesehen haben, nicht oft mit eigenen Worten gesprochen, weil ja schon bald festgelegt war, wie über das Getane und das Gesehene zu sprechen war.

Eine Ausnahme ist Dr. Rudolf Seewald. Er hat im Vorjahr ein Buch veröffentlicht, das seine stenografischen Aufzeichnungen während des Krieges in Russland und seine heutigen Kommentare enthält.[3] Am 9. November spricht er darüber im Stadtmuseum in Dornbirn.

 

"Ob das wohl Helden sind?"

 

Seewalds Aufzeichnungen aus seiner Kriegszeit in Russland 1941-1943 geben Erfahrungen und Lebenseinstellungen eines rund 25-Jährigen aus einer Lustenauer katholisch-konservativen Familie wieder - ein junger Mann, der die Stella Matutina in Feldkirch besucht und dann in Innsbruck Kunst­wissenschaft zu studieren begonnen hat, sich seine eigenen Gedanken über Gott und die Welt macht, für den Nationalsozialismus keine Sympathien hat. Sein Tagebuch, vor allem über seinen ersten Russland-Einsatz von August 1941 bis März 1942, hält nicht nur Kriegserlebnisse fest. Bei Einquartierungen hat Seewald Zeit, zu lesen, sich Baudenkmäler in Städten anzuschauen, sich nach den Lebens­bedingungen der Menschen zu erkundigen - und er macht sich über all das Notizen. So gewinnt man einigen Einblick in das Denken eines jungen katholischen Bildungsbürgers der dreißiger Jahre, seine Lektüre (etwa seine vorsichtige Annäherung an Schiller, der ja im katholisch-konservativen Lager herkömmlicherweise nicht gut gelitten war), sein kritisches Interesse an Religion und Kirche, Architektur und Volkskunde. Den Menschen in der Ukraine und in Russland steht Seewald mit neugieriger Offenheit, mit einer gewissen Zuneigung, oft auch mit Mitleid gegenüber.

Doch der Krieg, immer wiederkehrende Bedrohung und Angst, Freundschaft und Loyalität mit anderen Soldaten schaffen auch eine Identifikation mit der Militärmaschinerie, deren Teil man ist. Denn ihr Funktionieren sorgt unmittelbar fürs Überleben. Die Tagebuchnotizen legen nahe, dass das Mitmachen-Müssen ein Stück weit auch zu einem Mitmachen-Wollen wird - eine Ambivalenz, die der Leser aus der historischen Distanz oft nur schwer nachfühlen kann. So notiert Seewald jedesmal penibel, wenn jemand aus seiner Einheit eine militärische Auszeichnung erhält.

Doch solche Zwangsidentifikation mit militärischer Ordnung und militärischem Handeln macht Seewald nicht immun gegen das, was den sowjetischen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung angetan wird. Auch seine ausgeprägte Ablehnung des bolschewistischen Regimes läßt seinen Blick, entgegen der nationalsozialistischen Propaganda, frei für die Leiden der Menschen auf der anderen Seite. Entsprechende Tagebucheintragungen sind gelegentlich mit verständlicher Vorsicht formuliert, und er hebt Vorgesetzte hervor, die sich gegen die Erschießung von Kriegsgefangenen und Zivilisten wenden (S. 44). Doch notiert er immer wieder Szenen, die belegen, dass Wehrmachtsangehörige zumal in Osteuropa nicht wie in einem "konventionellen" Krieg, sondern wie in einem Vernichtungsfeldzug handelten und handeln durften:

"Ein verwundeter Russe wurde heute von einigen unserer Leute mit der Pistole niedergeschossen. ... Ob das wohl Helden sind? ... Unteroffizier Rongen schoß heute auch wieder einen Russen nieder... Das ist scheinbar so die deutsche Ritterlichkeit?" (S. 43) "Es ist grauenhaft, was man bei solch einem Krieg an Zerstörungen vorfindet. ... Was muß doch die Bevölkerung hier in Wjasma mitmachen und wie mitleidlos ist das Leben!" (S. 85) "...werden die zurückbleibenden ermatteten Gefangenen neben irgendeinem Graben einfach niedergeknallt. Ist das völkerrechtlich erlaubt und menschlich human?" (S: 95) "An den Straßen liegen überall Tote, teils erfroren, teils erschossen. Jeder Russe ist vogelfrei." (S. 107) "Am Morgen sah ich dann, wie ein ´Partisane´ erschossen wurde. Der ihn ´bestrafende´ Soldat erklärte voller Stolz, das sei sein Dreiundfünfzigster! Es ist unglaublich, zu welcher Verrohung dieser Krieg führt." (S. 109) "Jede einzelne Gemeinde, die wir erreichen, wird zunächst in Brand geschossen, dann ziehen wir ein." (S. 150)

Solche Mitteilungen machen die Brisanz von Seewalds Zeitzeugen-Bericht aus. Denn sie widersprechen mit aller Deutlichkeit dem nach 1945 erzeugten Bild einer soldatisch korrekten Wehrmacht des 2.Weltkriegs, genauso wie den wertenden Formeln des populären Diskurses - "Ehre", "Heldentum", "Vaterland" - im Umgang mit der Kriegsvergangenheit. Sicher: eine kollektive Schuldzuweisung an die Gefallenen und die Überlebenden im Sinne persönlich zu verantwortender Verbrechen wäre ein Unfug - aber noch mehr ist es jener kollektive Freispruch des ehren- und heldenhaften Handelns, den so manche Kriegerdenkmäler suggerieren und den Haider fordert.

 

1870-1970: Das "konservative Jahrhundert"

 

Das affirmative Verhältnis vieler Menschen hierzulande zur Wehrmacht und zur Kriegsführung im 2. Weltkrieg kann als Element "träger Mentalitäten" gesehen werden - jener tief verwurzelter Einstellungen, die sich über Jahrzehnte erhalten und einer differenzierenden, kritischen Sicht nur schwer zugänglich sind. Solche träge Mentalitäten reproduzieren sich "unten", im Alltagsleben und an Alltags­plätzen der Menschen. Doch zu ihrer Formulierung leisten die "oben" meist einen erheblichen Beitrag: Lehrer, Beamte, bis vor wenigen Jahrzehnten auch Priester - also die so genannten Artikula­toren.

Das führt uns zu einem weiteren Thema der Verarbeitung des Krieges und des NS-Regimes nach 45: diesmal nicht "unten", unter den Besuchern der Friedhöfe und den Gästen an den Stammtischen, sondern "oben", in der Vorarlberger Landesregierung, wo Geschichte gemacht und Geschichts­schreibung in Auftrag gegeben wurde (und wird).

Leo Haffner, Historiker und bis vor einigen Jahren Leiter der Abteilung "Kulturelles Wort" im ORF-Landes­studio Vorarlberg, ist seit langem den "trägen Mentalitäten" Vorarlbergs auf der Spur, vor allem der Frage, warum sich aufklärerisches Gedankengut hierzulande nicht oder nur sehr verspätet durch­gesetzt hat.[4]

Er konstatiert für Vorarlberg ein "konservatives Jahrhundert" von 1870 bis 1970, in welchem autoritäre, gegenaufklärerische Konzepte von gesellschaftlicher Ordnung und politischer Herrschaft - und Männer, die diese Konzepte im Kopfe hatten - regierten.

Haffner stellt die Ergebnisse seiner historischen Recherchen in einer Reihe öffentlicher Vorträge dar - demnächst, am 16. November, im Stadtmuseum Dornbirn.

In der Tat hat in Vorarlberg ab den 1870er Jahren nicht nur das aufklärerisch-liberale Lager kontinuierlich an Einfluss verloren, bis es vom deutsch-völkischen und dann vom nationalsozialistischen völlig absorbiert und abgelöst wurde - lediglich der Antiklerikalismus verblieb als Versatzstück der liberalen Idee von individueller Autonomie und Verantwortlichkeit (und fungierte als Bindeglied innerhalb "blauer" familialer Traditionen). Auch im katholisch-konservativen Lager Vorarlbergs unterlagen reformerische Kräfte, die auf mehr Mitbestimmung von unten und auf weniger autoritäre Macht der Kirche oder des Staates setzten - etwa Bernhard von Florencourt in den 1870er und 1880er Jahren oder Karl Drexel in der Zwischenkriegszeit.

Auch wenn sich das liberale Lager von der Aufklärung verabschiedet hatte und nach der Jahrhundertwende zum deutsch-völkischen mutiert war, blieb aufgrund seines Antiklerikalismus eine scharfe Front zu den "Kasinern", also den Katholisch-Konservativen bzw. Christlichsozialen, bestehen. Diese Front­stellung der Weltanschauungen und der Lebensführung hat in der Vorarlberger Politik viel tiefere Gräben geschaffen, als es wirtschaftliche Interessen- oder Klassengegensätze taten. Am tiefsten waren diese Gräben zwischen 1933 und 1945. Da bekämpften die "Nationalen" zuerst - als illegale Nazis - die konservative Staatsmacht mit offener Gewalt und dann, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, Angehörige des katholisch-konservativen Lagers mit massivster bürokratischer und polizeilicher Repression, bis hin zu KZ-Einlieferungen und Hinrichtungen.

Doch hatten in Vorarlberg die "schwarzen" und die "blauen" Eliten auch immer wieder zusammengefunden: etwa im Juli 1927 beim Versuch der Sozialdemokratie, nach dem Justizpalastbrand in Wien einen österreichweiten Verkehrsstreik zu organisieren - und sehr rasch nach 1945, als Vorarlberger Nationalsozialisten, vor allem akademisch qualifizierte, unter dem gemeinsamen Dach des wieder erstandenen Bundeslandes Aufnahme fanden. Die Formel, unter der das verhandelt wurde, lautete: Das Unmenschliche der NS-Herrschaft hätten "Landfremde" zu verantworten, während die Vorarlberger Nationalsozialisten in erster Linie das Wohl der Heimat im Blick gehabt hätten.[5]

Das vielleicht markanteste Beispiel für diese Nachkriegsentwicklung ist die Karriere des Dr. Elmar Grabherr. Er war NSDAP-Mitglied gewesen, hatte im Gau Tirol-Vorarlberg als Beamter schon eine beachtliche Karriere gemacht - als Personalchef der in Bozen residierenden "Zivilverwaltung der Operationszone Alpenvorland". Und er hatte sich, ausweislich einiger seiner inzwischen zugänglichen Briefe, als loyaler Gefolgsmann des Gauleiters Franz Hofer, als eifriger Gegner der "Vorarlberger Separatisten" (also der lokalen NSDAP-Größen, die Vorarlberg als eigenen Gau erhalten wollten)[6] und als rabiater Judenhasser deklariert. Das alles verhinderte nicht, dass er ab Dezember 1945 mehr als dreißig Jahre lang die vielleicht einflussreichste Person im Machtapparat des Landes Vorarlberg wurde: zuerst als Sekretär des Landesausschusses bzw. des Landtages bis 1955, dann als Landesamtsdirektor und Personalchef im Landhaus bis 1976.

Grabherr machte Politik und Geschichte, zuletzt als Mastermind der "Pro-Vorarlberg"-Bewegung von 1979/80. Da fand er sich - auch zum letzten Mal - mit VN-Chefredakteur Dr. Franz Ortner zusammen, der eine ähnliche Biographie hinter sich gebracht hatte: vom Nationalsozialisten zum einflußreichsten Meinungsmacher im Vorarlberg der Nachkriegszeit...

Welchen Grund hatte Ulrich Ilg, Landeshauptmann von 1945 bis 1964 und Landesfinanzreferent bis 1969, einen Mann wie Elmar Grabherr in diese Spitzenpositionen zu befördern? Weshalb dieser Schulterschluss mit einem ehemaligen engagierten Nationalsozialisten? Wie kommt es, dass ein tiefgläubiger Katholik und überzeugter Traditionserbe des Ständestaates wie Ulrich Ilg, somit jemand, der über jeden Verdacht eines auch nur taktischen Naheverhältnisses zum Nationalsozialismus erhaben war, einen solchen Mann an einer solchen Schlüsselstelle einsetzte?

Manches, so Leo Haffner, mag pragmatische Gründe gehabt haben: etwa dass Elmar Grabherr mit seinen guten Kontakten zur französischen Besatzungsmacht anfangs eher Ilg befördert hatte als umgekehrt; und dass Ilg jemanden brauchte, der die Verwaltung des Gaus Tirol-Vorarlberg gekannt hatte, um im Interesse des nun wieder selbständigen Vorarlberg die nötigen Entflechtungen vor­nehmen zu können.

Doch das allein erklärt zu wenig - vor allem nicht die Intensität und die Dauer dieser Zusammenarbeit. Das wirklich Verbindende zwischen den beiden waren wahrscheinlich doch die "trägen Mentalitäten" - das Gesellschaftsbild, das Staats- und Politikverständnis, der Ethno-Nationalismus in Form der Alemannen-Ideologie.

In der Person Ulrich Ilgs reichten die Tradition des politischen Katholizismus und die Ideologie des Ständestaats ungebrochen in die Zweite Republik herüber. Er hat das in seinen Lebenserinnerungen noch einmal deutlich gemacht.[7]

Grabherr konnte sich dem leicht anpassen: durch Aufgabe der NS-typischen Kirchenfeindlichkeit und des Deutschnationalismus. Letzterer ließ sich besonders leicht ersetzen - durch einen zugespitzten "alemannischen" Ethno-Nationalismus, der bis zum Ende der 1970er Jahre als Leitideologie konserva­tiver Landespolitik diente und dessen Förderung sich Grabherr Zeit seines restlichen Lebens ver­schreiben sollte...

 

Vorträge im Stadtmuseum Dornbirn, Marktplatz 11:

Do., 9. Nov. 2000, 20 Uhr
Dr. Rudolf Seewald: "Der endlose Weg". Ein Zeitzeugenbericht zum Russland-Feldzug

Do., 16. Nov. 2000, 20 Uhr
Dr. Leo Haffner: Die Macht der braunen Meinungsmacher. Warum sich die Aufklärung in Vorarlberg im "konservativen Jahrhundert" nicht durchsetzen konnte

 

[1] Siehe Klaus Ottomeyer: Die Haider-Show. Zur Psychopolitik der FPÖ. Klagenfurt: Drava-Verlag 2000, hier S. 64-67

[2] Zu Deutschland Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München: C.H.Beck Verlag 1996

[3] Rudolf Seewald: Der endlose Weg. Kriegstagebuch eines Gefreiten. Rußland 1941-1943. Hard: Hecht-Verlag 1999

[4] Als frühen und grundlegenden Beitrag siehe: Leo Haffner: Die Aufklärung und die Konservativen. Ein Beitrag zur Geschichte der katholisch-konservativen Partei in Vorarlberg, in: Meinrad Pichler (Hg.): Nach­träge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Bregenz: fink´s Verlag 1982, S.10-31

[5] Zu dieser Konstruktion ausführlich Meinrad Pichler: Eine unbeschreibliche Vergangenheit. Die Vorarlberger Geschichtsschreibung und der Nationalsozialismus, in ders. (Hg.): Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Bregenz: fink´s Verlag 1982, S.191-206

[6] Siehe Leo Haffners Beitrag in der KULTUR, Juni 2000, S. 28-30

[7] Ulrich Ilg: Meine Lebenserinnerungen. Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt 1985; zu seinem politischen Weltbild siehe Werner Dreier: Zwischen Kaiser und “Führer”. Vorarlberg im Umbruch 1918-1938. Bregenz: fink´s Verlag 1986, S. 156-157

 

 

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