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28./29.03.2009 / Gespenstische Unternehmen

Der österreichische Widerstand 1938 bis 1945 - Rezension von Harald Walser


Der Standard, 28./29. März 2009

Gespenstische Unternehmen

Der österreichische Widerstand gegen die Nazis im Überblick: Wolfgang Neugebauer hat ein schwieriges Unterfangen gemeistert

Rezension von Harald Walser

Es hat etwas Gespenstisches, wenn alljährlich am 8. Mai Burschenschafter und andere aus dem rechtsextremen Umfeld in einem "Trauermarsch" mit Fackeln über den Wiener Heldenplatz marschieren und die militärische Niederlage im Jahr 1945 beklagen. Aber es ist nicht das einzige gespenstische Unternehmen dieser Art in unserem Land. So erläutert im Feuerzauber von Sonnwendnächten gern auch der BZÖ-Abgeordnete Ewald Stadler sein ganz spezielles Geschichtsbild, wonach Österreich 1945 bloß "angeblich" von Faschismus und Tyrannei befreit worden sei. Wenn er damit auf das Fortleben einschlägigen braunen Gedankenguts anspielen würde, müsste man ihm sogar recht geben.

Gegen den deutschnationalen Ungeist aufzutreten ist ein langwieriges Geschäft. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) betreibt es - zum Glück für Österreich - seit seiner Gründung 1963. Wolfgang Neugebauer, ab 1983 Leiter dieser Forschungsstätte, hat nach seiner Pensionierung im Jahr 2004 ein wichtiges Projekt in Angriff genommen: einen lesbaren Überblick über den Widerstand gegen das NS-Regime zu schreiben. Angesichts der kaum mehr überschaubaren Literatur zum Thema ein ebenso notwendiges wie schwieriges Unterfangen. Es ist erfreulicherweise geglückt. Neugebauer selbst war es, der im DÖW zu Beginn der 1970er das Projekt "Widerstand und Verfolgung" initiiert hatte - erst mit drei Bänden über Wien und dann über die meisten anderen Bundesländer.

Neugebauer gelingt es, die wesentlichen Phänomene des Widerstands gegen den Nationalsozialismus prägnant und gut leserlich herauszuarbeiten. An dieser Stelle sei zudem auf den Widerstand gegen die austrofaschistische Diktatur und den von Neugebauer gemeinsam mit Emmerich Talos herausgegebenen Band "Austrofaschismus" verwiesen, da der Austrofaschismus einen Teil der Vorgeschichte für die Durchsetzung des Nationalsozialismus in unserem Land darstellt.

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus setzte nicht unmittelbar mit dem "Anschluss" ein. Das hatte vielfältige Gründe. Zum einen mussten zehntausende von Verfolgung bedrohte Menschen fliehen, zum andern wirkte die opportunistische Anbiederung durch Kardinal Innitzer und die katholischen Bischöfe auf die christlich-sozial eingestellte Bevölkerung ebenso demoralisierend wie die öffentliche Stellungnahme für den "Anschluss" durch Karl Renner auf die Sozialdemokraten.

Wichtig sind die Hinweise des Autors, dass die Nazi-Herrschaft keineswegs ausschließlich auf seinem bis ins Detail organisierten Repressionsapparat beruhte, sondern auch auf den perfekt genutzten Möglichkeiten der Propaganda und Indoktrination - sowie auf den von Gerhard Botz als "negative Sozialpolitik" beschriebenen Möglichkeiten der Bereicherung: Allein in Wien wurden beispielsweise über 60.000 Wohnungen "arisiert". Neugebauer bleibt in seinem Buch dem DÖW-Konzept treu und schildert den Widerstand von Sozialisten, Kommunisten und anderen linken Gruppierungen wie jenen mit religiösem, christlich-sozialem oder legitimistischem Hintergrund in getrennten Kapiteln. Auch andere Minderheiten wie die Zeugen Jehovas, der jüdische Widerstand oder die Partisanen in Kärnten und in Titos "Österreichischen Bataillonen" finden Erwähnung.

Im Nachkriegsösterreich hörte man nicht gerne, dass der organisierte Widerstand in hohem Maß von Kommunisten betrieben wurde. So sind fast 60 Prozent der 5348 vom Volksgerichtshof oder dem Oberlandesgericht Wien Verurteilten dem kommunistischen Lager zuzuordnen. Ihre überwältigende Mehrheit stammte ursprünglich aus sozialdemokratischen Organisationen und trat erst nach 1938 der kommunistischen Widerstandsbewegung bei.

Von den 1887 vom Volksgerichtshof verurteilten Österreichern waren knapp fünf Prozent einstige Sozialdemokraten, 52 Prozent KP-Mitglieder und je zehn Prozent aus katholisch-konservativen und legitimistischen Organisationen. Der Rest lässt sich politisch nicht zuordnen. Besonders hervorzuheben ist, dass Neugebauer auch dem Thema "Verweigerung, Fahnenflucht und Hochverrat" im Militär breiten Raum gibt. Militärischer Widerstand war nämlich keineswegs auf die "Männer des 20. Juli" beschränkt. Kriegsdienstverweigerung gab es vor allem in der Anfangsphase des Krieges, und zwar meist von Angehörigen der Zeugen Jehovas. Dass der Fall des katholischen Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter wesentlich bekannter ist, dürfte von der großkoalitionär geprägten Nachkriegsgeschichtsschreibung auch nicht loszulösen sein.

Neugebauer widmet sich auch der größten Deliktgruppe - den sogenannten "Entziehungsdelikten" - und stützt sich dabei auf die Pionierarbeit von Thomas Geldmacher: Dieser schätzt, dass es die unglaubliche Zahl von 30.000 bis 50.000 Fällen von Wehrdienstentziehung durch Österreicher gegeben hat, das sind immerhin 3 bis 4 Prozent aller eingezogenen Soldaten. Geldmacher geht von 1200 bis 1400 österreichischen Fahnenflüchtigen aus, die hingerichtet wurden.

Der Widerstand in jedem Bundesland hatte seine Besonderheiten. Es ist schade, dass Neugebauer weder auf die zahlreichen Arbeiten zu Widerstand und Verfolgung in Vorarlberg noch auf die Bedeutung dieses Bundeslandes bei der organisierten Fluchtbewegung in die Schweiz eingegangen ist. Zu erinnern wäre an die Gruppe um den Widerstandskämpfer Johann August Malin oder an die Krankenschwester Maria Stromberger, die in Auschwitz Häftlingen wie Hermann Langbein das Überleben ermöglichte und Informationen aus dem und Waffen in das Vernichtungslager geschmuggelt hat.

Eine Auseinandersetzung mit dem Widerstand in der NS-Zeit ist nach wie vor aktuell. Denn das "politisch-gesellschaftliche Leben im Nachkriegsösterreich (wurde) nicht von den WiderstandskämpferInnen und NS-Opfern dominiert, sondern von der Generation der Kriegsteilnehmer und ehemaligen Nationalsozialisten" (S. 13). Das war eine ungleich größere Gruppe: Sie wur- de für den Wiederaufbau benötigt und stellte ein entscheidendes Wählerreservoir dar. Unter den Kompromissen, die SPÖ und ÖVP in den Nachkriegsjahren zur Gewinnung der "nationalen Wählerschaft" schlossen, leiden wir bis heute.

Das, was wir heute an rechtsextremen Kundgebungen, gesellschaftlicher sowie parlamentarischer Kumpanei mit braunem Gedankengut in Österreich erleben, hat seine Wurzeln in dieser Zeit. Die Wahl Martin Grafs zum Dritten Nationalratspräsidenten ist nur ein letztes Beispiel dafür.

Titel Neugebauer Widerstand


Wolfgang Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938 bis 1945.
€ 22,50,  286 Seiten. Edition Steinbauer,  Wien 2008.

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