27.01.2020 - Carl-Lutz-Weg in Bregenz

Anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2020 wurde in Bregenz der Carl-Lutz-Weg präsentiert. Werner Dreier, Geschäftsführer von _erinnern.at_ hielt die Eröffnungsansprache.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

sehr geehrte Frau Keiler,

sehr geehrte Damen und Herren!

Es freut mich sehr, heute hier über Carl Lutz sprechen zu dürfen. Diese Würdigung von Carl Lutz für die Rettung von zehntausenden Jüdinnen und Juden in Budapest vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutsche Reich, von dem Österreich ein Teil war, enthält eine wichtige Botschaft. Wir von _erinnern.at_ setzen uns seit zwanzig Jahren für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein. Noch länger engagierten sich die Johann-August Malin-Gesellschaft und auch der historische Arbeitskreis der Stadt Bregenz für die Erinnerung an die NS-Verfolgten in Bregenz. Aus diesen Initiativen resultiert die Gedenktafel hier im Haus, welche 1985 angebracht wurde. In diesem Zusammenhang möchte auch Herbert Pruner und die Gedenkgruppe Bregenz erwähnen, welche als „Gedenkweg Bregenz“  Orte der Erinnerung an den Nationalsozialismus im Stadtraum mit Gedenktafeln markierte.

Ein Schweizer Journalist wollte vor einigen Tagen wissen: Warum ehrt die Stadt Bregenz Carl Lutz?

Ein Teil der Antwort liegt in der Frage, wer Carl Lutz war.

Er wurde 1895 in einfache Verhältnisse in Walzenhausen geboren und absolvierte nach der Schule eine kaufmännische Lehre in St. Margrethen. Er gehörte der evangelisch-methodistischen Kirche an. Als ich nachschaute, was das meint, sprang mir gleich ein Satz entgegen, nach welchem das Hauptgewicht auf Gesinnung und Lebensführung liegt. 18 Jahre alt wanderte er 1913 in die USA aus, wo er eine Ausbildung zum methodistischen Prediger absolvierte – allerdings rasch merkte, dass dies nicht seine Aufgabe im Leben war. Er begann für die Schweizerische Gesandtschaft in Washington zu arbeiten und studierte parallel an der George Washington University. In Amerika heiratete er die Schweizerin Gertrud Fankhauser und begann intensiv zu fotografieren – was ihn sein Leben lang begleiten wird. 1935 wird er an das Schweizerische Konsulat in Jaffa versetzt. In Palästina, das unter englischer Verwaltung stand, vertrat er nach Kriegsausbruch die deutschen Interessen und betreute unter anderem Deutsche, die von den Engländern interniert wurden. Dort traf er einen Landsmann, den aus Appenzell Außerrhoden stammenden Jakob Künzler. Künzler hatte während des durch die Türken begangenen Völkermordes an den Armeniern Tausende armenische Waisenkinder zu retten versucht, was nur teilweise gelungen war. Jedenfalls schrieb Künzler ein Buch über den Völkermord und berichtete auch Carl und Gertrud Lutz darüber eingehend. Das Ehepaar wurde auch Zeuge antijüdischer Gewaltexzesse in Palästina und musste einen Lynchmord an einem Juden beobachten.

1940 wurde er zurück in die Schweiz versetzt, und 1942 wurde er als Vizekonsul  nach Budapest geschickt, wo er Leiter der Schutzmachtabteilung der Schweizer Gesandtschaft wurde. Die Schweiz versteht darunter die Übernahme konsularischer und diplomatischer Aufgaben, wenn zwei Staaten ihre Beziehungen abgebrochen haben – die „Schutzmacht“ gewährt dabei den Staatsangehörigen diplomatischen Schutz. Gegenwärtig vertritt die Schweiz etwa die Interessen der USA in Iran.

Hier braucht es einen kurzen Exkurs. 1942 war der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich und seinen Verbündeten begangene Massenmord an den Juden im vollen Gange. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 mordeten mobile Einsatzgruppen und es wurden eigene Tötungslager gebaut, die ausschließlich dem Massenmord dienten. Menschen als Menschen zählten damals und zählen auch heute recht wenig, weil die Menschenrechte nur einen ganz weichen und im kritischen Fall kaum durchsetzbaren Schutz gewähren. Viel mehr zählen Menschen als Staatsbürger, solange der Staat seine Schutzpflicht erfüllt. Die Deutschen – und darunter fasse ich in der Nazi-Zeit auch die heutigen Österreicher – verfolgten nämlich Angehörige fremder Staaten nicht so einfach, auch wenn sie Juden waren. Vielmehr forderten sie die Heimatstaaten auf, ihre jüdischen Bürger zurück zu nehmen. Viele tausend Menschen hätten z.B. in Frankreich überlebt, wenn die Türkei nicht alles daran gesetzt hätte, ihre jüdischen Bürger nicht zurück zu nehmen. Die Schweden wiederum nahmen nicht nur ihre jüdischen Bürger auf, sondern darüber hinaus noch viel mehr fliehende Menschen. Wesentlich war, dass die antijüdischen Gesetze sowohl in Deutschland wie auch in Ungarn und andernorts Jüdinnen und Juden die  jeweilige Staatsbürgerschaft aberkannten und sie somit schutzlos machten.

Carl Lutz hatte in seiner Funktion als Leiter der Schutzmachtabteilung der Schweizer Gesandtschaft besondere Möglichkeiten, weil er die britischen Interessen in Ungarn vertrat – insgesamt die von einem Dutzend Staaten, darunter auch die USA. Er zeigte diese Bedeutung auch dadurch öffentlich, dass er sein Büro in der verlassenen US-Botschaft in Pest einrichtete und in der ehemaligen britischen Botschaft in Buda wohnte. Er war jedenfalls eine wichtige Persönlichkeit.

Palästina stand unter britischer Verwaltung, in Ungarn gab es zionistische Organisationen, welche die jüdische  Auswanderung nach Palästina betrieben – und Carl Lutz begann diese Auswanderung zu unterstützen, indem er sogenannte „Schutzpässe“ ausstellte – das heißt, er gewährte zunächst amerikanischen und britischen jüdischen Bürgern diesen schweizerischen Schutz, dann auch jugoslawischen Bürgern, schließlich auch den staatenlosen und schutzlosen ungarischen Juden. Die Ausweitung des Schutzes auf Staatenlose war das eigentlich Neue. Diesem Vorbild folgten dann auch andere wie die Schweden, der Name des in die Sowjetunion verbrachten und dort ums Leben gebrachten Raoul Wallenberg steht dafür. Aber auch die Vertretungen der anderen neutralen Mächte in Ungarn, nämlich der Heilige Stuhl, Spanien und Portugal gewährten Schutzpässe, wenn auch in geringerem Umfang und mit spezifischeren Begründungen – wie etwa für Katholiken, die aus dem Judentum konvertiert waren. Auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes unterstützte u.a. durch Krankenhäuser und Schutzbriefe die Budapester Juden.

Ungarn unter Horthy war zwar ein Alliierter Deutschlands, doch auch noch insofern ein Rechtsstaat, als dass diese Dokumente gewürdigt wurden. Innerhalb des um Gebiete insbesondere in Polen und der Slowakei erweiterten „Großungarn“ lebte Anfang 1944 mit ca. 750.000 Menschen noch die größte jüdische Gemeinde Europas. Die Situation änderte sich mit Einmarsch deutscher Truppen März 1944 und deutschem Druck auf den ungarischen Regenten Miklos Horthy, mit den Deutschen enger zu kooperieren – und insbesondere die jüdische Gemeinde auszuliefern. Zwischen Mai und Juli 1944 wurden mehr als 430.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach Ankunft ermordet. Wegen harscher Proteste der Alliierten bei Horthy stoppte der die Deportationen, bevor die große jüdische Gemeinde von Budapest deportiert wurde. Im Oktober 1944 verschärfte sich die Lage, als ungarischen Faschisten der Pfeilkreuzler die Macht übernahmen. Die Rote Armee war schon nahe und die Pfeilkreuzler radikalisierten die Judenverfolgung, indem sie in Budapest selber Massenmorde ausführten, u.a. an der Donau. Insgesamt 60.000 Menschen wurden ermordet. Zehntausend ungarische Juden wurden gezwungen in Richtung Österreich zu marschieren, wo sie dann als Todesmärsche ungarischer Zwangsarbeiter in ganz Südost- und Ostösterreich dokumentiert sind – mit Tausenden Toten. Eine Zeit lang boten die Schutzdokumente weniger Schutz, bevor sie dann wieder mehr respektiert wurden.

Das Besondere an den schweizerischen Schutzmaßnahmen waren die Kooperation mit der Jewish Agency und der eigene Gebäudekomplex, bekannt als „Glashaus“. Dort hatte die Jewish Agency unter Schweizer Schutz ihr Büro und dort kamen während der Pfeilkreuzler-Gewaltexzesse mehrere Tausend Menschen unter, anderen boten eigens angemietete Häuser und Wohnungen etwas Schutz. Insgesamt gab es 122 sichere Häuser unter dem Schutz der neutralen Ländern, 76 davon unter Schweizer Schutz. Besonders war auch, dass Lutz höchst selbstbewusst mit den deutschen Machthabern in Ungarn, unter anderen mit Eichmann, die Ausreise der Schutzpass-Inhaber nach Palästina verhandelte – doch konnte die Ausreise nicht mehr realisiert werden.

Als viele gefälschte Schutzpässe auftauchten, musste Lutz entscheiden, welche echt und welche gefälscht waren – und damit Menschen ausliefern. Das hat ihn dann sein Leben lang belastet. Weil die Schutzpässe zunehmend auf Familien und nicht mehr auf Individuen ausgestellt wurden, auch weil mit der Zählung immer wieder von vorne angefangen wurde, um nicht mit zu hohen Nummern die Ungarn und Deutschen herauszufordern, lässt sich nicht sagen, wie viele Menschen Lutz und seine Schweizer Kollegen retteten. Sicherlich zehntausende.

Warum konnte er das tun? Einerseits verfügte er wohl über einen klaren moralischen Kompass, der ihn Recht von Unrecht unterscheiden ließ. So ein Gewissen wird gebildet, in seinem Fall sicherlich durch seine Religion, wohl aber auch durch seine Erfahrungen in Palästina. Ganz wesentlich aber ist, dass er aufgrund seiner Stellung in der Lage war zu retten.

Wie wir spätestens seit den umfangreichen Arbeiten der Schweizer Historikerkommission wissen, war die Flüchtlingspolitik in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs hoch umstritten – und bei weitem nicht einheitlich. Insgesamt haben die Schweiz und auch Schweden mehr getan als andere Staaten. Nach seiner Rückkehr nach Bern wurde gegen ihn eine Untersuchung wegen Amtsmissbrauchs eingeleitet, die ohne Folgen blieb. Er trennte sich von Gertrud Fankhauser und heiratete Maria Magdalena Grausz, die er in Budapest mit ihren beiden Kindern gerettet hatte. Die Anerkennung für seine und seiner Kollegen Rettungstaten blieb freilich die längste Zeit aus. 1954-1961 war er Konsul in Bregenz und erhielt knapp vor seiner Pensionierung den Titel Generalkonsul verliehen.

1965 wurde er von der Israelische Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. 2008 entstand unter tatkräftiger Mitwirkung seiner Stieftochter Agnes Hirschi die Carl Lutz Stiftung.

Und 2018 wurde im Bundeshaus in Bern ein Sitzungsraum „Carl Lutz“ eingeweiht. Auf der Gedenktafel heißt es: «Dieser Raum ist allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Departements gewidmet, die wie Carl Lutz, Harald Feller, Gertrud Lutz-Fankhauser, Ernst Vonrufs und Peter Zürcher 1944–1945 in Budapest eine grosse Menschlichkeit bewiesen haben, die uns ein Ansporn sein muss.»

In diesem Text finden wir wohl einen Teil einer Antwort auf die Frage, warum die Stadt Bregenz diesen Weg nach ihm benennt: Weil sein Handeln „große Menschlichkeit bewies“ und weil der „ein Ansporn sein muss.“

Eine rasche Recherche zeigt, wo es noch Carl-Lutz Wege oder Straßen gibt:

In Budapest, findet sich ganz prominent der Carl Lutz Kai, im Stadtzentrum vis-à-vis der Margareteninsel.

Jeweils kleine Straßen mit wenigen Adressen sind in Bern und im niederösterreichischen Spillern bei Stockerau sowie in Stockerau selbst nach Carl Lutz benannt.

Nun also auch ein Weg in Bregenz. Es wäre schön gewesen, der Weg hätte auch Adressen. Das wäre auch in Bregenz ein Novum gewesen, denn die Gedenkwege an die Opfer des Nationalsozialismus sind alle ein wenig wie der Carl-Lutz Weg: abseitig und ohne Adressen.

Warum sage ich das? Weil es nämlich bei einer solchen Ehrung nicht nur um den zu Ehrenden geht, sondern sie sagt immer etwas aus über jene, die ehren. Carl Lutz musste in Budapest Menschen retten, weil sie von anderen Menschen am Leben bedroht waren. Und zu den Verfolgern bzw. zu den Unterstützern der Verfolger bzw. zu denen, die diese Verfolgungen geschehen ließen, gehörten auch die Menschen aus dem österreichischen Raum, aus Vorarlberg und aus Bregenz. Ich möchte behaupten, wenn die Stadt Bregenz Carl Lutz ehrt, dann will sie damit auch sagen: Seht her, so sind wir nicht. In diese Tradition möchten wir uns nicht stellen, eher in die Tradition von Carl Lutz.

Nun wäre es sicherlich eine schönere Ehrung, wenn eine der immer wieder entstehenden echten Straßen und Plätze, solche also mit Adressen, nach Carl Lutz benannt würde. Doch wichtiger schiene mir, die Ehrung wäre ein Ansporn für die Stadt Bregenz, die Stadtvertretung, Stadtregierung und Verwaltung, eigentlich für alle Bregenzerinnen und Bregenzer, immer wieder zu prüfen, wo Carl Lutz denn heute „ein Ansporn“ sein kann.

Zum Schluss noch ein Wort über Gertrud Lutz-Fankhauser, die für ihr selbstloses Helfen in Budapest auch als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet wurde. Gertrud Lutz-Fankhauser engagierte sich nach der Scheidung 1946 in UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Von der engagierten Helferin ist ein schönes Zitat überliefert. Sie sagte: „humanitäres Geschwafel lag mir fern.“ Es kam ihr und auch ihrem Mann immer aufs Tun an.

Werner Dreier hielt die Eröffnungsansprache zur Übergabe des Carl-Lutz-Weges in Bregenz

Werner Dreier hielt die Eröffnungsansprache zur Übergabe des Carl-Lutz-Weges in Bregenz

Das Neueste online
+ + + ABSAGE + + + 09.04.2024 – Zeitzeuginnengespräch: "Milli Segal – Koffer voller Erinnerungen"
04.05.2024 – Öffentlicher Rundgang in Bregenz: "Widerstand, Verfolgung und Desertion"
11.03.2024 – Podiumsgespräch: Severin Holzknecht – "'Ich hätte mein Herzblut gegeben, tropfenweise, für dieses Lächeln.' Zur Biographie von Ida Bammert-Ulmer"
Nachruf Bernhard Purin (1963–2024)
11.03.2024 – Jahreshauptversammlung 2024
23.08.–01.09.2024 – Theaterwanderung: "Auf der Flucht" – Eine Grenzerfahrung zwischen Österreich und der Schweiz – Termine 2024
03.05.2024 – Vortrag: Johannes Spies – "Selma Mitteldorf. Oberfürsorgerin von Vorarlberg“
23.04.2024 – Vortrag: Ina Friedmann – "Unerwünschtes 'Erbe'. Zwangssterilisierungen im Nationalsozialismus in Vorarlberg"
11.01.–26.06.2024 – Filmsalon im Spielboden
21.02.2024 und 22.02.2024 – Filmpräsentation: "Wer hat Angst vor Braunau? – Ein Haus und die Vergangenheit in uns"
22.01.2024 – Buchpräsentation: Harald Walser "Vorarlbergs letzte Hinrichtung. Der Fall des Doppelmörders Egon Ender"
17.01.2024 – Vortrag: Meinrad Pichler "150 Jahre Vorarlberger Bildungsgeschichte"
+ + + ERINNERN:AT und Johann August-Malin-Gesellschaft: aktueller Hinweis + + +
07.02.2024 – Vortrag: Florian Guggenberger – "Die Vorarlberger Widerstandsgruppe ,Aktionistische Kampforganisation‘. Geschichte – Schicksale – Erinnerungskultur"
24.01.2024 – Buchpräsentation und Lesung: "Ein Lehrerleben in Vorarlberg. Albert Schelling 1918 – 2011"