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Werner Bundschuh (2020) - „Dr. Plessls“ Angst vor dem Kameradschaftsbund

Kurt Plessl (1932 bis 2013) wurde in Reichenberg/Liberec in Nordböhmen (heute in Tschechien) geboren. Nach einer wahren Odyssee, hervorgerufen durch die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung im Zuge der Beneš-Dekrete, landete er als dreizehnjähriger Knabe am 1. September 1945 als „heimatvertriebener Sudetendeutscher“ mit seiner Mutter in Vorarlberg. Für die Dorfgeschichte „Mäder“, herausgegeben von Harald Walser 2004, war diese Zuwanderer-Skizze geplant. Kurt Plessl zog jedoch die Druckgenehmigung zurück: Seine Angst vor den „Ewiggestrigen“ im Dorf war zu groß. Der Aufsatz sollte erst nach seinem Tod veröffentlicht werden.

 

Bis zum heutigen Tag beschäftigen Kurt Plessl seine traumatischen Kindheits- und Jugenderlebnisse so, dass er sie nur mit großer Mühe erzählen kann. Und eigentlich möchte er sie nicht veröffentlicht sehen, denn viele Narben haben die Reaktionen am Stammtisch hinterlassen: „Dr. Plessl“, wie er von seinen Mitdiskutanten scherzhaft genannt wurde, artikulierte dort seine ablehnende Position zum Krieg und zum Verhalten der deutschen Wehrmacht. Und damit befand er sich in der Minderheit.

„Wenn dieser Artikel erscheint, werden die Unbelehrbaren wieder das Maul über mich zerreißen, wie sie es immer getan haben. Diese Ewiggestrigen, die ein Leben lang von ihrer tollen Soldatenzeit geschwärmt haben. Ich habe so Schreckliches gesehen und erfahren, dass ich das nie verstehen konnte, wie man dieses Grauen im Nachhinein noch zu verherrlichen versucht hat. Aber zweifelsohne hatten diese undifferenzierten Verteidiger der Hitlerarmee die Oberhoheit beim Frühschoppen, sie waren in der Überzahl. Aber wer in der Überzahl ist, muss noch nicht Recht haben!“

Kurt  Plessl wurde als uneheliches Kind geboren. Mutter Gisela (Jg. 1913), eine „Kaisermühlerin“ aus Wien, hatte in Reichenberg im Sudetenland als Dienstmagd bei einer jüdischen Familie eine Stellung erhalten. „Hüte dich vor Weihrauch und Knoblauch!“, habe sie ihm als Lebensmaxime mit auf den  Weg gegeben. „Denn sie hat es bei ihren Herrschaften nicht immer gut getroffen.“ Von seinem Vater, der eine Konditorei in Reichenberg besaß, weiß er wenig zu erzählen, ebenso von seinem kurzfristigen Stiefvater, den die Mutter 1938 in Wien kennen gelernt hatte und der bereits am 4. Kriegstag – im September 1939 – gefallen ist.

Die Kindheits- und Jugendjahre sind vom Pendeln zwischen der Tschechoslowakei und Wien gekennzeichnet. Eingeschult wurde Kurt in Wien, doch dann ist seine Mutter nach Friedec/Mistic in Mähren gezogen. „Nachdem sie noch im Jahre 1939 zur Arbeitsleistung in einer Munitionsfabrik dienstverpflichtet wurde, begann meine Zeit in Jugendheimen. Ich konnte ja nicht bei ihr bleiben, deshalb war sie gezwungen, mich irgendwo unterzubringen.“

Diese Zeit hat beim Erzähler Spuren hinterlassen. Er hat sichtlich Mühe, seine Erregung zu unterdrücken. Die Erinnerung an die brachialen Erziehungsmethoden ist auch nach mehr als sechs Jahrzehnten schmerzhaft:

„Da herrschte eine eiserne Disziplin. Wer sich bei der Essensausgabe nicht an das Stillegebot gehalten hat, bekam zehn Schläge mit dem Rohrstock. Überhaupt wurde bei jedem noch so kleinen Verstoß gegen die rigide Hausordnung geschlagen. Oft und heftig. Das Heim war streng, sehr, sehr streng. Und ganz klar ideologisch ausgerichtet. Der Heimleiter war ein Nazi, der uns Kinder paramilitärisch erzogen hat. Da hat es Fahnenappelle gegeben, und im Heim hat es aus Rassegründen keine Tschechen gegeben.“

Der ausgezeichnete Volksschüler bestand die Aufnahmeprüfung für das Reichsoberrealgymnasium in Reichenberg, das er vom Herbst 1942 bis Herbst 1944 besuchte. Dann musste wegen Kohlemangel das Unterrichten eingestellt werden. Zu dieser Zeit quoll die Stadt bereits von Flüchtlingen aus Ostpreußen über.

Einigermaßen hungerfrei überleben konnte man nur, wenn es gelang, ein Zubrot zu organisieren.

„Meine Mutter war diesbezüglich eine Koryphäe. Sie war ein Wunder im Organisieren. Über den Jeschken, unseren Hausberg, ist sie ins Tschechische hinübergegangen und zu Weihnachten 1944/45 hat sie von dort einen Hasen mitgebracht. Die SA-Stiefel von ihrem ersten Mann, Stragga, hat sie in Korn umgetauscht. Wir haben es in der Kaffeemaschine gemahlen und dann daraus Brot gebacken. Einen großen Vorteil hatte meine Mutter beim Tauschen: Sie konnte Tschechisch.“

Auf die Frage, wie er das Verhältnis von deutsch- und tschechischsprachiger Bevölkerung in Erinnerung habe, antwortet Kurt:

„In meiner Kindheitserinnerung bestand zunächst eine gewisse Koexistenz zwischen den Deutschen und den Tschechen. Das hat sich nach Lidice jedoch stark geändert. Das im Protektorat Böhmen und Mähren gelegene Dorf wurde nach dem Attentat auf den Reichsprotektor SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich 1942 völlig ausgelöscht. Alle Männer wurden ermordet, die Frauen ins KZ gesteckt. Damit war die Beziehung zwischen den Deutschen und den Tschechen völlig vergiftet.“

In diese Zeit fällt der Besuch der gymnasialen Unterstufe von KURT PLESSL Und ein Lehrer hat sich tief in sein Gedächtnis eingegraben: Prof. Klein.

„Lehrerpersönlichkeiten können einen für das ganze Leben prägen. Bei mir war es jedenfalls so. Ich erinnere mich sehr genau an Prof. Klein. Er war nach den Nürnberger Rassegesetzen ein Halbjude und trug einen Kaftan. Aber ohne die Halbjuden im Lehrkörper hätte die Schule nicht funktioniert. Was dann mit diesen Lehrern passiert ist weiß ich nicht, ihr Schicksal ist mir unbekannt.“

Kurt Plessl erzählt von Prof. Klein drei zentrale Erlebnisse.

Als Schüler macht man manche Dummheit. Eine Mutprobe bestand darin, den Stuhl von Prof. Klein, der uns in Deutsch und Geschichte unterrichtet hat, mit Gummi Arabicum zu beschmieren. Er hat sich niedergesetzt und dabei seinen Rock ruiniert. Die Folgen waren für mich fürchterlich. Ich musste bei der Schadenswiedergutmachung mitzahlen, und im Heim habe ich für diesen Streich, bei dem ich beteiligt war, zehn bis  zwanzig Schläge auf den nackten Hintern erhalten. In dieser Nacht habe ich fürchterlich geweint, weil ich mich so geschämt habe. Das vergisst man ein Leben lang nicht. Aber Prof. Klein hat mich trotzdem geschätzt. Vor allem nach einem Deutschaufsatz zum Thema ‚Der Staat’. Ich weiß heute noch genau, was ich geschrieben habe. Ich habe geschrieben:’ Der Staat ist im Einzelnen ohne Bedeutung. Sein Wert liegt in der Einheit der Nationen.’ Dafür habe ich einen Einser bekommen, und ich durfte zu Prof. Klein als eine Art ‚Privatschüler kommen. Er hat mein Interesse für Geschichte und Literatur geweckt - und dafür bin ich ihm bis heute dankbar.“  Dass er als „arischer Jugendlicher“ bei einem „Halbjuden“ Bücher auslieh, missfiel seinen Kameraden. „In einer Nacht- und Nebelaktion haben sie mir einen Sack über den Kopf gestülpt und mich fürchterlich vermöbelt. Das war die Strafe dafür, dass ich bei Prof. Klein gewesen war, von dem ich so viel gelernt habe.“

Das  Jahr 1945 brachte auch für ihn grundlegende Änderungen. Zunächst entkam er der Tyrannei des Heimes. Seine Mutter war der Fabrikarbeit entkommen und erzeugte in Heimarbeit für Feuerzeuge Dochte. Da sie nun eine kleine Wohnung hatte, konnte er zu ihr ziehen. Ende März rückte jedoch die Front näher:

„Wir hörten ständig die Stalinorgeln von Görlitz her, und wir ahnten schon damals, dass wir nicht  bleiben würden können. Mit den Benesch-Dekreten war dann die Vertreibung fix. Meine Mutter galt als Sudetendeutsche, ich als Österreicher. Bereits im Mai räumten die tschechischen Milizen unseren Straßenzug. Fürchterlich war das. 30 kg Gepäck durften wir mitnehmen, nicht mehr. Ich hatte mein HJ-Zelt in einen Seesack umfunktioniert. Auf dem Platz, wo wir antreten mussten, haben die Tschechen wahllos in das Gepäck hinein geschossen – und dann kam die schreckliche Bahnfahrt nach Zitau.“

Kurt war zum Zeitpunkt der Vertreibung dreizehn Jahre alt. Als Fluchtort hatte seine Mutter Vorarlberg ins Auge gefasst. In Koblach wohnte ihre Taufgotta Maria Amann (geb. Schrammel), die sie mehrmals besucht hatte. Und noch einen Grund gab es für sie, in Richtung Ländle zu flüchten: Prof. Klein hatte ihr ans Herz gelegt, sie möge dafür sorgen, dass der Bub, der beachtliche Lateinkenntnisse aufwies und 1940 getauft worden war, die Stella Matutina in Feldkirch besuchen könne.

„Daraus ist letztlich leider nichts geworden. Mir fehlten zwei Jahre Gymnasium – durch die Flucht musste ich das Gymnasium nach der 2. Klasse abbrechen. Nach Vorarlberg sind wir nach einer wahren Odyssee gelangt, aber für mich war es dann unmöglich, die Gymnasialjahre nachzuholen. Dazu haben die finanziellen Mittel einfach nicht gereicht. Wie gerne hätte ich die Stella besucht, aber das Schicksal hat es nicht gewollt. Aber wir mussten schließlich froh sein, dass wir mit dem Leben davon gekommen sind. Die Monate auf der Flucht, die kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Wie knapp wir dem Tod entronnen sind. Und wir sind nicht direkt nach Vorarlberg geflüchtet. Da hat es Zwischenstationen gegeben. Zitau – Dresden – Wien - Vorarlberg!“

Beim Erzählen durchlebt Kurt Plessl die Schrecken der Flucht erneut.

„Ich war Augenzeuge, wie ein Soldat im überfüllten Zug von einer Frau eine Uhr haben wollte. Sie gab sie nicht her. Da hat er seine Pistole gezogen und kurzerhand abgedrückt! Vor meinen Augen! Und den Leichnam hat er aufgehoben und einfach hinausgeworfen! Ein menschliches Leben war damals nichts wert, man war der Willkür völlig ausgeliefert!“

Und völlig ausgeliefert war seine Mutter auch der russischen Soldateska im Zeltlager von Zitau:

„Wir waren in Zitau in Großzelten, die vom deutschen Roten Kreuz aufgestellt worden waren, untergebracht. Und dort ist es vermutlich passiert. Ich weiß es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, aber ich habe keinen Zweifel daran: Meine Mutter ist von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden und war schwanger. Sie hat einen Abortus eingeleitet, an dessen Spätfolgen sie schließlich gestorben ist. Ab 1947 hat sie ständig geblutet und niemand konnte ihr helfen. Sie hatte Gebärmutterkrebs - mit nur achtunddreißig Jahren ist sie unter fürchterlichen Qualen verstorben.“

Von Zitau ging es nach Dresden. Die Tage in der zerstörten Stadt  waren grauenvoll.

„Das kann sich der Mensch kaum vorstellen. Als Historiker wissen Sie: In der Nacht vom 13. und 14. Februar 1945 und bei Tagangriffen am folgenden Tag durch die alliierten Luftstreitkräfte wurde diese Stadt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht. Dabei war die Stadt damals unverteidigt und mit Flüchtlingen überfüllt. Musste das sein? Tausende und Abertausende Tote. Wir kamen im Juni nach Dresden. Trümmer, ausgebrannte Ruinen – und Bauchtyphus. Das Grauen ist mit Worten nicht zu schildern.“

Mit einem Flüchtlingstreck ging es weiter.

„Wir wollten Richtung Wien. Aber es ging nichts mehr. So mussten wir zu Fuß weiter. Und bei Hof war die Demarkationslinie zwischen den Russen und den Amerikanern. Die Nacht an dieser Grenze werde ich mein Lebtaglang nicht vergessen: Wir waren zu fünft. Meine Mutter, Steffi, eine Freundin von ihr, zwei fronterfahrene Landser aus Norddeutschland und ich. Ohne die beiden alten Kriegshasen hätten wir diese Nacht nicht überlebt. Wir standen in dieser stockdunklen Nacht unter einem Viadukt im Wasser. Der mitgenommene Wäschekoffer löste sich im Wasser auf, sodass meine Mutter meinen Seesack ausgeleert hat. In ihm waren meine Bücher. Ich wollte meine Latein-, Deutsch-, Geographie- und Geschichtebücher retten. In dieser Nacht sind sie davongeschwommen.

Die Russen wollten Grenzübertritte verhindern und schossen wahllos drauflos. Um fünf Uhr sind wir dann im Sprunglauf über die Autobahn gehetzt. Der Seesack mit Wäsche war so schwer, dass meine Mutter kaum drüber gekommen ist. Die Landser haben uns einzeln in den Graben auf der amerikanischen Seite hinübergebracht.“

Doch auch in Hof herrschte das absolute Chaos.

 „Drei Tage lang blieben wir ohne jedes Essen. Da ich Englisch konnte, versuchte ich mein Glück bei einem amerikanischen Soldaten etwas Essbares zu ergattern. Doch der hat nur vor mich hingespuckt. Welcher Hass muss gegen ‚die Deutschen’ bei ihm vorhanden gewesen sein! Die ehemaligen KZ-Insassen wurden bevorzugt weiterbefördert, wir hatten dann das Glück auf einem offenen Lastwagen mit Anhänger nach Nürnberg mitgenommen zu werden. Dort, wo der ‚Führer’ einst seine inszenierten Parteitage abgehalten hatte, gab es nur noch Schutt: Der Bahnhof war eine Schutthalde – und dazwischen wir im Regen. Denn als wir ankamen, schüttete es tagelang. Doch mit einem Zug ging es schließlich weiter über Regensburg nach Passau und von dort an die österreichische Grenze.“

An dieser Stelle kann der Erzähler seine Tränen nicht mehr unterdrücken.

„In Schärding ist meine Mutter mit mir in eine Kirche gegangen. Sie war nicht sehr fromm, sie hatte mit der Kirche nichts am Hut. Aber dort sagte sie zu mir: ‚Junge, wir sind endlich zu Hause!’ Und wir weinten beide.“

Doch „zu Hause“ waren die beiden noch lange nicht. Über Linz – das in der russischen Zone lag - erreichten sie Ende August Wien. Doch der Aufenthalt beim Großvater währte nur kurz. „Er konnte uns auch nicht helfen. Wir drei – die Mutter, ihre Freundin und ich - blieben nur vier, fünf Tage dort. Denn es gab einfach nichts zu essen. Deshalb packten wir unsere Habseligkeiten zusammen und mit Hilfe einer Tschechin, die meine Mutter kennen gelernt hatte, konnten wir wieder die russische Zone verlassen. Über Hochfilzen sind wir zu Fuß weitermarschiert, irgendwo sind wir wieder in einen Zug eingestiegen und am 1. September 1945 haben wir in der Nacht Koblach erreicht. Wir mussten uns in der Dunkelheit zur Gota schleichen, denn wir hatten keine gültigen Papiere. Die ganze Zeit hatten wir keine gültigen Papiere! Deswegen hatten wir auch vor den französischen Soldaten, den Marokkanern, Angst. Ein Leben ohne Papiere war äußerst schwierig. Uns durchzufüttern war für die Gota eine fast unmögliche Aufgabe. Aber der Koblacher Bürgermeister Georg Längle hat es für uns gerichtet: Wir haben Essensmarken bekommen, und er hat uns ordentlich angemeldet. Jetzt waren wir wirklich zu Hause.“

Doch für den dreizehnjährigen Knaben stehen bittere und konfliktreiche Jahre bevor. In der Pubertät ringt er mit seiner kränkelnden Mutter, und er erfährt, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Und ein Thema beschäftigt Kurt ganz besonders.

„Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn mich der Krieg nicht am Besuch des Gymnasiums gehindert hätte? Wie für viele in meiner Generation haben die Kriegswirrnisse, Vertreibung und Flucht einen Bildungsunterbruch gebracht. Heute gibt es Umstiegsmöglichkeiten im Bildungsbereich – aber damals? Ich wurde in Koblach noch einmal eingeschult. Ich besuchte die Volksschule und habe dort meinen Abschluss gemacht. Lehrer Benz war ein guter Pädagoge, aber es stört mich heute noch, dass ich nicht maturieren konnte. Der Traum von der Stella blieb ein Traum. Es war einfach kein Geld vorhanden, ein weiter führender Schulbesuch war unmöglich.“

Und so wurde der bildungswillige Gymnasiast aus Reichenberg Hirtenbub im Schwefelbad in Hohenems.

„Die ersten Nachkriegsjahre waren im Allgemeinen kein Honiglecken. Aber als Hütebub ist es mir dort richtig schlecht gegangen. Das Essen war wirklich nicht ‚dick’, ich kann sagen, ich hatte fast Hunger. Hašeks Soldat Schwejk hätte gesagt: ‚Das Essen war gut, aber es reichte nicht für mich.’ Und deshalb habe ich mich – ohne meine Mutter zu fragen – nach einem anderen Platz umgesehen. So bin ich bei Rudolf Spiegel am Bach gelandet und habe Schafe gehütet, denen ich fast bis nach Lustenau nachlaufen bin. Zumindest ein ausreichendes Frühstück hat es gegeben, aber die Verpflegung tagsüber war sehr unregelmäßig.  Und wenn man als Hirtenbub nicht aufgepasst hat, dann hat es schon einmal Schläge gegeben. Wie damals, als mir die Schafe in den Rübenacker geraten sind.“

Plessls Mutter war in dieser Zeit Offiziersköchin bei den Franzosen in Feldkirch. Im Jahre 1947 suchte der Zimmermann Elias Ender aus Mäder eine Haushälterin. Sie bekam die Stelle und heiratete bereits im folgenden Jahr ihren Arbeitgeber.

„Es war für mich eine schwierige Lebensphase. Ich sollte eine Lehrstelle bei der Bäckerei Schnell antreten. Aber Bäcker war das Letzte, was ich werden wollte. Ich landete dann beim Bürstenmacher Altmann in Hohenems und von dort bin ich bei Nacht und Nebel in den Bregenzer Wald gegangen und habe im Sägewerk bei Rudolf Natter gearbeitet.“

Der frühe Tod der Mutter stellte eine tiefe Zäsur dar.

„Ich war nun allein, ich war ein Vollwaise, hatte niemanden mehr, denn bei meinem Stiefvater wollte und konnte ich nicht bleiben. Zum Glück habe ich meine Frau Bernhardina, eine ‚Urmäderin‘, kennen gelernt. Dann ist alles schnell gegangen: Ich war zwanzig, meine Frau ein Jahr jünger. Am Todestag meiner Mutter, am 9. August 1952 haben wir im Gallusstift in Bregenz geheiratet.  Das ganze Dorf hat gemault. Sie war in anderen Umständen, und darüber haben damals noch die Leute das Maul zerrissen. Besonders Pfarrer Gächter hat uns schief angeschaut.“

Die junge Familie wohnte mit ihren Kindern Gisela (Jg. 1952) und Aloisia (Jg. 1954) bis 1956 in sehr bescheidenen und beengten Verhältnissen in Untermiete bei Hr. Baltassari, dann erwarb Kurt Plessl in Altach das 300 Jahre alte „Susanna Hüsle“ (Kirchstr. 7).

„Diese Jahre waren keine guten Jahre, die kann man abhaken“, sagt er. Von 1954 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1990 arbeitete er als Grenzgänger in der Schweiz in der Stickerei.

„Meine Frau wollte im Dorf bauen. Die Grundstückspreise waren sehr niedrig. 1964 haben wir mit viel, viel Eigenleistung mit dem Bau des Einfamilienhauses begonnen, in dem wir heute leben. Drei Jahre lang haben wir wirklich geschuftet, bis wir einziehen konnten. Schichtarbeit - und dann auf den Bau. Mit einem Maurer haben wir den Rohbau hochgezogen. Von der Bank haben wir keinen Kredit erhalten. So war ich völlig in den Klauen meines Chefs, der die Notlage ausgenützt hat. Und auch nach dem Einzug ist es weiter gegangen. Richtig fertig wird man ja nie! Heute merke ich diese Schinderei im Kreuz, ich habe von damals ein Rückenleiden. Denn auch der Garten hat viel Arbeit gegeben. Und bei mir musste alles immer in Ordnung sein. Bevor ich in die geliebten Berge gegangen bin, musste der Rasen gemäht sein.“

Zwei Leidenschaft machten Kurt Plessl im Dorf bekannt. Die Musik und das Bergsteigen.

Bis 1967 spielte er in der Dorfmusik Trompete, und als führendes Mitglied der „Böhmischen Musik“ war er auf Tanzveranstaltungen, Schlachtpartien, Taufen und ähnlichen Festen ein integriertes Mitglied der Dorfgemeinschaft.

„Ich habe mich dazugehörig gefühlt. Ich war in jedem Haus. Die ‚Altmäderer’ waren konziliant, das war ein separates Völklein, dem der Most und der Schnaps am nächsten stand. Bei einer Fronleichnamsprozession hat Pfarrer Gohm die Gaffer in der ‚Krone’ einmal als ‚Mosttröttel’ beschimpft... Viele mussten auspendeln, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Und dann ist man am Sonntag im Gasthaus gesessen und hat debattiert. Zwar habe ich mich schnell an den Dialekt gewöhnt, doch manchmal bin ich ins Hochdeutsche verfallen – und da haben sie mir den Spitznamen ‚Dr. Plessl’ verpasst.“

Bei diesen Stammtischdiskussionen gaben die „Kameradschaftsbündler“ den Ton an.

Mit meiner pazifistischen Grundhaltung bin ich allerdings oft schlecht angekommen. Aber ich habe in meiner Jugend so viel Schreckliches gesehen, dass ich den Krieg zu hassen gelernt habe. Und das habe ich nie verhehlt. Damit war ich allerdings in einer Außenseiterposition. Ich habe zum Beispiel gesehen, wie in Reichenberg ein Neunzehnjähriger als Deserteur erschossen wurde. Die ‚Kettenhunde’ der Militärpolizei haben ihn aus dem Zug herausgeholt. Dann mussten alle vier Fähnlein – 120 Mann – zu einem Appell antreten und er wurde vor meinen Augen exekutiert. Diesen Anblick habe ich nie vergessen können und er hat mich in meinen pazifistischen Grundgedanken gestärkt.“

Die Konflikte mit den alten Kameradschaftsbündlern, die im Dorf den Ton angaben, haben ihn fast zermürbt und diese Diskussionen um die Wehrmacht haben zu einem gewissen Rückzug aus dem Dorfleben geführt.

„Ab 1967 bin ich dann mit Hans Egle in die Berge gegangen. ‚Im Firn und Eis der Alpen’ hat der Vortrag geheißen, den ich 1970 gehalten habe. Zwei Jahre später habe ich im Adler-Saal ‚Vom Hohen Gerach zum Mont Blanc’ gezeigt. Eigentlich war Arthur Hellriegel der ‚Schuldige’. Er hat zu mir gesagt:’ Was, du willst auf den Mont Blanc? Das wirst du nie schaffen! Habe ich aber doch!“

Mit seiner damals achtzehnjährigen Tochter Aloisia machte er an einem Tag, in sechzehn Stunden, in der Silvretta sechs Dreitausender.

„Doch auch die Bergsteigerkarriere hatte ein Ende. Wenn man gut sein will, muss man trainieren. Und dafür hatte ich keine Zeit: Ich war im Haus und im Garten beschäftigt – und dann gehen Bergfreundschaften zu Brüche.“

Kurt Plessl könnte noch viel erzählen, aber es plagen ihn schwere Bedenken.

„Meine Geschichte ist doch nicht erzählenswert. Und warum soll sie jemand lesen wollen? Und was werden sie im Dorf sagen? Die alten Kameraden werden wieder das Maul über ‚Dr. Plessl’ zerreißen – eigentlich will ich nur noch meine Ruhe haben.“

Erst nach einer langen Denkphase stimmt der Erzähler zu, dass der Historiker seine Geschichte veröffentlichen darf. „Ich mache es für meinen Lehrer Professor Klein. Es ist wirklich wichtig, dass die Jungen etwas über diese schrecklichen Zeiten erfahren.“

Doch als er die Druckfahnen noch einmal zur Durchsicht bekam, nahm er die Zusage zurück: „Es tut mir sehr leid. Bitte seien Sie nicht böse! Ich verehre Professor Klein, aber die Angst vor den Kameradschaftsbündlern im Dorf ist zu groß!“

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