Meinrad Pichler (2020): Der mutige Fernmelder Ing. Walter Kareis (1906–1988)
Der 1. Mai 1945 war ein denkwürdiger und vor allem dramatischer Tag für die Einwohner/innen von Bregenz. Auf der einen Seite sehnte die Mehrheit das Ende der NS-Herrschaft herbei, die sich gerade in ihren letzten Tagen nochmals von ihrer terroristischen Seite zeigte, auf der anderen sah man der Ankunft der Befreier mit Bangen entgegen. Die NS-Propaganda hatte, um die letzten Abwehrkräfte zu mobilisieren, für den Fall einer möglichen militärischen Niederlage, Gräueltaten der Sieger angekündigt. Zugleich wusste niemand, wie sich der Stand der Verhandlungen zwischen der bereits in Lochau angekommenen französischen Armee und den nazistischen „Verteidigern“ von Bregenz entwickelt hatte. Im allgemeinen Kompetenzwirrwarr der letzten Kriegstage hatten jene das Sagen, die mit ihren Waffen argumentierten. Versprengte deutsche Einheiten von SS und Wehrmacht versuchten durch Vorarlberg an den Arlberg und schließlich nach Tirol zu gelangen. Von den dort bereits eingelangten Amerikanern erhofften sie sich bessere Behandlung und Verpflegung. Die Rettung der eigenen Haut war den fanatischen Durchhaltern wichtiger als das Wohl der Bevölkerung. Deshalb versuchten sie durch mehreren Sperren ihren Rückzug abzusichern. Eine solche wurde an der Bregenzer Klause errichtet und trotz fieberhafter Verhandlungen nicht geräumt. Nach mehreren Ultimaten griffen deshalb am Vormittag des 1. Mai französische Bomber die Stadt an.
Nur wenige wagten es, in diesem kriegerischen Chaos die Luftschutzkeller zu verlassen, um vielleicht einen Beitrag zur Befreiung der Stadt zu leisten. Einer von ihnen war Walter Kareis, der unter Lebensgefahr in einige exponierte Gebäude eindrang und weiße Fahnen hisste. Diese waren am Vortag im Texilgeschäft Holzer hergestellt worden. Fahnen auf der Gewerbeschule, der Post und auf dem Rathaus sollten den Franzosen signalisieren, dass die deutschen Soldaten aus der Stadt abgezogen seien, obwohl noch deutsche Panzerwagen am Kornmarkplatz standen. Da der Fermmeldetechniker keinen Draht zu den Befreiern hatte, musste er auf konventionelle Signalzeichen zurückgreifen. Auch wenn die Einstellung der Bombardierung wahrscheinlich aus anderen Gründen geschah, so war diese mutige Aktion doch von enormer symbolischer Bedeutung. Als kleine persönliche Genugtuung schmiss Kareis die offizielle Hitlerbüste aus einem Rathaus-fenster auf dieStraße, wo sie in Scherben zerbarst. Wie gefährlich ein solches Unterfangen noch in den letzten Stunden der hitlerdeutschen Terrorherrschaft war, zeigte sich am Tag zuvor. In Hohen-weiler war der Bauer Hermann Rottmeier wegen einer zu früh gehissten weißen Flagge erschossen worden.
Walter Kareis hatte genügend Gründe, weltanschauliche und persönliche, das Ende der NS-Herrschaft zu befördern, und sein Mut war mit den Erfahrungen und Erlebnissen der vorausgegangenen Jahre gewachsen. Als so genannter Halbjude und Kommunist war er vom nationalsozialistischen Verfolgungsapparat drangsaliert und eingesperrt worden. Im Herbst 1944 wurde Walter Kareis zusammen mit zwei weiteren Bregenzern ins Zwangsarbeitslager Schelditz – ein Außenlager des KZ Buchenwald – deportiert. Hier internierten die Nationalsozialisten Halbjuden,darunter 24 Tiroler und Vorarlberger. Diese hatten – so ein Mithäftling – „niedrigste und ekelerregendste Arbeiten unter schikanöser Behandlung“ in einem Erdölmineralwerk auszuführen. Mitte April 1945 wurden die gut 500 Häftlinge vor der anrückenden Roten Armee ins KZ Flossenbürg in Marsch gesetzt. Da war Kareis schon nicht mehr dabei. Die Gestapo nahm ihn am 20. März 1945 fest und brachte ihn wegen „zersetzender Propaganda“ und Fluchthilfe zu ihrer Leitstelle in Gera. Zusammen mit dem jungen Bregenzer Alfred Neurauter gelang ihm Mitte April 1945 die Flucht aus dem Gestapo-Gefängnis. Auf abenteuerlichen Wegen und gefälschten Entlassungsscheinen konnten sich die beiden nach Bregenz durchschlagen. Am 16. April meldete sich Kareis bei seinem früheren Arbeitgeber, der ihn bis zur Befreiung „fallweise außerhalb von Bregenz“ einsetzte. Sein Bruder Wilhelm hatte weniger Glück: Er wurde zur selben Zeit in einem Gefangenentreck aus dem KZ Mauthausen ins Außenlager Ebensee getrieben. Der zuvor Geschundene überlebte die Strapazen nicht. Er verstarb am 20. April irgendwo auf dem Weg zwischen den beiden Lagern. Er war zu Beginn des Jahres 1944 wegen Widerstandes gegen das NS-Regime verhaftet und interniert worden.
Walter Kareis wurde 1906 in Wien als drittes Kind eines sehr ungleichen Elternpaares geboren. Der Vater war ein bereits 55-jähriger Buchhalter, der aus Böhmen zugewandert war, während
die 24-jährige Mutter, zugezogen aus Ödenburg (heute Sopron), sich als Violinistin im Wien der Jahrhundertwende karg ernähren konnte. Der Vater verstarb früh und die Alleinerzieherin hatte drei Buben durch die Nöte des Weltkriegs zu bringen. Angesichts der materiellen Kriegsnot und der sukzessiven Installierung einer Militärdiktatur wandte sich die junge Frau der kommunistischen Partei zu und blieb ihr bis an ihr Lebensende verbunden. In diesem Sinne wurden auch die Söhne erzogen und ihnen zugleich eine gediegene Ausbildung ermöglicht. Der älteste Sohn absolvierte eine höhere Schule für das Bauwesen, fand während der Wirtschaftskrise aber keine Beschäftigung und wanderte schließlich ins kommunistische Hoffnungsland, in die Sowjetunion, aus. Im fernen Usbekistan brachte er es zu einem anerkannten Brückenplaner.
Walter Kareis besuchte die höhere Fachschule für das Fernmeldewesen, konnte aber ebenfalls in den späten 1920er Jahren in Wien keine Anstellung finden. 1931 inserierte die Firma Fiat die Stelle eines Chauffeurs in Bregenz, um die sich Kareis erfolgreich bewarb. Er sollte Fiatautos vorführen und bei Bedarf auch gewerbliche Fahrten übernehmen. Die Autobegeisterung des jungen Wieners ließ aber merklich nach, als er bei einem Unfall in der Bregenzer Rathausstraße erheblich verletzt wurde.
In Vorarlberg gab es in den 1930er Jahren zahllose Anträge auf einen Telefonanschluss, aber wenig technisch ausgebildetes Personal. So fand Kareis schließlich eine schlecht bezahlte Anstellung bei der Bausektion des Feldkicher Telegrafenamtes, die seiner Qualifikation nicht entsprach. Gleich nach dem „Anschluss“ wurde er wegen „rassischer Minderwertigkeit“ und „politischer Unzuverlässigkeit“ entlassen. Die „Gemeinheiten“ im März 1938, schrieb Kareis später nicht ohne Bitterkeit, „trugen viel zur Gewinnung meiner heutigen Menschenkenntnis bei.“ Bald darauf aber wollte die Wehrmacht von seinen Kenntnissen profitieren, und Kareis wurde einem Radarprojekt in Berlin zugeteilt. Das Bregenzer Arbeitsamt jedoch informierte die zuständige Wehrmachtsstelle, dass Kareis „Halbjude“ und vermutlich auch Kommunist sei. Was folgte, war die Entlassung aus der Wehrmacht und die Rückkehr nach Bregenz zu Frau und Kind. Er hatte 1938 die Bregenzerin Agnes King geheiratet, die ein Jahr darauf eine Tochter zur Welt brachte. Die Eheschließung Ende März 1938, gerade noch vor Inkrafttreten der sogenannten Nürnberger Rassengesetze, war noch möglich, weil das Generalvikariat vom dreimaligen Aufgebot dispensierte.
Wie andere Nazigegner, die aus ihrer öffentlichen Stellung oder halbstaatlichen Beschäftigung entfernt worden waren, fand Kareis eine Anstellung bei der Bregenzer Firma Josef Pircher als Montageleiter. An den Baustellen nahm er bis zu seiner Deportation kein Blatt vor seinen regimekritischen Mund. Unter der Aufsicht der französischen Militärregierung wurden im Mai 1945 allerorten neue Gemeindeverwaltungen eingesetzt, die in ihrer Zusammensetzung nicht nur die Vorkriegsverhältnisse abbilden, sondern auch den Widerstandskampf der Kommunisten honorieren sollten. Dem provisorischen Bregenzer Stadtrat, der bis zu den ersten Wahlen im November 1945 amtierte, gehörten neben Bürgermeister Julius Wachter zwei weitere Christlichsoziale, zwei Sozialdemokraten und zwei Kommunisten, nämlich Max Haller und Walter Kareis, an. Nach dem Bürgermeister erhielt Kareis die wesentlichsten Kompetenzen in dieser schwierigen Umbruchszeit. Er verantwortete das Sicherheitswesen, die Polizei, Gefangenenhaus und Meldeamt sowie das Passierscheinwesen. Zu keiner Zeit, so Zeitzeuge Eugen Leissing, habe der vormals Verfolgte seine nunmehrige Macht zu Racheakten verwendet. Das Ergebnis der ersten freien Wahlen beendete die kommunistische Mitregentschaft in der Landeshauptstadt. Der Bürgermeister bedankte Kareis bei seinem Ausscheiden aus der Stadtregierung ausdrücklich für sein konstruktives Wirken in schwerer Zeit.
1946 trat Ing. Walter Kareis wiederum in den Dienst des Telegrafenamtes und nahm hier bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1970 leitende Positionen ein. Kareis sei ein „ganz feiner, vornehmer Mann“ gewesen, attestierte ihm sein langjähriger Arbeitskollege Rudolf Lauterer.
Aus politischen Funktionen zog er sich völlig zurück. Im KZ-Verband blieb er auf Bundes- und Landesebene noch einige Jahre engagiert. 1957 gelang es ihm, nach mehreren Ansuchen eine Haftentschädigung von 3000 Schilling zu erhalten. Das war der Grundstein zum Erwerb einer Eigentumswohnung, die die Familie 1960 beziehen konnte. Im Gegensatz zu anderen Mutigen der letzten Kriegstage hat Ing. Kareis nie eine öffentliche Würdigung erfahren.