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Josef Hämmerle (1905–1972) - Buchhalter des Todes im Getto Lodz/Litzmannstadt

Peter Niedermair im Gespräch mit Werner Bundschuh.
Erschienen in: KULTUR – Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Nr. 1/2020, Jg. 25, Februar 2020, S. 84–86.


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Peter Niedermair ­ 1990 gab es im Jüdischen Museum Frankfurt eine Ausstellung, die vom jetzigen Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Hanno Loewy, mitgestaltet wurde. Das war die erste Spur zu Josef Hämmerle, dem „Buchhalter des Todes im Getto Lodz/Litzmannstadt“. Vor etwas mehr als einem Jahr gab es die Ausstellung „Lustenau im Nationalsozialismus“, dort war über Josef Hämmerle und seine Verbrechen im Nationalsozialismus noch nichts bekannt. Wie war das möglich? 

Werner Bundschuh ­ Noch „nichts bekannt“, ist so nicht ganz richtig – beziehungsweise muss präzisiert werden. Die Ausstellung zum Getto Lodz/Litzmannstadt in Frankfurt trug den Titel „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Im Ausstellungsband, den Hanno Loewy mit herausgegeben hat, befinden sich Fotos von Josef Hämmerle. Von 1991 bis 1993 wurde unter der Leitung von Karl Stuhlpfarrer (Institut für Zeitgeschichte Wien), unter Mitarbeit von Florian Freund und Bertrand Perz, das Getto erforscht. Und natürlich taucht auch da der Lustenauer Hämmerle auf. 2013 wurde dieser Bericht online gestellt und ist abrufbar. Und 2009 erschien eine umfangreiche Studie von Peter Klein zur „Gettoverwaltung Litzmannstadt 1940–1944“. Da kommt Hämmerle sehr ausführlich vor, schließlich war er dort Leiter der Ernährungs- und Wirtschaſtsstelle und zeitweise Stellvertreter von Hans Biebow, der 1947 in Polen gehängt wurde. Richtig ist, dass Hämmerle und seine Involvierung in den Holocaust – die ca. 160.000 Eingepferchten im Getto wurden zum Großteil im Vernichtungslager Kulmhof/Chelmno und in Auschwitz – ermordet, bis zur Lustenau-Ausstellung in Vorarlberg nicht rezipiert wurde. Kein Wunder, Hämmerle blieb im Gegensatz zu seinem Chef Biebow nach 1945 verschollen. Die deutsche Justiz ermittelte Jahrzehntelang gegen ihn, konnte seiner jedoch nicht habhaſt werden.

Bei den Recherchen zur Ausstellungstafel in Lustenau stellte sich dann heraus, dass Hämmerle bereits 1945 nach Vorarlberg zurückgekehrt war und in Lustenau, Kennelbach, Bregenz und Hard bis zu seinem Tod 1972 gelebt hat. Da stellten sich dem Historiker natürlich weitere Fragen: Wie war es möglich, dass Hämmerle der Justiz entgehen konnte, hat ihn jemand im Land gedeckt usw. Dieser Frage bin ich dann im Rahmen eines Forschungsauſtrags der Gemeinde Lustenau weiter nachgegangen.

Hämmerles Weg zum „Judenfachmann“


Niedermair
­ 1939, als Hämmerle aus der Schweiz nicht mehr zurück nach Österreich durſte, suchte er mit Frau und Kindern den Weg in den Osten, wollte dort sein Glück machen und kam in Lodz unter. Wie wurde Hämmerle zum „Hirn der Ausplünderung“?

Bundschuh ­ In der Literatur wurde die Persönlichkeit von Hämmerle bisher sehr verknappt bzw. falsch dargestellt. Vor allem was seinen Schweiz-Aufenthalt betrifft. Bisher galt er als zurückkehrender Textilgroßhändler. Völlig falsch: Er war ein betrügerischer Klein-krimineller, der von der österreichischen Justiz verfolgt wurde. Als er 1939 „ins Reich“ zurückkehren wollte, waren noch Verfahren anhängig und er musste um „freies Geleit“ ansuchen. Den diesbezüglichen Aktenbestand konnte ich im Deutschen Bundesarchiv ausfindig machen. Ein umfangreiches Konvolut, das tiefe Einblicke in die Persönlichkeit von Hämmerle gewährt: Der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Innsbruck machte sich keine Illusionen und lehnte das Rückkehrgesuch ab, weil er Hämmerle „Skrupellosigkeit und hemmungslose Profitgier“ attestierte.

Doch Hämmerle machte sich über München nach Lodz/ später Litzmannstadt auf: Im Warthegau wurde das größte Getto auf Reichsboden eingerichtet – und da konnte man Männer wie Hämmerle gebrauchen. Hinter dem Rücken seines Chefs bewarb er sich 1941 um die Leitung des Gettos in Riga. In seinem „Bewerbungsschreiben“ befindet sich auch jene geschönte Biographie, die bisher in der Literatur vorkommt.

Hämmerles Stelle war entscheidend für den Getto-Ausplünderungsplan. Die im Getto Eingesperrten sollten sich durch ihre Arbeit im Rahmen der „Wehrwirtschaſt“ selbst finanzieren und ernähren. Die Transaktionen wurden über die Hämmerle-Buchhaltung abgewickelt. Dass das „Geschäſt funktionierte“, dafür hatte der „Judenälteste“ Rumkowski unter brutalsten Gewaltandrohungen zu sorgen. Der Name„Ernährungsstelle“ ist ein Hohn. „Hungerstelle“- Hämmerle wäre richtiger. Sie war für die Nahrungsmittelbeschaffung zuständig, die hinten und vorne nicht reichte. In „Spitzenmonaten“ verhungerten mehrere Tausende im Getto. Die „Getto-Chronik“ gibt darüber Auskunſt, sie kann in der Landesbibliothek eingesehen werden.

Niedermair ­ Wer war neben Hämmerle in diesem Lodzer Dreigestirn? Von welcher Stelle aus nahm er Einfluss? Besonders brutal wurden Kinder behandelt. 

Bundschuh ­ Der Kopf dieses „Dreigestirns“ war der Bremer Großhändler Hans Biebow. Er arbeitete zunächst sogar gratis für die Stadtverwaltung, entwickelte großen Ehrgeiz und erweiterte seinen Handlungsspielraum stetig. Die Gestapo vermutete sogar, Biebow wolle mit Hilfe Reinhard Heydrichs, des Leiters des Reichssicherheitshauptamts, die Leitung sämtlicher Gettos übernehmen. Seine Stellvertreter waren Wilhelm Ribbe und Josef Hämmerle. Alle drei wollten als „Judenfachmänner“ gelten – das heißt, sie wirkten am  Holocaust aktiv mit. Das Motto im Getto hieß: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Im Klartext: Zunächst wurden Kinder und ältere Menschen im Vernichtungslager Chelmno, das sich in der Nähe von Lodz/Litzmannstadt befand, industriell ermordet. Außerdem gab es in „Litzmannstadt“ ein Jugendkonzentrationslager für sog. „asoziale polnische Kinder und Jugendliche“ – ein eigenes Kapitel. Und nicht zu vergessen: Rund 5.000 burgenländische Roma und Sinti kamen ins Getto Lodz und von dort nach Chelmno.

Nach 1945: Kein „Fall Hämmerle“

Niedermair ­ 1945 im Mai kam Hämmerle zurück nach Österreich. Hier begann das dritte Leben, ohne dass er seinen Namen geändert hat. Wie kam es, dass einer wie er, der von der Deutschen Justiz bis 1981 gesucht wurde, nie gefunden wurde? Hat ihn in Vorarlberg jemand gedeckt?

Bundschuh ­ Ob Hämmerle in Vorarlberg gedeckt wurde, kann ich noch nicht beantworten. Nachdem mit Hilfe der GemeindearchivarInnen von Lustenau, Kennelbach, Bregenz und Hard die Aufenthaltsorte in den Jahren 1945 bis 1972 geklärt werden konnten, begann eine äußerst spannende und intensive Recherche in deutschen Archiven. Dass die deutsche Nachkriegsjustiz zum Teil nicht sehr bemüht war, Täter aufzuspüren, belegt auch der „Fall Hämmerle“.

Niedermair ­ Wie hast Du nach jahrelangen Recherchen herausgefunden, was mit Hämmerle los war? Er tauchte doch in vielen Schrecknissen als Mitbeschuldigter auf …

Bundschuh ­ Einen „Akt Hämmerle“ gibt es nicht – weder im Deutschen Bundesarchiv in Berlin noch bei der Zentralstelle für NS-Verfolgung in Ludwigsburg. Die Akten der Staatsanwaltschaſt Dortmund, zuständig für NS-Massenverbrechen – liegen im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Münster. Man muss sich das so vorstellen: In den zahlreichen Verfahren gegen die Lodz/Litzmannstadt-Täter wird regelmäßig auch gegen Hämmerle ermittelt. Die meisten Beschuldigten werden nicht gefunden – und die Verfahren werden eingestellt. In Münster stieß ich auf einen Ermittlungsbeleg von 1981. Er enthielt den handschriſtlichen Eintrag, auf Hämmerles Wohnsitz im Jahre 1970: „A 6971 Hand am Bodensee, Wohlplatzstr. 6.“ Die Postleitzahl stimmt – die Adresse nicht, Hämmerle lebte 1970 noch in Hard, Mesnergasse 1. Trotz dieses Hinweises wurde er nicht gefunden. Ein Zufall? Was die Staatsanwaltschaſt nicht wusste: Hämmerle war 1972 bereits verstorben.

Meine Recherchen haben einige neue Forschungserkenntnisse gebracht: So Informationen zu seiner ersten Frau, Emmy Karolitsch, mit der er zwei Kinder hatte und die mit ihm in Lodz war. Seit letzter Woche habe ich neue Informationen zu ihr. Eine Freundin von Hämmerles zweiter Frau – er heiratete 1953 Julia Koppi – hat sich bei mir aus Wien gemeldet. Die Witwe Hämmerles ist erst vor drei Jahren in Wien verstorben. Ihre Freundin hat viele neue Informationen für mich – die Hämmerle-Forschung geht also weiter.

Die Forschung geht weiter

Niedermair ­ Wie gehst Du persönlich als Historiker mit der Geschichte des Josef Hämmerle um? Und was bedeutet dessen Geschichte für das gesellschaſtliche Gedächtnis?

Bundschuh ­ Die NS-Herrschaſt ist heute im Land kein Tabu mehr und recht gut erforscht. Die Johann-August-Malin-Gesellschaſt hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet. Und seit 20 Jahren bemüht sich auch erinnern.at um die Holocaust-Vermittlung. Was Werner Dreier und Du einst initiiert haben, ist heute weit über die Grenzen Österreichs hinaus ein Vorzeigeobjekt. In diesem Zusammenhang hat auch Meinrad Pichler, einer der „Urväter“ der Malin-Gesellschaſt, den Band „Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer – Täter – Gegner“ veröffentlicht. Wo es Opfer wie Julius Bachner gibt – er wurde von Bregenz nach Lodz deportiert und kam im Getto um – gibt es auch Täter. Von ihnen war bisher weniger die Rede. Ja, Dr. Irmfried Eberl, der Aufbaukommandant des Vernichtungslagers Treblinka oder Josef Vallaster, ein Mordbrenner in Hartheim und Sobibor-Täter, sind heute bekannter als vor Jahren, aber viele Täter – vor allem auch „Wirtschaſtstäter“ wie Josef Hämmerle blieben im Dunkeln oder wurden sogar in der Nachkriegsgesellschaſt Ehrenbürger – Harald Walser hat einige davon in seinen „Bombengeschäſten“ behandelt. Es gibt also noch einiges zu erforschen.

Die Erinnerung an die NS-Vergangenheit ist von eminenter Bedeutung für die Gegenwart – und für die nachkommenden Generationen. Stichwort: FPÖ-„Einzelfälle“ oder der unsägliche „Historikerbericht“ dieser Partei. Vor mir liegt ein typisches Reiseprospekt, in dem es heißt: „Heute fahren wir über Breslau nach Lodz. Berühmt wurde die Stadt durch Vicky Leandros Evergreen ‚Theo, komm, wir fahren nach Lodz‘.“ Dass von Lodz aus 160.000 Menschen mit Hilfe von Hämmerle aus Lustenau in den Tod geschickt wurden, sollte verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gelangen. 

 

Josef Hämmerle hinter seinem Schreibtisch in Lodz/Litzmannstadt.

Josef Hämmerle hinter seinem Schreibtisch in Lodz/Litzmannstadt.

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