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Meinrad Pichler (2009): Grausame Gleichzeitigkeit

Während Elmar Grabherr, nach dem Zweiten Weltkrieg (bis 1976) mächtigster Beamter in der Vorarlberger Landesverwaltung, im schönen Innsbruck am grünen Inn dem "Führer" diente und in Briefen an vermeintliche Freunde vom Endsieg schwadronierte, wurde in Bregenz eine Frau aus "rassischen" Gründen deportiert: eine grausame Gleichzeitigkeit, für die der Schreibtisch-Nazi Grabherr, der sich nach 1945 selbst entnazifizierte, nie Bedauern gezeigt hat.


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Meinrad Pichler

Grausame Gleichzeitigkeit

 

Erschienen in den „Vorarlberger Nachrichten“, 19. März 2009, S. A10 (Gastkommentar)


Trotz aller Versuche der Familienangehörigen, eine Deportation zu verhindern, wurde die Bregenzerin R.S. am 28.4.1943, Gründonnerstag, von der GESTAPO verhaftet und bis zum Abtransport nach Innsbruck im Bregenzer Gefangenenhaus inhaftiert. R.S. war völlig unbescholten und hatte bis dahin ein unauffälliges Leben als Hausfrau und Mutter geführt; aber sie galt den Nazis als Jüdin, obwohl sie katholisch getauft und schon fast 40 Jahre mit einem Bregenzer Kaufmann verheiratet war. Gauleiter Hofer und seine willfährigen Erfüllungsgehilfen hatten beschlossen, dass auch der Gau Tirol-Vorarlberg „judenfrei“ sein sollte und dass nun auch jene jüdischen Mitbürger/innen vernichtet werden sollten, die bis dahin wegen ihrer Ehe mit einem/er „Arier/in“ verschont geblieben waren. Weil diese Personengruppe in der Regel sozial gut verankert war, befürchteten die Nazi-Behörden eher Widerstand und Aufsehen als bei Zwangsmaßnahmen gegen ungeschütztere Personengruppen. Mit anhaltendem Krieg und der Wende von Stalingrad in Winter 1942/43 wurden allerdings auch solche Bedenken abgelegt, um das Hirngespinst vom „jüdischen Sündenbock“ in der Bevölkerung lebendig zu halten.

Um ihrer Familie die Endgültigkeit der Deportation in einem Abschiedsbrief mitzuteilen, bat R.S. im Bregenzer Gefängnis um Schreibzeug; doch wurde „beides verweigert, sowohl Papier als auch Tinte“. Das waren vermutlich die „Späne“, von denen noch die Rede sein wird.

Am selben Gründonnerstag 1943 griff Elmar Grabherr, Beamter in der Gauverwaltung in Innsbruck, zur Feder, um einem ehemaligen Kollegen in der Vorarlberger Landesverwaltung einen persönlichen Brief zu schreiben. Trotz kriegswirtschaftlicher Einschränkungen verfügte er über ausreichend „Papier und Tinte“. Nach einigen persönlichen Mitteilungen und ausführlichen Erklärungen zur Außenpolitik des „Führers“ meinte Grabherr noch feststellen zu müssen: „Es ist nicht mehr als recht, daß endlich auch mit den Juden abgefahren wird, die mit Ariern verheiratet sind, und deshalb bisher verschont wurden, denn es entspricht dem gesunden Volksempfinden, daß für die von den jüdischen Führern in Moskau, Washington und London gegen unsere Krankenhäuser und Wohnviertel begangenen Gräuel unsere Juden zur gesamten Hand haften. Daß es dabei im Einzelfall harte Szenen geben mußte, ließ sich nicht vermeiden. Wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne. Heil Hitler! Dein E.“ (Zitat aus dem eben erschienen Buch von Leo Haffner, S. 213).

Welch grausame Gleichzeitigkeit: Während Frau S. auf dem Weg ins Vernichtungslager war, verschickte der gnadenlose Schreibtischtäter die verbohrte Begründung für die Unmenschlichkeit. Als am darauffolgenden Karfreitag Grabherrs Brief das Gauamt verließ, war Frau S. im Sammellager der SS in Innsbruck-Reichenau angekommen. Ihr standen noch grausame Kreuzwegstationen bevor, ehe sie durch den Mut ihres Sohnes und die Korrumpierbarkeit von NS-Funktionären gerettet wurde. Er dagegen setzte seinen politischen Irrlauf von der geheizten Schreibstube aus fort. Erst zwei Jahre später, als der „Führer“ ab- und die Vorhut der Alliierten auftauchte, wechselte er rechtzeitig die Seite und dienerte er sich mit Erfolg den neuen Mächtigen an.

Im Jahre 1955, als Frau S. an den Spätfolgen ihrer Haftzeit verstarb, gelangte Grabherr ans angestrebte Karriereziel: Er wurde Landesamtdirektor von Vorarlberg. Eine Reue für seine schäbigen Dienste im Quartier des Gauleiters oder ein wirkliches Mitleid für die Naziopfer hat er – wenn man die herzlose Spruchpraxis bei der Opferfürsorge als Maßstab nimmt – nie gezeigt. Im Gegenteil: Er ernannte sich bald wieder zum Sprecher des „gesunden Volksempfindens“.

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Die „VN" geben Gastkommentatoren Raum, ihre persönliche Meinung zu äußern. Sie muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.

 

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