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Meinrad Pichler (2021): Brückenschlag nach hinten und Blick nach vorn. Über die künstlerische und gesellschaftliche Positionierung der frühen Bregenzer Festspiele.

Meinrad Pichler befasst sich in diesem Beitrag zu "75 Jahre Bregenzer Festspiele" mit der Gründungsgeschichte und den Absichten der frühen Festspiele. Das Nachkriegskonzept des Festivals setzte auf Operettenseligkeit und "alemannischen Kulturwillen". Die erst kurz vergangene Herrschaft des Nationalsozialismus wurde in den Programmheften mit keinem Wort erwähnt.

 

Erschienen in: Festspielzeit. Magazin der Bregenzer Festspiele 1/2021, S. 8-11.

 

Anlässlich der Jahreshauptversammlung der Bregenzer Theatergemeinde im September 1930 berichtete ein Vorstandsmitglied über die Freilichtaufführungen, die bei einer Reise durch Deutschland zu sehen waren. Bregenz, so schlug der Kulturtourist vor, hätte eine Reihe herrlicher Plätze für ein Freilichttheater. Der Vorstand sicherte schließlich zu, sich mit der Idee wegen ihrer „nicht zu unterschätzenden Bedeutung für den Fremdenverkehr“ zu befassen. Die Wirtschaftskrise und die politischen Verhältnisse der folgenden Jahre boten aber keinen günstigen Boden für mutige kulturelle Projekte. Doch die Idee für ein Freilichttheater im Bregenzer Sommer war geboren; durch die unglückseligen Zeitläufte zwar aufgeschoben, aber nicht vergessen.

Der oft als Stunde null bezeichnete politische Neubeginn vom Mai 1945 war in Wirklichkeit ein Brückenschlag in die Vergangenheit. Die Zukunft sollte mit dem Personal und der Ideologie der Vorkriegszeit gebaut werden, Kulturverständnis und kultureller Kanon stammten ebenso aus der Zeit vor dem sogenannten Anschluss im März 1938. Österreich hatte sich angeblich nichts vorzuwerfen, bezeichnete sich selbst als erstes Opfer des Nationalsozialismus und setzte deshalb auf Kontinuität. Die Wiederherstellung Österreichs fußte auf einem Rückgriff in die Vergangenheit und weniger auf einer Vision für die Zukunft. „Wir können dort weitermachen, wo wir 1938 aufgehört haben“, meinte ein einflussreicher Vorarlberger Kulturschaffender zur Ausrichtung der neuen Kulturpolitik. Nicht einmal die historisch korrekte Wendung „aufhören mussten“ wollte dem kulturellen Brückenbauer über die Lippen gehen.

Genau in diesem historischen Kontext sind auch die Gründungsabsichten und Programme der frühen Festspiele zu sehen. In welchem Bregenzer Gasthaus und von welcher Männerrunde die Vorkriegsidee von einem Freilufttheater erstmals aufgebracht wurde, darüber waren sich die Zeitzeugen nie einig. Jedenfalls war der städtische Verkehrsausschuss, der weniger für den Straßenverkehr als vielmehr für die Hebung des Fremdenverkehrs zuständig war, auf der Suche nach einer geeigneten Freiluftbühne am Gondelhafen fündig geworden. Und der kommunistische Stadtrat Max Haller besorgte in Fußach ein Kiesschiff. Davor hatten die Aktivisten verschiedene andere mögliche Spielorte wie etwa das Stadion, den Steinbruch im Thalbach oder etwa die Freitreppe vor der Herz-Jesu-Kirche nach genauer Besichtigung verworfen. Erst etwa einen Monat vor Festivalbeginn wurden Programm und Spielorte endgültig fixiert.

Auch in den Programmheften der Jahre 1946 und 1947 wird in pathetischer Rhetorik und den Nationalsozialismus ausklammernd an frühere Zeiten angedockt. „So ist es verständlich“, schrieb der Kulturjournalist Walter Scheiner in der Programmankündigung 1946, „dass wir, reif geworden durch bittere Erfahrungen, dort wieder Fuß fassen wollen, woher die Besinnung auf uns selbst ihre gläubigste Kraft nehmen kann – in dem Erbe unserer Väter, die den Namen der österreichischen Kultur zu dem gemacht haben, was er ist. Hier am Schwäbischen Meer beginnt Österreich, das wir wieder zu dem machen wollen, was es war: Hüter alter Kultur und Quell junger künstlerischer Kraft.“ In der Praxis der folgenden Jahre wurde allerdings fast ausschließlich der erstgenannte Aspekt umgesetzt. Soweit der verbale Überbau. Adolf Salzmann, der umtriebige Stadtrat, praktische Organisator und gute Geist der ersten „Festwoche“, der für den notwendigen Unterbau sorgte, dürfte über die großen Worte eher geschmunzelt haben. Sein nüchterner Pragmatismus war von gefüllten Fremdenbetten und anrollenden Schweizer Franken ebenso bestimmt wie von der holden Kunst. Viele Bürgerinnen und Bürger sahen so wie er in der Festwoche eine Aufstehhilfe für das darniederliegende Wirtschaftsleben; einen gemeinsamen Kraftakt zur Einebnung der gesellschaftlichen Gräben; einen festlichen Farbtupfer im grauen Nachkriegsalltag, insgesamt eine Art spielerischer Exorzismus des Kriegstraumas.

„Die Festspielwochen 1946“, schrieb im Programmheft 1947 ein vormals nationalsozialistischer Volkskundler, „waren ein Symbol der Auferstehung aus dem Grauen und der Vernichtung, ein Ausdruck österreichischer Lebenszuversicht, alemannischen Kulturwillens.“ In keinem der beiden Vorworte wurde der Nationalsozialismus beim Namen genannt. Das menschenvernichtende und kulturzerstörende Regime wurde tabuisiert, und so sollte es auch in nächster Festspielzukunft bleiben. Rückerinnerung an fernere schönere Zeiten war angesagt, die unmittelbare Vergangenheit so weit wie möglich ausgeblendet. Was eignete sich da besser als die Operette, in der fesche k. k. Offiziere den Ton angaben und vom Vernichtungskrieg keine Rede war. „Glücklich ist, wer vergisst ...“

Auch der beschworene „alemannische Kulturwille“ wurde in den Folgejahren kaum spürbar. Die Landesregierung blieb mit finanzieller Unterstützung hin- und zurückhaltend und ohne nachdrücklichen Wiener Support und die Anstrengungen der Stadt hatte es nach 1946 keine zweite Festwoche gegeben. Für Bregenz und die Wiener Künstlerinnen und Künstler bedeutete die Festwoche eine Win-win-Situation. Kunst gegen Verpflegung und Verpflegung gegen Kunst. Nicht umsonst dankte der Orchestervorstand der Symphoniker am Ende der ersten Zusammenarbeit „für die Aufnahme und Fürsorge“ in Bregenz und der Bregenzer Bürgermeister bedankte sich für das außergewöhnliche musikalische Erlebnis.

Mit 25.500 Gästen wurde die erste Festwoche ein enormer Erfolg. 22.000 davon kamen aus der Schweiz. Sie konnten sich nicht nur die Eintrittskarten um sechs Schilling leisten, sie waren neben dem kulturellen Interesse auch ihrer Neugier über den Zustand ihres Nachbarlandes gefolgt. Passierscheine gab es nur für den Besuch der Festwoche, danach war die Grenze wieder weitgehend geschlossen. In der Bregenzer Gaststätte Forster und im Vorklöstner Falken konnten die Schweizer Gäste gegen Bezahlung in Franken eine Mahlzeit erhalten. Die Beschaffungsstellen des Landes und der Stadt hatten aus ihren Beständen Lebensmittel zur Verfügung gestellt und mit amerikanischen Care- und Schweizer Liebespaketen aufgefettet. Auf ähnliche Weise wurden die Künstlerinnen und Künstler im Hotel Krone verpflegt. Für die einheimische Bevölkerung waren die Lebensmittel immer noch rationiert.

Unter den Schweizer Gästen befanden sich inkognito auch schweizerische Polizisten, die sowohl das Verhalten ihrer Landsleute als auch die Verhältnisse im neuen Österreich in Augenschein nahmen. Gerne wäre einer von ihnen auch aktiv geworden, musste er doch mitansehen, wie ein in der Schweiz steckbrieflich gesuchter junger Mann aus Höchst im Forster Hof hielt. Der Schmugglerkönig H. H. war nicht nur im Besitz von Franken, sondern er war mit diesen auch spendabel. Als angeblicher Schweizer lud er seine Grenzhelfer zu einem üppigen Mahl ein. Bei Bier und Gesang verbrüderte man sich mit jenen Schweizer Besuchern, denen ein Bierzelt mit Blasmusik lieber gewesen wäre als Mozart im Gondelhafen. Der Schweizer Polizist konnte den Vorfall nur rapportieren, verhaften konnte er den H. H. nicht. Der Höchster Schmuggler war aber nicht der einzige, der aus der ersten Festwoche einen kleinen Nutzen zog. Der große Gewinner aber war die Stadt Bregenz. Einige engagierte Bürger, der Zufall der Anwesenheit und der Enthusiasmus von Wiener Kunstschaffenden und der politische Segen der französischen Militärregierung hatten ein Projekt Wirklichkeit werden lassen, das auch nach 75 Jahren noch Bestand hat. Dies aber nur, weil sich die Festspiele nach 40 Jahren radikal gehäutet haben. So lange hatte sich das Nachkriegskonzept gegen alle Dementis der Wirklichkeit gehalten. Mit Savarys Die Zauberflöte begann 1985 eine neue Zeitrechnung mit zeitgenössischer Dramaturgie und kompetentem Management. Hier wie überall standen und stehen die Erneuerinnen und Erneuerer auch auf den Schultern der Pioniere.

 

Von 1974 bis 1977 leitete Meinrad Pichler als ehrenamtlicher Geschäftsführer die „Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten“, die als eine Gegenbewegung zu den Bregenzer Festspielen von 1972 bis 1976 die Bregenzer Randspiele durchführte.

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