Walter Fink (2025): Laudatio zur Verleihung des Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preises an Meinrad Pichler
Walter Fink (2025): Laudatio zur Verleihung des Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preises an Meinrad Pichler
2. September 2025, Bregenz, Festspielhaus Werkstattbühne
Rede zum Nachhören und Nachsehen auf YouTube
Dokumentation des gesamten Festakts auf YouTube
Lieber Meinrad mit Familie, liebe Regina, Johanna, Peter Paul,
geschätzte Frau Chefredakteurin Isabel Russ, liebe Irene [Russ], lieber Eugen [Russ],
werte Ehrengäste!
Geburtsdaten gibt es nicht nur für Menschen, es gibt sie auch für andere Ereignisse, etwa den Beginn der neuen Geschichtsschreibung in Vorarlberg. Hier ist das Geburtsdatum das Jahr 1982, in dem das Buch „Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte“ aufgelegt wurde. Es erschien als erster Band der Reihe „Beiträge zu Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs“. Herausgeber der Anthologie, die im fink’s verlag aufgelegt wurde, war Meinrad Pichler. Und neben ihm finden sich Namen, die die zeitgeschichtliche Forschung in den nächsten Jahren – nämlich bis heute – prägen sollten: Werner Dreier, Gernot Kiermayr, Kurt Greussing, Leo Haffner, Harald Walser. Meinrad Pichler steuerte den letzten Aufsatz in dieser ersten Sammlung zur Zeitgeschichte bei. Der Titel: „Eine unbeschreibliche Vergangenheit – Die Vorarlberger Geschichtsschreibung und der Nationalsozialismus“.
Weckruf für die Zeitgeschichtsschreibung
Dieser Aufsatz war so etwas wie der Weckruf für die Zeitgeschichte, denn Meinrad Pichler verwies darauf, dass die bisherige Geschichtsschreibung das Kapitel des Nationalsozialismus entweder unbeachtet ließ oder beschönigt darstellte. Pichler schreibt:
„Die Tendenz, sich und die eigenen Verhältnisse zu verklären und zu belobigen, ist der Vorarlberger Geschichtsschreibung nicht neu. Dass bei besonders negativen Erscheinungen eigene Schuld gerne an fremde Verursacher abgeschoben wird, dafür ist die Darstellung der nationalsozialistischen Zeit ein äußerst prägnantes Beispiel.“
Publikationen werden angeführt – auch offizielle Landesgeschichten –, die diese Behauptung belegen. Und zum Ende meint Pichler:
„Die Konsequenz aus der Analyse dieses derzeitigen Zustandes kann nur sein, dass sich gerade jüngere Historiker, unbelastet von persönlichen Verstrickungen, an die Arbeit machen, dieses dunkelste Kapitel unserer Landesgeschichte zu erhellen.“
In einem anderen Buch, den „Quergängen“, von denen noch die Rede sein wird, nimmt Kurt Greussing im Vorwort Bezug auf die „Nachträge“:
„Pichler hat hier inhaltlich prägnant und stilistisch mitreißend den bis dahin herrschenden Umgang mit der Vorarlberger NS-Vergangenheit seziert: das Verschweigen der Opfer, die Beschönigung des Terrors, das (gewollte) Unwissen über die Breite des Widerstands und der Verfolgung, die Verleugnung der einheimischen Mittäterschaft und die Delegierung der Schuld an ‚Landesfremde‘ “.
Der Aufruf in Pichlers Artikel verhallte nicht ohne starkes Echo: In den Folgejahren erschienen in den „Beiträgen zu Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs“ Jahr für Jahr Bücher, die sich kritisch der Vorarlberger Zeitgeschichte widmeten. So etwa der Entstehung von „Pro Vorarlberg“ von Markus Barnay, dann „Im Prinzip: Hoffnung“, eine Geschichte der Arbeiterbewegung in Vorarlberg, herausgegeben von Kurt Greussing.
Ein kurzer Einschub: Wir hatten alle kein Geld, der Verlag nicht, die Helfer nicht, die Autoren nicht – und die Unterstützung öffentlicher Stellen war mehr als überschaubar. Und wir sprechen hier noch vom Zeitalter vor dem Computer. Ein ganz normaler Druckauftrag für die Bücher kam aus finanziellen Gründen nicht in Frage. So schrieb meine damalige, verstorbene Frau Cilli die Texte auf einer halbautomatischen Olivetti-Maschine, auf einem zusammengeschusterten Leuchttisch klebten wir die Texte und Fotos zu einem Umbruch, dann erst ging es in die Druckerei. Das Honorar für die Autoren bestand in einer meist großzügig gestalteten Präsentationsfeier – und das war‘s dann. Dann kam die Hoffnung auf einen Verkauf, der die Grundkosten decken sollte.
Schlechtes Gedächtnis als Folge schlechten Gewissens
Die weitere Buchproduktion wurde gemeinsam mit der Johann-August-Malin-Gesellschaft als Herausgeberin betrieben. Benannt war die Gesellschaft nach Johann August Malin aus Satteins, der 1942 wegen "Wehrkraftzersetzung, Vorbereitung zum Hochverrat und Verbreitung von Lügennachrichten ausländischer Sender" in München-Stadelheim hingerichtet wurde. In der Malin-Gesellschaft fanden sich nicht nur Historiker, sondern auch Interessierte, denen die Zeitgeschichte ein Anliegen war. Den Schwerpunkt des Vereinsinteresses bildete die Landesgeschichte des 20. Jahrhunderts, dem Vereinsnamen entsprechend sollte die Erforschung des Widerstandes gegen den Faschismus eine besondere Berücksichtigung finden. Einer der Mitbegründer der Gesellschaft war Meinrad Pichler, Kassierin blieb über 40 Jahre seine Frau Regina, Obmann übrigens über 30 Jahre Werner Bundschuh. Womit wir sehen, dass die Aufarbeitung der neueren Geschichte nicht nur in Männerhänden lag – und zudem einen langen Atem erforderte.
Das nächste Buch aus der „Beiträge“-Reihe sollte am meisten Staub aufwirbeln: „Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933 bis 1945“. Autoren waren Hermann Brändle, Gernot Kiermayr, Kurt Greussing, Harald Walser – und natürlich Meinrad Pichler. Das Besondere an diesem Buch: Es enthielt erstmals ein Lexikon jener Frauen und Männer, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus verschiedensten Gründen verfolgt, eingesperrt, in KZs gebracht, gefoltert oder auch ermordet wurden. Auf über hundert Seiten wurden die Namen der Verfolgten und Getöteten aufgelistet – und so bekamen diese Menschen erstmals in der Vorarlberger Geschichtsschreibung sozusagen ein Gesicht.
In einem Vorwort schreiben die Autoren:
„Wir möchten mit dieser Arbeit – vierzig Jahre nach den schrecklichen Ereignissen – einen Beitrag dazu leisten, dass den antifaschistischen Kämpfern und Opfern des NS-Regimes wenigstens im Gedenken Gerechtigkeit widerfährt.“
Die damalige Liste – das Buch erschien 1985 – ist inzwischen erweitert und hat öffentlichen Niederschlag gefunden. Beim Widerstandsdenkmal in Bregenz, das von der Künstlerin Nataša Sienčnik 2015 am Bregenzer Sparkassenplatz gestaltet wurde, wird auf das Lexikon im Buch „Von Herren und Menschen“ hingewiesen. Wir sehen: Manche Dinge brauchen einige Zeit, bis sie ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.
Dazu passt die Aussage des deutschen Autors Erich Kästner, die die Autoren von „Herren und Menschen“ ihrem Eingangstext vorangestellt haben:
„Das schlechte Gedächtnis ist eine Folge des schlechten Gewissens. Jene Vergangenheit, die unbewältigt, gleicht einem ruhelosen Gespenst. Dass wir die Schlafmütze über die Augen und Ohren ziehen, hilft nichts. Die Vergangenheit muss reden, und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden.“
Dieses Zitat von Erich Kästner könnte man getrost über die Arbeit von Meinrad Pichler stellen. Auch bei ihm muss die Vergangenheit reden, und wir müssen ihm zuhören. Zumindest dann, wenn wir wollen, dass diese Vergangenheit einen Sinn für die Gegenwart und die Zukunft macht.
„Philosophischer Kopf“ statt „Brotgelehrter“
Eine Bemerkung zur Arbeit der damals jungen Historiker ist notwendig: Sie betrieben all ihre Forschungen ohne eine Institution im Hintergrund, ohne Universität, ohne Rückhalt bei den offiziellen Stellen wie etwa dem Landesarchiv. In vielen Fällen waren es gerade diese, die tiefere Forschungen erschwert oder gar verhindert hatten. Die Arbeit der Historiker war – ebenso wie die des Verlages – sozusagen ein „rein privates Vergnügen“.
Noch ein Einschub, ein Rückgriff sozusagen. Am 26. Mai 1789 hielt Friedrich Schiller seine Antrittsvorlesung an der Universität Jena als Historiker, der er auch war. Der Titel: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Ich will nur auf einen Aspekt der schillerschen Betrachtung eingehen. Er unterscheidet nämlich zwei Historiker: Einmal den „Brotgelehrten“, der keine Zusammenhänge erkennt, keine erkennen will, sich geradezu furchtsam vor ihnen abwendet; auf der anderen Seite den „philosophischen Kopf“, der das ganze Wissen in Zusammenhang stellen will. Wir wissen, auf welcher Seite Meinrad Pichler im schillerschen Sinne stehen würde, auch aufgrund eines Satzes aus der Vorlesung von Schiller:
„Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.“
Meinrad Pichler war also nie ein Brotgelehrter, er war immer einer, der die Zusammenhänge erkannte und versuchte, diese mit Gewinn an Wissen weiterzugeben. Und das ist ihm gelungen, nicht nur in seinen Publikationen, das ist ihm vor allem auch in seiner schulischen Arbeit gelungen. Womit wir bei dem Begriff sind, den er sich selbst zuschreibt: Schulmann. In der Reihe der KünstlerInnengespräche des vorarlberg museums habe ich 2017 einen Band zum Bregenzerwälder Bildhauer Herbert Albrecht herausgegeben und dazu Meinrad Pichler gebeten, ein – übrigens ganz wunderbares – Vorwort zu unserem gemeinsamen Freund zu schreiben. Albrecht war ihm kein Unbekannter. In seinem Buch über „Nationalsozialismus in Vorarlberg“ tat Meinrad Pichler nämlich das, was seine Geschichtsschreibung so auszeichnet: Er machte zu den verschiedensten Themenbereichen des Buches Interviews mit Zeitzeugen, mit Überlebenden des NS-Systems. Zum Kapitel „Jugend und Schule“ sprach er mit Herbert Albrecht, der als 17Jähriger eingezogen und in den Krieg geschickt wurde. Nach Gefangenschaft und Flucht kehrte er im Herbst 1945 völlig unterernährt nach Hause zurück.
„Eine ganz besondere Direktorenschaft“
Doch zurück zu Meinrad Pichler. Auf die Frage, was ich bei seinem Artikel über Albrecht als Berufsbezeichnung beigeben solle, meinte er: „Pensionierter Schulmann und aktiver Historiker“. Das ist die vielleicht beste Bezeichnung, die es für ihn gibt. Die Schule, noch mehr die Schülerinnen und die Schüler waren ihm während all seiner langen Berufsjahre ein zentrales Anliegen. In einer Biographie habe ich neulich gelesen:
„Ich hatte Glück, ich hatte Meinrad Pichler als Lehrer in Geschichte.“
Dieses Glück hatten viele, zuerst im Gymnasium Schoren in Dornbirn, dann im Bregenzer Gymnasium Gallusstraße, in das Pichler 1994 als Direktor berufen wurde. Wobei: „berufen“ ist vielleicht der falsche Ausdruck, denn der Widerstand, den der unbequeme Historiker erfahren musste, weil er die Zeitgeschichte des Landes aufgemischt hatte und damit so manchem unsanft auf die Zehen getreten war, war unglaublich. Er zeigte, wes Geistes Kind man sein sollte, wenn man in diesem Land etwas erreichen wollte.
Als er am Ende seiner Dienstzeit als Direktor verabschiedet wurde, war meine Tochter Susanne im Schulgemeinschafts-Ausschuss der Gallusstraße. In dieser Funktion bedankte sie sich beim Direktor und erinnerte an seine Bestellung:
„Meinrad Pichler bewarb sich – und zum Schrecken der damaligen Politik wurde er als erster gereiht. Ganz oben mochte man ihn nicht so gerne: er beteiligte sich an linken Kulturinitiativen, etwa den Randspielen; er vertrat Gegenpositionen zur offiziellen Landespolitik, etwa bei ‚Pro Vorarlberg‘; und er publizierte. Und so war die Bestellung von Meinrad Pichler zum Direktor ‚unseres‘ Gymnasiums ein langer, dorniger Weg, dem allerdings eine ganz besondere Direktorenschaft folgte.“
Dass die „ganz oben“ dann – wenn auch viel später – doch erkannten, wer hier bestellt wurde und wer neben seinen schulischen Leistungen auch ganz andere erbrachte, zeigte sich im Jahre 2014: Da wurde Meinrad Pichler der Wissenschaftspreis des Landes Vorarlberg verliehen – die höchste Ehrung, die das Land in diesem Bereich zu vergeben hat.
Im letzten Jahresbericht von Pichlers Direktorenzeit, 2010, schrieb Sabine Sutterlütti, Professorin für Deutsch und Geschichte an der Gallusstraße:
„Blickt man nach sechzehn Jahren (…) auf die Tätigkeit unseres Direktors zurück, so wird schon beim Blick in die Jahresberichte, noch mehr aber bei der Liste seiner vielfältigen Tätigkeiten und Initiativen klar, dass er unsere Schule in so hohem Maße geprägt und auch verändert hat wie kaum jemand vor ihm, und zwar im Inneren wie auch nach außen.“
Und am Ende des Berichts erinnert sich Sutterlütti an das pädagogische Credo, das Pichler gegenüber dem Lehrkörper geäußert habe:
„Er verglich den Beruf des Lehrers mit dem eines Gärtners, nicht des Gärtners, der alle gleich macht und jeden abstehenden Zweig abschneidet, sondern des Gärtners, der den Boden bereitet, der die idealen Voraussetzungen zum Wachsen und Blühen schafft, indem er gießt, düngt und jätet, und der damit lebt, dass er die Früchte seiner Bemühungen oft nicht mehr selbst ernten kann.“
Noch einen Blick in den letzten Jahresbericht von Pichlers Direktorenzeit. Der Obmann der Personalvertretung, Werner Wetzel, schrieb einen geradezu dramaturgisch aufbereiteten Text. Er sprach vom Verlust eines Direktors, der „unbestechlich“ gewesen sei, der immer das Wohl der Schule sowie der Schülerinnen und Schüler im Auge gehabt habe, der immer versucht habe, die Lehrerinnen und Lehrer zu überzeugen, nicht ihnen anzuschaffen. An einer Stelle heißt es:
„Wir werden nicht davon sprechen, einen Menschen als Direktor zu verlieren, der durch seine ganz persönliche, überragende Bildung begeistern kann und dadurch in persona Sinnbild für dieses hohe Gut der Bildung ist und war, der größte persönliche Freude empfinden konnte für die großen, aber auch kleinen Fortschritte seiner Schülerinnen und Schüler auf den ihnen jeweils eigenen Bildungswegen. (…) Sein Interesse an der Geschichte seiner Schülerinnen und Schüler war so besonders, dass er während seines 16jährigen Amtes alle bei ihrem Namen nennen konnte.“
Und zum Abschluss schrieb Werner Wetzel:
„Das BG Gallusstraße bleibt geprägt vom Geist des Meinrad Pichler.“
Das war 2010 – und es bleibt die Hoffnung, dass von diesem Geist auch heute noch etwas in der Schule spürbar sein könnte.
40 Jahre Beschäftigung mit der NS-Herrschaft in Vorarlberg
Außerhalb der schulischen Wände gab es für Meinrad Pichler – nach 40 Jahren Schule – keine Pension, seine Produktion an Aufsätzen und Büchern zur Geschichte des Landes wurde eher intensiver. Man kann das Werk auch in Zahlen gießen: In den VN schrieb Klaus Hämmerle – übrigens ein Schüler von Meinrad Pichler – in der Ankündigung der Verleihung des Russ-Preises und -Ringes, dass man in der Vorarlberger Landesbibliothek 672 Eintragungen für Publikationen von Meinrad Pichler finde. Dabei sind umfangreiche wissenschaftliche Bücher als nur ein Beleg gezählt. Zum Beispiel hat der dritte Band der Geschichte Vorarlbergs, „Das Land Vorarlberg von 1861 bis 2025“, mit 468 Seiten nur einen Eintrag, ebenso nur ein Eintrag für das Standardwerk „Nationalsozialismus in Vorarlberg – Opfer – Täter – Gegner“, das 2012 mit 416 Seiten aufgelegt wurde. Für beide nur jeweils eine Eintragung – aber für beide jahrelange Arbeit.
Imposant auch die Zeitspanne, in der Meinrad Pichler mit Publikationen präsent war. Beginnend mit den schon angesprochenen „Nachträgen“ im Jahr 1982 herauf bis zum Mai dieses Jahres – also mehr als vier Jahrzehnte –, als das Buch „Rankweil 1938 bis 1945 – Eine Gemeinde im Nationalsozialismus“ vorgestellt wurde. Übrigens und so ganz nebenbei: Ich ziehe den Hut vor einer Gemeinde, die solche Aufträge vergibt. Denn nach wie vor ist es nicht einfach, sich mit der problematischsten Zeit unserer Geschichte gerade auf kleinem Raum zu beschäftigen.
Rankweil ist ein besonderes Beispiel, denn in dieser Gemeinde wohnte Natalie Beer. Die vom offiziellen Vorarlberg lange als „Dichterfürstin des Landes“ verehrte, vom Land – als einzige Künstlerpersönlichkeit bisher – mit einer „Künstlerpension“ ausgestattete Dichterin, war nämlich schlicht und einfach eine Anhängerin des Nationalsozialismus der ersten Stunde – und sie blieb es weit über die NS-Zeit hinaus bis zu ihrem Tod. Man wusste es – aber man wusste es nicht genau, man wusste nicht genug. Nun hat Meinrad Pichler in seinem Rankweil-Buch Natalie Beer ein Denkmal der besonderen Art gesetzt: Elf Seiten widmet er der Dichterin, die in einem Gedicht über Adolf Hitler geschrieben hat: „Du bist in Deinem Volk enthalten – und dein Volk wächst hoch in dir“, und diese elf Seiten sind eine endgültige Abrechnung mit der Hohepriesterin der Literatur, als die sie Vorarlberg lange verehrt hat. Jetzt wissen wir alles, jetzt brauchen wir darüber auch nicht mehr zu diskutieren, jetzt können wir bei solchen nach wie vor aufkommenden Diskussionen einfach sagen: „Lies nach bei Pichler!“ Und Ende der Debatte. Dass Geschichtsschreibung auch das kann, ist eine hohe Kunst – und eine notwendige Klärung mancher Fragen in der Kulturgeschichte dieses Landes.
Das Gasthaus als Ort politischer Öffentlichkeit
Wieder einmal ein Einschub: Ich bin Teil eines Männertreffs, eine Art Stammtisch, zu dem sich Männer höheren Alters alle zwei Wochen zusammenfinden. Zum größeren Teil sind es Historiker, ehemalige Lehrer, alle sind wir seit kurzem oder schon länger in Pension. Ich habe diese Runde vor einiger Zeit als „Stammtisch der gepflegten Boshaftigkeit“ bezeichnet, denn natürlich wird hier politisiert, nicht immer auf höchstem Niveau, aber immer höchst engagiert. Aber auch Fußball ist ein Thema, das an diesem Tisch die Wogen hoch gehen lässt. Lauter interessante Menschen sitzen da, man darf sie beim Namen nennen: Werner Bundschuh, Werner Dreier, Kurt Greussing, Gernot Kiermayr, Michael Schelling, Willi Sieber, Harald Walser. Und dann noch Meinrad Pichler und ich. Wie gesagt: Größtenteils sind sie Historiker. Ein Großteil von ihnen hat die neue Geschichtsschreibung in Vorarlberg bestimmt, sie haben den Ständestaat, die NS-Zeit und die Nachkriegszeit bearbeitet, aufgedeckt, könnte man sagen. Und sie haben sich nicht gescheut, auch die Namen der Täter, die nach der NS-Zeit wieder in hohe politische Ämter gestiegen sind und meist nicht oder kaum behelligt wurden, zu nennen. Sie haben somit Mut bewiesen. Mit einer Ausnahme haben alle einschlägig, nämlich in Sachen Geschichte, publiziert, alle gehören sie zu den Gründern der Johann-August-Malin-Gesellschaft. Ich bin irgendwie ein Außenseiter. Und das hat, so denke ich mir, seinen Grund. Sie brauchen jemanden, der nicht – wie sie – so viel zur Geschichte weiß, auch wenn sie manchmal heftig um die Details streiten; sie brauchen auch jemanden, der kein Lehrer war. Denn wer Lehrer war, der bleibt das ein Leben lang. Sie kennen alle alten Geschichten, die ehemaligen Lehrer an den Schulen und die Professoren an den Universitäten, sie kennen die früheren Direktoren, die alten Schulinspektoren – und das Beste, das diesen Personen passieren kann, ist, dass man über sie lacht. Allerdings: Es gibt wenig zu lachen über diese Zeit. Das weiß auch ich. Denn selbst in meiner kurzen Gymnasialzeit musste ich erleben, dass ein erheblicher Teil der Professoren dem alten NS-System nachtrauerten.
Noch eines zeigt diese Runde: Alle Historiker erkennen einen der ihren als den Doyen an, als den, der von Anfang an dabei war, als den, dessen Wort letztlich doch am meisten zählt: Meinrad Pichler. Und ich sage Ihnen eines: In diesem Kreis „der gepflegten Boshaftigkeit“ zählt das etwas.
Noch einmal zu den Lehrern und der Vermittlung von Geschichte, die ja nicht nur in der Schule stattfindet. „Non scholae sed vitae discimus“ hat man uns einmal in Latein beigebracht, also dass wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen würden. Oder eine andere Behauptung, bei der der Mensch bisher den Wahrheitsbeweis nicht erbracht hat, dass wir nämlich aus der Geschichte lernen könnten. Mitnichten tun wir das – wie die Menschheitsgeschichte ausreichend belegt. Und trotzdem sitze ich jeden zweiten Donnerstag im Kreise von begeisterten Historikern, und trotzdem tritt ihr Doyen, wie ich Meinrad Pichler vorher genannt habe, nahezu jede Woche in irgendeinem Ort des Landes mit einem Vortrag zur meist neueren, meist NS-Geschichte auf.
Das gilt auch für die anderen Freunde, und immer wieder schreiben sie Bücher und Aufsätze. Fast immer einschlägig, etwa Harald Walser über Maria Stromberger, „Den Engel von Auschwitz“ – ein Thema, das übrigens auch den Weg zum Theater fand, oder Werner Bundschuh als Herausgeber des Buches „Menschenverächter – Vorarlberger als Akteure bei Entrechtung und Vernichtung im Nationalsozialismus“. Enthalten sind Beiträge fast aller „üblichen Verdächtigen“: Natürlich Werner Bundschuh, dann Werner Dreier, Gernot Kiermayr, Harald Walser – und natürlich Meinrad Pichler.
Sogar wenn sie Geschenke machen, bleiben sie sich selbst treu. Zum 70. Geburtstag von Meinrad Pichler brachten Markus Barnay und Werner Dreier das Buch „Menschen in Bewegung – Vorarlberger Lebenswege und Zeitläufte“ heraus, 16 Biographien oder historische Ereignisse einer bestimmten Zeit, gesammelte Aufsätze von Meinrad Pichler, die zwischen 2006 und 2017 an verschiedensten Orten erschienen sind oder als Reden gehalten wurden. Im Vorwort schreiben Barnay/Dreier dazu:
„Die Sammlung zeigt sowohl das breite Spektrum der Themen, mit denen sich Meinrad Pichler beschäftigt, als auch seine Qualitäten: Pichler erzählt Geschichte und Geschichten – kritisch und unterhaltsam, spannend und immer mit großer Empathie für die handelnden Personen.“
Auswanderungsgeschichte im Fokus: Amerika!
Über ein ganz großes, ungemein wichtiges Kapitel der Arbeit von Meinrad Pichler habe ich noch nicht gesprochen: Die Auswanderer aus unserem Land in den letzten zweihundert Jahren, vor allem jene, die in die USA gegangen sind, um dort ein neues, besseres Leben zu finden. Denn hierzulande gab es für viele weder berufliche Möglichkeiten und manchmal auch zu wenig zum Essen. Das zum Standardwerk gewordene „Auswanderer – Von Vorarlberg in die USA 1800 - 1938“ von Meinrad Pichler erschien 1993. Um die 4.000 Namen sind im abschließenden „Verzeichnis der Auswanderer“ erfasst, alles Menschen, die die Notwendigkeit sahen, für immer – oder auch auf Zeit – über den großen Teich zu fahren. Auf 160 Seiten erzählt Pichler Geschichten von Personen oder Familien, von Gewinnern und Verlierern. Es ist ein ungemein spannendes Buch, das vielleicht auch ein wenig mehr Verständnis für heutige Migranten aufkommen lässt – denn unsere Vorfahren flohen nicht den Krieg, sie waren eher das, was man heute abwertend als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen würde. Zumindest die meisten von ihnen.
Dazu schreibt Pichler im Vorwort:
„Dieses Buch versteht sich als ein Beitrag zur Versachlichung des weitgesteckten und aktuellen Problems Migration, indem dieses am geschichtlichen Beispiel Vorarlbergs ausgeleuchtet und ohne tagespolitische Instrumentalisierung analysiert wird.“
Geschrieben wurde das 1993 – viel hat sich am Problem seither nicht geändert. Auch die Befassung von Meinrad Pichler mit dem Problem hat nicht nachgelassen, noch immer beschäftigt er sich damit, immer wieder auch mit Vorträgen in allen Regionen des Landes. Als eines der jüngeren Beispiele sei auf die Publikation „Aus dem Montafon an den Mississippi. Amerika-AuswandererInnen aus dem Montafon“ verwiesen, das in der Montafoner Schriftenreihe aufgelegt wurde.
Amerika interessierte Meinrad Pichler aber nicht nur als Forscher in Sachen Auswanderung, er brachte aus den USA auch neue Ideen mit. Nach einer seiner Reisen führte er 1997 im Gymnasium das sogenannte „Public Service“, das Soziale Jahr, ein, das für alle Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse verpflichtend ist. Dabei müssen sich die Jugendlichen für ein Jahr wöchentlich zwei Stunden in sozialer Arbeit engagieren, wofür zwei Schulstunden entfallen. Diese Idee von Meinrad Pichler wurde später auch von anderen Schulen aufgegriffen.
Zurück zu den Auswanderern. Ausgewandert sind natürlich nicht jene, die in der bürgerlichen Gesellschaft des Landes ihren Platz gefunden hatten, dem Land den Rücken gekehrt haben vor allem jene, deren Lebenswege nicht geradlinig, sondern krumm verlaufen sind. Und das sind – nicht nur bei den Auswanderern – auch jene, die Meinrad Pichler interessieren. „Quergänge – Vorarlberger Geschichte in Lebensläufen“ ist der Titel des 2007 erschienenen Buches, in dem der Autor die Landesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert anhand von 16 Biographien aufrollt. Auch hier also der bei Pichler immer wiederkehrende – und immer wieder gelungene – Versuch, Geschichte über Geschichten deutlich zu machen. Er schreibt von Menschen, die sich herrschenden Zwängen widersetzen, von den Fesseln, in die Menschen geboren wurden und die sie zu sprengen versuchen.
Nicht zuletzt zeigt sich das auch in den verschiedenen Biographien von Menschen aus Vorarlberg, die Meinrad Pichler in unregelmäßigen Abständen in den „Vorarlberger Nachrichten“ an die Leserschaft bringt. Genau darin liegt ja auch die Qualität dieser Biographien: Sie sind „zeitungstauglich“, also nicht nur für ein Fachpublikum, sondern für eine allgemein interessierte Öffentlichkeit geschrieben. 27 dieser Biographien sind in dem Buch „Spurensuche“ 2021 aufgelegt worden. Der damalige Chefredakteur der VN, Gerold Riedmann, schrieb in seinem Vorwort:
„Pichlers Biographien ermöglichen ein Eintauchen in Lebenssituationen des 19. und 20. Jahrhunderts. Lebenssituationen, die aus heutiger Betrachtung manchmal unendlich weit entfernt scheinen. Die aber in Wahrheit so nah sind, dass sie unsere Eltern und Großeltern hier in Vorarlberg noch so erlebt haben.“
Meinrad Pichler ad personam
Wir erkennen bei Meinrad Pichler also immer wieder, dass Biographien Geschichte oft besser erschließen, als das übliche Geschichtsschreibung kann. Dafür muss es ja auch eine Erklärung geben. Und die liegt natürlich in seinem Lebenslauf begründet. Kurt Greussing schreibt im Vorwort zu den „Quergängen“:
„Der Quergeist wehte auch im Leben von Meinrad Pichler. Er stammt, 1947 geboren, aus einer Bauernfamilie. Den elterlichen Hof in Hörbranz hat der ältere Bruder übernommen. Dass der Zweitälteste nun nicht einfach einen anderen dörflichen Beruf ergriffen hat, dazu haben seine Eltern, Josefine und Franz, wesentlich beigetragen. Sie haben ihm eine Gymnasialausbildung und ein Studium für Deutsch und Geschichte ermöglicht – letzteres auf seinen Wunsch in Wien, also nicht auf der damals vorgesehenen, sicher scheinenden Bahn der ‚Landesuniversität‘ im nahen Innsbruck.“
Pichlers Vater war auch so etwas wie ein „Quergänger“, er blieb nämlich zeitlebens – im Nationalsozialismus ebenso wie nach dem Zweiten Weltkrieg – ein, wie es Greussing nennt, „ortsbekannt lautstarker wandelnder Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen“, nämlich ein Monarchist. Auf andere Art galt das auch für Meinrad Pichler. Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung Anfang der siebziger Jahre, nach seiner Rückkehr aus Wien, in einem sogenannten „roten Haus“, in der Sennerei Hörbranz. Ein Bekannter hatte zu einer „Party“ – so nannte man das damals – eingeladen, ein Abend, an dem diskutiert, getrunken, Musik gemacht und getanzt wurde. Allein, dass man sich in diesem Haus traf, zeigte schon ein Maß an geistiger, politischer Übereinstimmung. Und seit damals währte die Freundschaft zwischen Meinrad und Regina sowie meiner damaligen Frau Cilli und mir, eine Freundschaft, die über ein halbes Jahrhundert keinen Bruch erfahren hat, eine Freundschaft, die nach dem frühen Tod von Cilli auch auf meine heutige Frau Ursula übertragen wurde.
Manchmal wundere ich mich, dass diese Freundschaft so unverbrüchlich halten konnte. Denn Meinrad ist ein anderer Mensch als ich. Er ist konsequent – ich bin das nicht. Er ist fleißig – ich bin das nicht. Er ist sparsam – ich bin das nicht. Er ist zielorientiert – ich bin das nicht. Er ging einen gerade Weg – ich eher einen krummen. Man könnte fortsetzen, aber man kann auch anführen, dass es viele Übereinstimmungen gegeben hat, dass es vieles gegeben hat, für das oder gegen das wir gemeinsam – gemeinsam auch mit anderen – gestritten haben – zum Beispiel 1979/80 die Gegenbewegung zu „Pro Vorarlberg“, nämlich die „Vorarlberger pro Österreich“.
Lieber Meinrad, es war eine sehr erfüllte Zeit, die wir gemeinsam mit unseren Familien über inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert erlebt haben. Und auch wenn wir – vor allem ich – inzwischen doch schon etwas fortgeschrittenen Alters sind, so wünsche ich mir doch, dass die Zeit noch etwas währen möge. Ganz nach dem Motto, das du meiner Tochter Susanne vor fast fünf Jahrzehnten in ihr Poesie-Album geschrieben hast:
„Genieße das Leben beständig, denn du bist länger tot als lebendig.“
Lieber Meinrad, meinen herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preises und -Ringes. Du hast ihn Dir verdient!