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10.11.2014 - Meinrad Pichler, Mitbegründer der Johann-August-Malin-Gesellschaft, erhielt den Wissenschaftspreis des Landes Vorarlberg 2014

Am 10. November 2014 erhielt Meinrad Pichler als erster Historiker den Wissenschaftspreis des Landes Vorarlberg überreicht. Aus diesem Anlass führte Markus Barnay mit dem Preisträger ein Gespräch. Ein Beitrag in der Zeitschrift "KULTUR".

 

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"Wir wollten die Geschichte von unten her beschreiben" – Meinrad Pichler erhält den Vorarlberger Wissenschaftspreis 2014 

 

Im 10. November erhält der wahrscheinlich bekannteste Vertreter jener Generation, die man einst „junge, kritische Historiker“ nannte, den diesjährigen Wissenschaftspreis des Landes: Meinrad Pichler. Der 1947 in Hörbranz geborene Bregenzer studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Von 1972 bis 1994 unterrichtete er als Lehrer am BRG Dornbirn Schoren, von 1994 bis zu seiner Pensionierung 2010 war er Direktor des BG Bregenz-Gallusstraße. Seit 1978 hat er neben seiner Unterrichtstätigkeit am Gymnasium über 100 Publikationen zu landesgeschichtlichen und literarischen Themen mit den Schwerpunkten Emigration aus Vorarlberg, NS-Zeit, Kultur- und Alpgeschichte veröffentlicht. 1982 war er Mitbegründer der Johann-August-Malin-Gesellschaft zur Erforschung der neueren Geschichte Vorarlbergs, für die er seither verschiedene Publikationen betreut, Gedenkveranstaltungen durchgeführt und unzählige Vorträge gehalten hat. Markus Barnay, der Meinrad Pichler schon seit seiner Gymnasialzeit kennt, als ihn der junge Lehrer manchmal im Auto mit nach Dornbirn nahm, hat sich mit dem Historiker über seine Arbeit und über die Bedeutung des Preises unterhalten. 

 

Öffentliche Ehrungen haben oft etwas Zwiespältiges – sei es, weil man sich nicht unbedingt mit dem Auslober der Ehrung identifizieren will, sei es, weil sie einen it dem fortgeschrittenen Alter konfrontieren. Im Fall des Vorarlberger Wissenschaftspreises 2014 hast Du aber wohl keine ambivalenten Gefühle? 

Nein, weil ich glaube, dass damit meine Arbeit der letzten 30 Jahre anerkannt wird, und weil damit auch dokumentiert wird, dass meine Arbeit und die Arbeit der Kollegen aus der Johann-August-Malin-Gesellschaft1 in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und dass damit auch, speziell was die Geschichtsschreibung  betrifft, die kritische Sichtweise von mir und meinen Kollegen als wichtiger Beitrag zur Geschichtsschreibung des Landes akzeptiert wird.

 

Wissenschaftliche Arbeit ohne Apparat kann auch Freiheit bedeuten


Bisher wurden mit diesem Preis hauptberufliche Wissenschafter ausgezeichnet, jetzt zum ersten Mal einer, der seine wissenschaftliche Arbeit vor allem in der Freizeit ausübte („und vor allem ohne wissenschaftliche Einrichtung im Hintergrund“, wie es in der Jury-Begründung für die Preisverleihung heißt) – hat das für Dich besondere Bedeutung? 

 

Wenn man Geschichte oder Wissenschaft in einem nicht-institutionellen Bereich betreibt und das sozusagen auf eigene Kappe macht, hat man die Möglichkeit, die Themen aufzugreifen, die man für wichtig hält und die am ehesten der eigenen Interessenslage entsprechen. Auf der anderen Seite hat man natürlich keinen entsprechenden Apparat hinter sich – das kann einschränkend sein, das kann aber auch Freiheit bedeuten. Ich habe es immer so empfunden, dass ich die Möglichkeit und die Freiheit habe, mit den beiden Institutionen zusammenzuarbeiten, die es in Vorarlberg gibt, die vor allem in den letzten Jahren sehr unterstützend waren – das Vorarlberger Landesarchiv und die Landesbibliothek – und mit denen sich gut arbeiten lässt. Dass jemand jetzt einen Wissenschaftspreis erhält, der nicht akademisch verankert ist, hängt wohl auch damit zusammen, dass ich wahrscheinlich zu einigen Bereichen der Vorarlberger Landesgeschichte, zu denen die offizielle Geschichtsschreibung noch wenig ausgesagt hat, einige grundsätzliche Arbeiten geschrieben habe, die offensichtlich auch die Vorgaben einer historisch-wissenschaftlichen Forschung erfüllen. 

Ihr habt ja am Beginn Eurer Tätigkeit viel Kritik geerntet – aber auch einiges Misstrauen von hauptberuflichen Akademikern, die Euch als Historiker nicht ganz ernst nahmen. Das hat sich inzwischen wohl geändert? 

Es war ja die Kritik weniger eine Kritik an der Seriosität unserer Arbeit, weil die kaum widerlegt werden konnte, sondern es war mehr eine Kritik an unserem historischen Ansatz – dass wir das ganze Land und das Geschichtsbild umdrehen wollten, dass wir Nazi-Jäger seien und alte Wunden aufreißen würden etc ... Solche Kritik gab es oft, aber niemals Kritik an den wissenschaftlichen Methoden, weil unsere Arbeit immer einer wissenschaftlichen Überprüfung standgehalten hat.

 

Wir saßen einen Sommer lang im Keller des Landesgerichts


Musstet Ihr da besonders sorgfältig arbeiten, um in dieser Hinsicht keine Angriffsfläche für Kritiker zu bieten? 

Es wurde sehr sorgfältig gearbeitet, weil wir ja wussten, dass Dinge, die nicht wirklich überprüfbar sind, auch nicht halten werden – und tatsächlich Angriffspunkte sein könnten, mit deren Hilfe die gesamte Arbeit als ideologisch und als nicht wissenschaftlich fundiert eingestuft werden könnte. Meine Kollegen und ich haben beispielsweise für unsere erste große Arbeit zum Thema Widerstand einen ganzen Sommer im modrigen Keller des Landesgerichts verbracht, um gar alle Strafakten aus der Zeit von 1934-1945 durchzusehen. Das war eine immense Arbeit, aber jeder Fall, den wir dann dargestellt haben, beruhte auf diesen Akten, die vor uns noch nie jemand studiert hatte – und das war die Grundlage, auf der heute noch das gesamte Lexikon des Widerstandes und der Verfolgung beruht. 

Könnte man dieses Buch - „Von Herren und Menschen“ - als Schlüsselwerk für Eure Arbeit in der Johann-August-Malin-Gesellschaft bezeichnen? 

Es war sicher ein ganz wesentliches Werk. Wir sehen ja, wie oft heute noch Anfragen dazu kommen, wir sehen, dass alle weiteren Arbeiten darauf fußen – und es war ein Schlüsselwerk auch dafür, dass wir zeigen konnten, dass historische Forschung auch in einer großen, ausführlichen Teamarbeit geschehen kann. Es war uns damals ein ganz wesentliches Anliegen, dass wir zu viert eine Arbeit geleistet haben, die ein einzelner nicht hätte leisten können, und dass das Buch, das daraus entstanden ist, ein sehr einheitliches war, obwohl die einzelnen Kapitel jeweils von unterschiedlichen Autoren geschrieben waren.

 

Wie haben sich die Menschen gegen den Nazi-Terror gewehrt?


Diejenigen, die Euch „ideologische“ Geschichtsschreibung vorgeworfen haben, haben sich ja vor allem an Eurer Haltung gestört – weil die eben anders war als diejenige der bisherigen Historiker. Wie würdest Du diese Haltung denn beschreiben? 

Die Haltung war damals ganz eindeutig die, dass wir Geschichte nicht von oben her betreiben wollten, sondern von unten her: Es war die große Bewegung der damaligen Geschichtswerkstätten, die es in ganz Europa gegeben hat, die das ganze Schema des Herangehens an die Geschichte nicht mehr nur als Herrschaftsgeschichte oder als politische Geschichte gesehen hat, sondern als Geschichte, wie die Menschen Herrschaft erlebt haben, wie die Menschen versucht haben, Herrschaft zu bewältigen oder sich auch gegen ungerechte Herrschaft zu wehren. Es war klar, dass dabei beispielsweise die Arbeiterschaft eine große Rolle spielt, und dass es uns beim Nationalsozialismus nicht so sehr darum gegangen ist, wie die Strukturen des nationalsozialistischen Staates funktioniert haben, sondern wie sich die Menschen gegen die Zumutungen und gegen den Terror dieser nationalsozialistischen Herrschaft zur Wehr gesetzt haben. 

 

Ich konnte den Schülern keine Antwort geben 


Kommen wir mal kurz zum Beginn Deiner wissenschaftlichen Arbeit: Du warst in Deiner beruflichen Karriere ja tatsächlich einmal akademisch tätig – als Literaturwissenschafter. Hätte da auch eine reine Forscher-Karriere daraus werden können? 

Ich habe mich unmittelbar nach meinem Studium, nachdem ich in Dornbirn als junger Lehrer begonnen hatte zu unterrichten, tatsächlich sehr für Literaturwissenschaft interessiert, obwohl ich ja in Geschichte eine Hausarbeit geschrieben hatte – aber das war damals noch mittelalterliche Geschichte. Ich habe jedenfalls ein Jahr lang an der Universität Klagenfurt als Literaturwissenschafter gearbeitet, aber nach diesem Jahr in Klagenfurt hab’ ich gesehen, dass ich Lehrer bleiben wollte, und dass Literaturwissenschaft außerhalb der Universität eigentlich nur schwer möglich war. Andererseits habe ich im Unterricht immer mehr gespürt, dass ich den Schülern auf regionale zeitgeschichtliche Fragen keine Antworten geben konnte. Mein unmittelbarer Anstoß, mich mit regionaler Zeitgeschichte zu beschäftigen, kommt aus dieser Unterrichtspraxis heraus: Wir haben den Nationalsozialismus besprochen oder die Dollfußzeit in Österreich, und wenn die Schüler gefragt haben: „Wie war es in Vorarlberg während der Ersten Republik?“, konnte ich damals nur sehr grobe Antworten geben, und um verfeinerte Antworten zu geben, musste ich mich selbst dort hineinbegeben. 

Welche Rolle spielten dabei Deine Familiengeschichte und die Deiner Frau Regina, deren Vorfahren ja von den Nazis verfolgt wurden? 

Es haben beide Familiengeschichten natürlich eine wesentliche Rolle gespielt. Meine Eltern waren sehr engagierte Menschen, und mein Vater hat sich sehr für Geschichte interessiert, und es war zu Hause die Geschichte unseres Dorfes immer wieder Thema. Natürlich habe ich auch mit meinem Schwiegervater viel über Geschichte diskutiert. 

 

Nachträge zur Vorarlberger Landesgeschichte


Eines Deiner ersten Werke waren die von Dir herausgegebenen "Nachträge zur Vorarlberger Landesgeschichte". Da ging es unter anderem um eine Korrektur der Geschichtsschreibung über die NS-Zeit – und das lange vor der Waldheim-Affäre und dem verstärkten Interesse an der NS-Geschichte. Wie kam es denn zu dieser Arbeit? 

Es gab zu dieser Zeit schon eine ganze Reihe Ansätze, die Geschichte etwas anders zu betrachten, als es dem herrschenden Geschichtsbild entsprach. Zum Beispiel hat der Hohenemser Historiker Norbert Peter erstmals einen Aufsatz über den christlichsozialen Antisemitismus geschrieben, der bis dahin in der Landesgeschichtsschreibung nicht präsent war. Es hat die Forschungen von Leo Haffner zum 19. Jahrhundert gegeben, der vorgestellt hat, wie sich das konservative Lager im 19. Jahrhundert formiert hat und welche Kraft dieses Lager bis ins 20. Jahrhundert entwickelt hatte – auch das ist in dieser Form bis dahin nicht besprochen worden. Und auch die Arbeit von Harald Walser über die illegale NSDAP in Vorarlberg hat ein Thema behandelt, das vorher nie besprochen worden war. Gemeinsam mit Kurt Greußing habe ich versucht, diese Autoren, die wir zum Teil überhaupt nicht gekannt haben, an einen Tisch zu bringen, um diese neueren Forschungen in kompakter Form zusammenzustellen. Und das hat tatsächlich funktioniert. Außerdem hatten wir das Glück, dass Walter Fink damals gerade einen eigenen Verlag gründete, und dass wir die Möglichkeit hatten, diese Publikationen in einem regionalen Verlag unterzubringen. Das Verdienst des damaligen fink’s verlag ist für unsere Arbeit nicht hoch genug einzuschätzen. Wir selbst hätten weder die Geldmittel gehabt, um in einem überregionalen Verlag zu publizieren, noch wussten wir, mit welchen Auflagenzahlen man da operieren kann. Wir haben erst später festgestellt, dass unsere Bücher höhere Auflagen hatten als die vieler anderer Historiker. Wir waren auch noch nicht im Fördersystem der Landesregierung etabliert – im Gegenteil: Wir hatten Schwierigkeiten, überhaupt Förderungen zu erhalten. Dabei sind regionale Publikationen ohne Förderungen eigentlich kaum machbar. 

 

Amerika war für mich ein Land der Möglichkeiten 


Ein zweiter großer Schwerpunkt Deiner Arbeit war die Migrationsgeschichte, vor allem die Auswanderung in die USA. Die Beschäftigung damit hat dazu geführt, dass Du noch einmal – mit einem Forschungsstipendium - ein Jahr lang ausschließlich wissenschaftlich tätig warst. Wie bist Du denn auf dieses Thema gestoßen? 

Nachdem ich für mich das „Notwendige" einigermaßen aufgearbeitet hatte, waren die Auswanderer eine Herzensangelegenheit, und zwar deshalb, weil für mich seit meiner frühen Jugend Amerika immer eine Projektion war – des freien, offenen Lebens. Amerika war für mich nicht ein Traumland, um dort zu leben, sondern ein Land der Möglichkeiten. Ich habe schon als Jugendlicher versucht, nach Amerika zu kommen, obwohl ich von zu Hause aus keine Möglichkeit hatte, die Geldmittel dafür aufzutreiben, aber ich war dann als Erzieher einen ganzen Sommer lang in Amerika – und diese Verbindung zwischen Vorarlberg und Amerika hat mich natürlich sehr interessiert. Und je tiefer ich durch einzelne Geschichten in das Thema hineingekommen bin, desto mehr wurde mir klar, dass es da auch um ein Thema geht, das bis dahin von der Vorarlberger Landesgeschichtsschreibung nicht behandelt worden war. Heute weiß man, dass zwischen 1850 und 1938 an die Zehntausend Personen aus Vorarlberg nach Amerika ausgewandert sind. Es ist also ein ganzer Teil der Vorarlberger Bevölkerung, der nicht Industriearbeiter werden und unter Fabriksbedingungen leben wollte, nach Amerika ausgewandert, und dafür hat die Vorarlberger Industrie aus einem noch ärmeren Gebiet Arbeiter nachgeholt. 

Diese Arbeit war ja mit so viel Arbeit verbunden, dass sie wohl neben dem Lehrberuf nicht möglich gewesen wäre? 

Na ja, am Anfang habe ich sehr wohl vieles in der Freizeit gemacht, aber natürlich habe ich in diesem einen Forschungsjahr sehr intensiv gearbeitet, vor allem während der Monate, die ich in Amerika verbracht habe. Ich habe zum Beispiel drei Wochen lang im Nationalarchiv in Washington geforscht, und das war für mich eine große Sache. Ich habe jeden Tag die vollen zwölf Stunden Öffnungszeit ausgenutzt. Damals habe ich unglaublich viele Rollen mit Mikrofilmen durch die Maschine gedreht, weil dort die Dokumente drauf waren. Heute wäre das alles im Internet abrufbar, und ich könnte dieselbe Arbeit von zu Hause aus erledigen. 

 

An den Knochen der historischen Struktur Fleisch anwachsen lassen 


Und schließlich gibt es noch einen Schwerpunkt Deiner Arbeit: die Beschäftigung mit ungewöhnlichen Biografien, mit Außenseitern, mit Unbekannten – Du hast ein erfolgreiches Buch über so genannte „Quergänger“geschrieben. Was hat Dich denn an diesen Biografien gereizt? 

Für mich war der biografische Ansatz in der Geschichte immer spannender als die Strukturgeschichte. Ich glaube, dass Geschichte für die Nachgeborenen an einzelnen Schicksalen von Menschen - wie sie ein Leben gestaltet haben und wie die äußeren Umstände in ihre Lebensgestaltung eingegriffen haben erlebbar wird, und dass diese Kombination zwischen Autonomie der Person und dem Druck der Verhältnisse auch eine unglaublich spannende Dynamik ergibt in der Beschreibung und in der Erzählung. Und bei diesem biografischen Ansatz ist mir eine zweite Vorliebe meiner Arbeit zustatten gekommen, nämlich das Erzählen. Mir ist es ganz wichtig, Ereignisse und Schicksale aus der Geschichte zu erzählen, um damit für meine Leser und für die Nachgeborenen tatsächlich an den Knochen der historischen Struktur auch etwas Fleisch anwachsen zu lassen, um Geschichte erlebbar und einsehbar zu machen – so sehr ich weiß, dass Strukturgeschichte und Herrschaftsgeschichte der Bogen ist, der über dem allen steht. 

 

Ein guter Lehrer muss vereinfachen, ohne zu simplifizieren 


Ein Merkmal Deiner Arbeit ist ja tatsächlich, dass Deine Publikationen leicht lesbar, verständlich und pointiert sind – also für ein breites Publikum geeignet. Geht es also darum, möglichst viele Menschen zu erreichen? 

Das natürlich auch, aber meine Art, zu schreiben, hat auch damit zu tun, dass ich ein Leben lang Lehrer war. Und ein guter Lehrer muss alle historischen Zusammenhänge – oder überhaupt wissenschaftliche Erkenntnisse – einigermaßen auf Verständlichkeit des jeweiligen Publikums herunterbrechen. Er muss vereinfachen, ohne zu simplifizieren. Er muss dem Publikum eine Vorstellung davon vermitteln, wie komplex das Leben ist, ohne sich in der Komplexität zu verlieren. Das Leben als Lehrer hat mich dazu erzogen, so zu erzählen, dass das, was ich erzähle, nach Möglichkeit einsichtig und verständlich ist. 

Diese Aufgabe, nämlich eine komplexe Geschichte für Jugendliche verständlich zu machen, stand ja auch am Beginn Deiner Arbeit an Deinem letzten großen Buch, der Geschichte des Nationalsozialismus in Vorarlberg. Wie schwierig war das denn, ein ganzes Buch für ein junges Zielpublikum zu schreiben? 

Es ist mir wahrscheinlich leichter gefallen als einem akademischen Historiker, weil ich ja weiß, welche Komplexität Schülerinnen und Schüler verstehen und welche Voraussetzungen sie mitbringen, um das zu verstehen. Das war eine große Herausforderung. Aber auch in diesem Buch hängt mein Herzblut an den Biografien. Das Buch enthält 43 Kurzbiografien von Menschen, die den Nationalsozialismus erlebt, erduldet oder mitgestaltet hatten oder dagegen Widerstand leisteten. 

 

Die Jugend war geprägt von den Erfahrungen der NS-Zeit 


Nun gehört Dein „Nationalsozialismus in Vorarlberg“ bereits jetzt mit mehreren Tausend verkauften Exemplaren zu den erfolgreichsten regionalgeschichtlichen Werken, die jemals hier erschienen sind. Hat es Dich erstaunt, dass dieses Thema noch immer auf so großes Interesse stößt? 

Interessant daran war, dass die zahlreichen Rückmeldungen, die ich erhalten habe, vor allem aus der Generation der 50 bis 70-Jährigen kamen, nicht so sehr vom ganz jungen Zielpublikum oder von denen, die den Nationalsozialismus noch erlebt haben. Es war also die Generation, die nach 1945 aufgewachsen ist, als dieses Thema weitestgehend tabuisiert wurde, und die jetzt darüber nachdenkt, wie ihre Jugend eigentlich geprägt war von den Erinnerungen und Erzählungen aus der NS-Zeit. 

Du bist zwar seit 2010 offiziell im Ruhestand, aber in Wirklichkeit täglich am Arbeiten – und das an einer weiteren großen Herausforderung: Du schreibst eine Geschichte Vorarlbergs im 19. und 20. Jahrhundert. Werden wir in Zukunft statt zum „Bilgeri“ endlich zum „Pichler“ greifen können? 

Zunächst einmal: Ich habe diese Aufgabe gerne übernommen, weil es nicht nur eine Zusammenfassung all dessen ist, was ich selbst geschrieben habe, sondern auch dessen, was viele junge Menschen in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen, darunter auch viele professionelle Historiker, in den letzten Jahrzehnten erforscht und publiziert haben. Der Herausgeber ist der Direktor des Landesarchivs, Alois Niederstätter, und das Ziel ist eine Landesgeschichte, die sich im Umfang zwischen Burmeister und Bilgeri bewegt. Burmeister ist eine einbändige Einführung in die Geschichte Vorarlbergs, während Bilgeris fünfbändiges Großwerk heute kaum mehr gelesen wird und auch von seinem methodischen und wissenschaftlichen Ansatz her heutigen Vorstellungen nicht mehr genügt. Niederstätter möchte nun in drei Bänden die Landesgeschichte auf der Basis dessen darstellen, was in den letzten 50 Jahren an neuen Forschungen veröffentlicht wurde. Die ersten beiden Bände schreibt er selbst, und mich hat er eingeladen, den dritten Teil zu verfassen. Der Band umfasst den Zeitraum von 1861, als Vorarlberg einen eigenen Landtag erhielt und damit als Land Vorarlberg wahrgenommen wurde, bis 2015. 

 

Die neue Generation ist dabei, sich zu orientieren 


Was bedeutet dieser Auftrag für Dich? 

Auf jeden Fall einmal viel Arbeit, unter anderem deshalb, weil ich sehr viel neue Literatur lese und dabei ständig auf Themenfelder stoße, die Stoff für weitere Arbeiten wären, aber auch auf Biografien, die ich gerne weiterverfolgen würde. 

Das wäre ja vielleicht auch Stoff für den wissenschaftlichen Nachwuchs? Vor 30 Jahren wart Ihr die „jungen Historiker“, danach wurde Euch mitunter vorgeworfen, dass Ihr die Szene dominiert. Gibt es inzwischen eine neue Historiker-Generation? 

Es gibt sie schon – beispielsweise beschäftigen etliche Gemeinden und Städte in ihren Archiven junge Historikerinnen und Historiker. Mein Eindruck ist allerdings, dass diese neue Generation erst dabei ist, sich zu orientieren, ich bin aber überzeugt, dass sie bald einmal publizistisch sichtbar werden wird. 

 

Erschienen in KULTUR – Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Nr. 9/2014, Oktober 2014, S. 4-8 . Markus Barnay ist Redakteur des ORF Landesstudios Vorarlberg 

 

 

 

 

 

 

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