Sie sind hier: Startseite / Texte / Nationalsozialismus / Johannes Spies (2024): Selma Mitteldorf – die vergessene „Oberfürsorgerin“ von Vorarlberg

Johannes Spies (2024): Selma Mitteldorf – die vergessene „Oberfürsorgerin“ von Vorarlberg

Erschienen in: Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 39 (2024), Nr. 4, S. 46–48.

Rekonstruktion einer Lebensgeschichte

Wer den städtischen Friedhof im Dornbirner Bezirk Markt besucht, wird Zeuge eines beeindruckenden Ensembles von Grabstätten, welches die Erinnerung an Menschen Jahrzehnte über deren Tod hinaus festhält. Es ist ein in Grabsteine gemeißeltes kulturelles Gedächtnis. Zugleich handelt es sich jedoch auch um einen Ort des Vergessens – wenn Gräber nicht von Angehörigen oder einer Institution betreut und weitergeführt werden.

Nur wenige Schritte vom Eingangstor auf Seite der Bergmannstraße befindet sich die letzte Ruhestätte von Selma Mitteldorf. Es handelt sich dabei um eine Frau, die über zwanzig Jahre in der Dornbirner Säuglingsfürsorge und der Tuberkulosefürsorge der Stadt tätig war. Ihre Arbeit in den zahlreichen Säuglingsfürsorgestellen der Region brachte ihr den Titel „Oberfürsorgerin von Vorarlberg“ ein. Spuren hat sie nur wenige hinterlassen. Nicht nur ist heute ihre Grabstätte nicht mehr sichtbar – es befinden sich an dem Ort neuere Familiengräber – auch aus dem kollektiven Gedächtnis ist die Erinnerung an eine Frau, die sich über zwei Jahrzehnte um die Gesundheit von Säuglingen, Kleinkindern und Müttern in Vorarlberg kümmerte, verschwunden.

Von Hannover über Berlin nach Troppau und Wien ...

Hannover, 25. Jänner 1887 – Selma Emma Mitteldorf erblickte als einziges Kind des Weinhändlers Joseph Mitteldorf und dessen Frau Minna Rebecka, geborene Polack, das Licht der Welt. Vater Joseph war Katholik, die Mutter stammte aus der jüdischen Gemeinde von Hamburg. Das Paar hatte erst ein Jahr zuvor geheiratet. Die Familie wohnte in der Celler Straße 147 und Tochter Selma wurde evangelisch (A.B.) getauft. In den folgenden Jahren zog die junge Familie mehrfach innerhalb des Stadtgebiets von Hannover um. Die gemeinsame Zeit als Familie währte jedoch nur kurz: Im November 1896 wurde die Ehe durch ein Urteil des Landgerichts Hannover aufgelöst. Zwei Jahre später verstarb Joseph Mitteldorf im Alter von nur vierzig Jahren im hessischen Erbach.

Der Werdegang von Selma Mitteldorf zu einer bedeutenden Akteurin im Gesundheitswesen des Landes Vorarlberg lässt sich nur in Bruchstücken rekonstruieren und ist durch die beschränkte Quellenlage begrenzt: Sie arbeitete als staatlich geprüfte Krankenpflegerin von 1907 bis 1913 auf chirurgischen, internen, Infektions- und Kinderabteilungen des Krankenhauses Moabit in Berlin. Während dieser Tätigkeit legte sie im August 1909 in Berlin das Staatsexamen ab. Auf ein Jahr am Fritz König Stift im Bad Harzburg folgte in den Jahren 1914 bis 1916 eine Anstellung in der Soldatenpflege in Troppau (Opava). Daran anschließend arbeitete sie bis 1918 als Stationsschwester an der Wiener „Reichsanstalt“. Dabei handelte es sich um die auf Vorschlag des Mediziners Leopold Moll gegründete Reichsanstalt für Mütter- und Säuglingsfürsorge in Wien-Döbling. Moll war es auch, der die Mütterberatung und Säuglingsfürsorge in Wien initiierte und dessen Wirken bis nach Dornbirn ausstrahlen sollte.

... und schließlich nach Dornbirn, in die erste Säuglingsfürsorge des Landes Vorarlberg

In ihrer Zeit in Wien war Selma Mitteldorf zusammen mit einer Berufskollegin aktiv, die sie in weiterer Folge nach Dornbirn begleiten und zu einer wesentlichen Bezugsperson werden sollte – Olga Semaka. Für Olga Elisabeth Rosa von Semaka, geboren 1885 in Bruneck, war Vorarlberg keine unbekannte Region, war sie doch die Tochter des k. k. Notars Johann Ritter von Semaka, der von 1889–1893 in Feldkirch berufstätig war und der 1894 dort verstarb.

In Vorarlberg lag die Säuglingssterblichkeit in den Jahren des Ersten Weltkriegs bei nahezu 20 Prozent. Vor diesem Hintergrund lag es auf der Hand, dass Maßnahmen erforderlich waren, um diese Situation zu verbessern. Auf Initiative von Margaretha Hladik–Buchmüller, der Tochter des in Wien tätigen Textilindustriellen Theodor Hämmerle, wurde in Dornbirn 1918 die erste Säuglingsfürsorge des Landes ins Leben gerufen. Im Vorarlberger Tagblatt vom 1. Juni 1919 wird über die Gründung berichtet: „Herr Primarius Dr. Leopold Moll, der Chefarzt der Wiener ‚Reichsanstalt für Mutter und Säuglingsschutz‘ [...] förderte die Gründung der Dornbirner Fürsorgestelle durch seinen bewährten Rat und überwies uns eine seiner besten Fürsorgeschwestern, Fräulein Olga von Semaka, die nach Ablegung der Schlußprüfung an der Reichsanstalt im Herbst 1918 nach Dornbirn kam.“ Als ärztlicher Leiter wurde der Dornbirner Stadtarzt Dr. Adam Winder, der selbst medizinische Kurse an der „Reichsanstalt“ absolviert hatte, bestellt. Die Eröffnung fand am 3. November 1918 statt. Zeitgleich ereignete sich in Dornbirn eine weitere Innovation: Um der um sich greifenden Tuberkulose zu begegnen, wurde im November 1918 die erste Fürsorgestelle Vorarlbergs eröffnet, zu deren ärztlicher Leitung der oben erwähnte Dr. Adam Winder bestellt wurde. Als Fürsorgeschwester wurde „Fräulein Selma Mitteldorf“ angestellt.

Hatten Olga Semaka und Selma Mitteldorf bereits in Wien an derselben Adresse gewohnt, so sollte dies auch in Dornbirn der Fall sein, wie ein Vergleich der Meldedaten ab 1918 zeigt. Und auch in beruflicher Hinsicht vertiefte sich deren Verhältnis weiter. Die Dornbirner Tuberkulosefürsorgestelle und die auch als „Mütterberatungsstelle“ bezeichnete Säuglingsfürsorge arbeiteten Hand in Hand. Im Zentrum standen dabei Selma Mitteldorf und Olga Semaka. „[B]eide in staatlichen Anstalten ausgebildet und praktisch erfahren erfüllen ihre schweren Berufspflichten mit großem Geschick, mit Liebe und Aufopferung“, wie das Vorarlberger Tagblatt am 8. April 1922 berichtete. Das Aufgabengebiet kann mit dem Abhalten von Sprechstunden, Hausbesuchen, Schwangeren-, Gesundheits- und Ernährungsberatung, körperlichen Untersuchungen wie auch dem Stillen der Kinder umrissen werden. Es müssen tausende Kinder gewesen sein, die von dieser Arbeit profitierten. Nach einer Schätzung der Vorarlberger Landesregierung aus dem Jahr 1928 wurden in jenen Orten Vorarlbergs, in denen eine Säuglingsfürsorge bestand, bis zu 75 Prozent der Säuglinge und Kleinkinder betreut.

Beruflicher Erfolg und persönliche Tragödie

Der Arbeitseinsatz zahlte sich für Selma Mitteldorf aus. Das Bundesministerium für soziale Fürsorge ernannte sie zur Oberschwester und Inspektorin der Säuglingsfürsorgestellen in Bregenz, Feldkirch und Bludenz. Dieser Aufgabe kam sie in den folgenden Jahren umfassend nach. Aus Quellen des Vorarlberger Landesarchivs ist ersichtlich, dass „Inspektionsreisen“ sie wiederholt zu den Fürsorgestellen in Hohenems, Lustenau, Rankweil, Bludenz, Höchst, Kennelbach, Frastanz, Götzis, Bregenz und Feldkirch führten. Es ist zudem bemerkenswert, dass Selma Mitteldorf bei Ausfall einer Fürsorgeschwester das mühselige Führen der statistischen Monatsberichte in der entsprechenden Fürsorgestelle übernahm, wie dies für Lustenau nachgewiesen werden kann.

Doch der berufliche Erfolg kann nicht über die persönliche Tragödie hinwegtäuschen, die Selma Mitteldorf erleiden musste. 1929 verstirbt Olga Semaka, ihre – wie in der entsprechenden Todesanzeige ersichtlich – „liebe Freundin“. Und mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus entwickelte sich eine für Selma Mitteldorf bedrohliche Zukunftsperspektive, galt sie den Nationalsozialisten aufgrund ihrer jüdischen Mutter doch als so genannte „Halbjüdin“. Es ist anzunehmen, dass auch das Erstarken des Nationalsozialismus in Dornbirn, im unmittelbaren Lebens- und Berufsumfeld, dazu geführt hat, dass sich schließlich eine unerträgliche Lebenssituation entwickelte. Die Eindrücke des so genannten „Anschlusses“ Österreichs am 12. März 1938 könnten dies noch zusätzlich verstärkt haben. Eine Situation, aus der ihr Suizid durch Erhängen in der Nacht vom 21. auf den 22. März in ihrer Wohnung in Dornbirn als Ausweg erschien. In Berichten des Gendarmeriepostens Dornbirn wird ihr Freitod einerseits mit der „schwermütigen Veranlagung der Selma Mitteldorf“ und andererseits im Sinne der antisemitischen Staatsideologie gedeutet: Sie „war eine Jüdin und fürchtete im neuen Staat als Jüdin erkannt zu werden“.

Wie erinnern?

Die Öffentlichkeit wurde durch das Vorarlberger Tagblatt am 23. März 1938 informiert: „Mittwoch verschied plötzlich Frl. Selma Mitteldorf, Oberfürsorgerin des Landes Vorarlberg und Fürsorgeschwester der Säuglingsfürsorgestelle in Dornbirn. Die Verstorbene, die zwanzig Jahre in Dornbirn ihren Beruf ausübte, erfreute sich in der Bevölkerung allgemeiner Beliebtheit.“ Der Verein für Säuglingsfürsorge in Dornbirn ergänzte in einer Danksagung im Vorarlberger Tagblatt am 30. März 1938: „Wir werden der langjährigen, verdienstvollen Arbeit der Fürsorgeschwester am Dornbirner Volke ein treues Andenken bewahren.“

Diese Erinnerung ist jedoch niemals erfolgt. Die Gesellschaft, für welche sich Selma Mitteldorf durch ihre Arbeit einsetzte, schützte sie nicht und sie erinnerte sie auch nicht. Wir stehen somit heute vor der Frage, wie ein respektvoller und verantwortungsvoller Umgang mit der Lebensgeschichte von Selma Mitteldorf aussehen könnte. Wie wollen wir mit der Erinnerung an eine Frau umgehen, die mit ihrer
Arbeit in Vorarlberg nachhaltig wirkte, deren Lebensspuren jedoch nicht mehr materiell feststellbar sind?

Von Selma Mitteldorf sind keine Fotografien erhalten. Das Vorarlberger Tagblatt vom 23.3.1938 informierte die Öffentlichkeit über ihren Tod. (Quelle: ANNO – ÖNB)

Von Selma Mitteldorf sind keine Fotografien erhalten. Das Vorarlberger Tagblatt vom 23.3.1938 informierte die Öffentlichkeit über ihren Tod. (Quelle: ANNO – ÖNB)