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Werner Bundschuh (2012): Hitlers Sklaven in Vorarlberg. Zwangsarbeit in Lustenau

Im Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau befinden sich Listen mit Hunderten Namen von "Ostarbeitern" und "Ostarbeiterinnen", die zwischen 1939 und 1945 in kriegswichtigen Betrieben oder in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Einige von ihnen wurden in der Ukraine von Margarethe Ruff und Werner Bundschuh aufgesucht.

 

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Werner Bundschuh

Hitlers Sklaven in Vorarlberg 

Zwangsarbeit in Lustenau. „Ich musste in alle Papiere hineinschreiben, dass ich in Österreich war.“

  

Im gesamten Deutschen Reich wurden während des Zweiten Weltkrieges schätzungsweise mehr als zwölf Millionen Menschen zwangsweise zur Arbeit eingesetzt. Zwangsarbeit wurde sowohl von Kriegsgefangenen, von zivilen ausländischen Arbeitskräften aus aller Herren Länder, von KZ-Häftlingen, von Roma und Sinti, von Juden und Jüdinnen und anderen diskriminierten und verfolgten Gruppen geleistet, von Kindern und Jugendlichen, von Männern ebenso wie von Frauen.[1]

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter/innen waren sehr verschieden, was ihren Status oder ihren Einsatzbereich betrifft – ebenso sind es ihre Erinnerungen an diesen Lebensabschnitt. Die zivilen ausländischen Zwangsarbeiter/innen kamen aus Polen, aus Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Kroatien, Serbien oder Griechenland. Die sogenannten "Westarbeiter/innen" standen in der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialisten an oberster Stelle. Unten standen die Polen/Polinnen, Russen/Russinnen, Ukrainer/innen – die "Ostarbeiter/innen". Ganz unten die Roma und Sinti, die Juden und Jüdinnen.[2] Der nationalsozialistische "Ausländereinsatz" zwischen 1939 und 1945 stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar. Vergleichbar allenfalls noch mit der Versklavungspolitik der Japaner auf dem chinesischen Festland während der japanischen Expansionsphase und Eroberungspolitik in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts.[3]

Der "Ausländereinsatz" war von der nationalsozialistischen Führung vor Kriegsbeginn weder geplant noch vorbereitet worden. Er entwickelte sich im Laufe des Krieges. Der im Jahre 2004 vorgelegte Band 26/1 der Österreichischen Historikerkommission –"Zwangsarbeiter/innen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939 – 1945" – gibt Auskunft über die komplexe Entwicklung des "Arbeitseinsatzes" und die einzelnen Eskalierungsphasen – vor allem nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Dieser Forschungsbericht enthält auch die für Österreich ermittelten Zahlen:[4]

Die Tabelle über die "ausländischen und protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten einschließlich Ostarbeiter im Großdeutschen Reich nach der Staatsangehörigkeit in den Gauarbeitsamtsbezirken am 30.9.1944" weist für den Gau Tirol-Vorarlberg folgende Zahlen auf:

"Belgien 478, Bulgarien 491, Dänemark mit Island 15, Frankreich 3192, Griechenland 62, Italien 6754, Ehem. Jugoslawien 177, Kroatien 769, Niederlande 182, Norwegen 7, Rumänien 20, Schweden 14, Schweiz 337, Slowakei 104, Spanien 16, Türkei 3, Ungarn 74, USA 1, Ostarbeiter 11.222, ehm. Estland 19, Ehem. Lettland 17, ehem. Litauen 76, Generalgouvernement und Bialystok 5054, Schutzangehörige Großdt. Reich 1088, sonstige fremde Staatsangehörigkeit 746, ungeklärte Staatsangehörigkeit 56, Staatlose 203, Protektoriatsangehörige 695, insgesamt 31.972."[5]

Die entsprechenden Zahlen für das Bundesland Vorarlberg und die tatsächlichen "Sklavenarbeiter/innen" herauszufiltern, ist auf Grund der Quellenlage sehr schwierig.[6] Bei Kriegsende waren rund ein Drittel aller Arbeiter und Arbeiterinnen sogenannte "Fremdarbeiter/innen" und Kriegsgefangene. Als Größenordnung müssen wir eine Zahl um die 15.000 annehmen, davon die Hälfte auf den Großbaustellen der Illwerke AG im Montafon.

Die Zwangsarbeiterforschungsfahrten in die Ukraine von Margarethe Ruff und dem Autor waren in den Neunzigerjahren noch von Konflikten mit der Landesregierung und mit der Vorarlberger Illwerke AG überlagert, weil das Land bei der Zwangsarbeiter-Entschädigungsfrage nicht vorpreschen wollte.[7] Im Jahre 2000 hatte sich die Lage jedoch verändert: 55 Jahre nach Kriegsende beschloss der österreichische Nationalrat einstimmig das Gesetz über die Errichtung des "Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit". Dieser Fonds sollte eine Geste gegenüber den ehemaligen Zwangs- und Sklavenarbeiter/innen sein.[8] Beim Amt der Vorarlberger Landesregierung wurde eine Stelle für Fragen der Zwangsarbeit eingerichtet. Leiter Wilfried Längle wurde mit der Aufgabe betraut, Entschädigungsansprüche zu prüfen. Im Landesarchiv befinden sich die Akten von ca. 600 Personen, die sich ihren Aufenthalt in Vorarlberg bestätigen lassen mussten. Resümierend hielt der Landeskoordinator zur Abwicklung des österreichischen Entschädigungsfonds fest: "Bis zur Einstellung seiner Tätigkeit mit Ende des Jahres 2005 wurden vom Versöhnungsfonds an rund 135.000 ehemalige Zwangsarbeiter Entschädigungen ausgezahlt. An die 4000 davon dürften seinerzeit in Vorarlberg eingesetzt gewesen sein. Sie leben heute zum überwiegenden Teil in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und hier vor allem in der Ukraine, ferner in Polen, in Frankreich, in Ex-Jugoslawien, in den Niederlanden und in Belgien, weiters in den USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland; einige aber noch heute hier in Vorarlberg".[9]

 

Zwangsarbeiterinnen erinnern sich an Lustenau

 

Im Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau befinden sich Listen mit hunderten Namen von "Ostarbeitern und Ostarbeiterinnen", die zwischen 1939 und 1945 in kriegswichtigen Betrieben oder in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Der bedeutendste Rüstungsbetrieb war zweifellos die Firma C.A. Steinheil Söhne Optische Werke München.[10] Sie errichtete 1939 in Lustenau einen Zweigbetrieb, der stetig expandierte. Der Ausbau dieses Rüstungsbetriebs spiegelt sich in den Beschäftigungszahlen wider: In der zweiten Jahreshälfte 1942 kamen die ersten Ukrainer, dann französische und polnische "Zivilarbeiter". Anfang 1944 arbeiteten bereits 272 "Gefolgschaftsmitglieder" im Werk Lustenau. Es wurden neue Betriebe in der Holz- und der Morgenstraße errichtet. Mitte 1944 verfügte das Werk schließlich über fünf Mannschaftsbaracken, in denen etwa 300 Personen untergebracht waren. Im Juli 1944 betrug die Belegschaft 320 Personen. Von den 152 Frauen waren 107 "Ausländerinnen": 31 Tschechinnen, die übrigen Ostarbeiterinnen.

Auf den Beschäftigten-Listen dieser Firma – sie war nicht die Einzige, die in Lustenau mit Zwangsarbeiter/innen produzierte – finden sich als Herkunftsbezeichnung Ortsnamen "Kiew", "Poltawa" oder "Woroschilowgrad". In diesen ukrainischen Städten leben heute Menschen, die in ihrer Jugend zwangsweise in Vorarlberg waren und einen Lustenau-Bezug aufweisen, zum Beispiel Sinaida Kolesnik.

Sinaida Kolesnik wohnt in der Nähe von Rowenki (Ostukraine). Aus dieser Gegend stammen viele Zwangsarbeiter/innen, die nach Vorarlberg deportiert wurden. Deshalb hat Margarethe Ruff in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ihre intensive Oral History-Forschung in dieser Gegend durchgeführt.[11] Auf einigen ihrer Reisen wurde sie vom Autor dieses Artikels begleitet, so im Jahre 1998 zur Übergabe von privaten Spendengeldern in Luhansk. Diese Spenden wurden damals auf Initiative von Margarethe Ruff, der Vorarlberger "Grünen", des Theaters "Kosmos" und der Johann-August-Malin-Gesellschaft für ehemalige Zwangsarbeiter/innen gesammelt, die einst auf dem Boden des Bundeslandes Vorarlberg auf den Baustellen der Illwerke AG, in der Industrie, in der Landwirtschaft oder in Gewerbebetrieben eingesetzt waren.[12]

Einen neuen Anlauf, die Erforschung der Zwangsarbeitergeschichte in Vorarlberg voran zu treiben, brachte das Projekt "Brücken schlagen – ehemalige Zwangsarbeiter(innen) aus der Ukraine zwischen Rückkehr und neuer Heimat. (Region Vorarlberg)", das Margarethe Ruff und der Autor für den „Österreichischen Zukunftsfonds“ in den Jahren 2006 bis 2008 durchgeführt haben.[13]

Ausgehend von den bisherigen Forschungsarbeiten setzte dieses Projekt neue Akzente: Es ging darum aufzuzeigen, was die Erinnerungsarbeit, das Öffentlichmachen des Themas für die Betroffenen, für ihre Nachkommen sowohl in der Ukraine als auch in Österreich bewirkt haben.

Ehemalige Zwangsarbeiter/innen, die in ihre Ursprungsheimat zurückgekehrt sind, litten unter ihrer Verschleppung ins "Dritte Reich" ein Leben lang. Sie wurden nach ihrer Rückkehr in der Sowjetunion als Menschen "zweiter Klasse" behandelt, weil sie in "Feindesland" für die Feinde der Sowjetunion gearbeitet hatten. Dass dies zwangsweise geschehen war, spielte dabei keine Rolle.[14]

Im Rahmen des Projektes wurden ihre Erfahrungen in Vorarlberg, ihre Rückkehr-Perspektive, die Auswirkungen der Zwangsarbeit für die Lebenssituation in der alten Heimat, die innerfamiliäre Kommunikation über diesen Lebensabschnitt, das Brechen des Schweigens in der neuen Ukraine und das Leben nach der "Entschädigung" beleuchtet.

Sinaida Kolesnik (geb. Tkatschewa) gehörte zu jenen, die 1998 in Luhansk waren und dort eine Spende erhielten. Margarethe Ruff hielt die Begegnung im April 2007 für den Forschungsbericht mit folgenden Worten fest:

„‚Maschine kaputt’ das waren die einzigen deutschen Worte, die ich konnte. Wenn die Maschine, an der ich gearbeitet habe, nicht funktioniert hat, musste ich das melden. Die Arbeit war einfach und den Rest machte ich mit Gesten, erklärt uns Sinaida Kolesnik. Zwei Jahre hat sie in Lustenau und Hohenems gearbeitet, erinnern kann sie sich aber nur an sehr wenige Einzelheiten. Sie meinte: Jetzt bin ich über 80 und spreche mit euch, dabei habe ich schon vergessen, was ich vorher gesagt habe."

In einer Fabrik in Lustenau habe sie verschiedene Eisen geschliffen, musste irgendwo Löcher stanzen. Dann habe sie noch in einer Textilfabrik in Hohenems gearbeitet, neben Kirche und Friedhof. Sie habe so etwas "wie Garn" gewoben. Viel weiß sie aber nicht zu erzählen. "Ich war nicht so nah an den Leuten", meinte sie. "Ich habe immer im Lager gelebt, ich war nirgendwo, ich hatte Angst, spazieren zu gehen." Das Lager sei bewacht worden. Sie sieht das positiv: "Man hat uns beschützt mit Wachen, dass niemand ins Lager kommt." In der Lagerküche sei eine Frau aus Poltawa, gewesen, sie habe ihnen einmal pro Tag warmes Essen gemacht aus Brückwa. Brot hätten sie für die ganze Woche nur einmal bekommen. So schwer sei es aber auch nicht gewesen! "Ich war folgsam und es hat niemand mit mir geschimpft. Ich habe damals auch etwas Geld bekommen, ein Taschengeld."

Fast alle, die mit ihr zurückkehrten, mussten auf dem Bau arbeiten. Sie dagegen konnte in einem Spital als "Sanitarka" arbeiten, 35 Jahre lang, bis zur Pension. Wegen des Aufenthalts in Österreich habe es keine Probleme gegeben. Das Gleiche sagt auch ihre Tochter. Den Kindern habe sie aber nichts erzählt. Ihre Tochter fügt hinzu, sie hätte schon als Schülerin gewusst, dass die Mutter in Österreich gearbeitet habe, Genaues habe die Mutter aber nicht erzählt. Als damals (1998) in der Zeitung stand, in Luhansk suchen sie die Leute, die in Vorarlberg gearbeitet haben, und dazu sind Papiere nötig, da habe sie geschrieben, weil die Mutter das nicht konnte. Erst als Mutter und Tochter gemeinsam diese Dokumente vorbereiteten, da begann die Mutter zu erzählen. "Damals, als wir nach Luhansk gefahren sind, haben noch viele Leute gelebt, seither sind fast alle gestorben, die ich gekannt habe", stellt Frau Kolesnik bedauernd fest. "Bei diesem Treffen in Luhansk habe ich verstanden, dass die Österreicher diese Sache mit den Ostarbeitern sehr ernst nehmen. Ich habe die Entschädigung gut genutzt, in der Ukraine kümmert man sich um solche Leute wie mich nicht so viel als wie in Österreich. Dieses Geld hat wirklich sehr geholfen."[15]

Eine zweite Zeitzeugin (Jg. 1922), die heute in Krementschug wohnt, wollte auch nach über 65 Jahren nicht, dass ihr Name in Publikationen aufscheint. Ihre Erfahrungen kleidete sie in den Satz: "Man soll achtsam bleiben und keine Faschisten mehr zulassen!"

Einst war sie Lehrerin, das ist ungewöhnlich für jemanden, der in "Feindesland" gearbeitet hat. Besonders negative Erfahrungen hat sie in einem Gasthof in Lustenau gemacht. In diesem Gasthaus ist es ihr schlecht ergangen, dennoch möchte sie, dass der Name des damaligen Arbeitgebers nirgendwo aufscheint – und auch ihr eigener nicht. "Er [Der Arbeitgeber] hat mich geprügelt. Ein besseres Los haben diejenigen gehabt, die bei Bauern gearbeitet haben. Sie waren gute Menschen, die Faschisten hingegen gingen mit uns unmenschlich um. Der Mann, der mich geprügelt hat, hat mich sehr früh aufgeweckt zum Arbeiten. Ich habe sehr lange nichts gegessen, erst am Nachmittag habe ich ihn um Essen gebeten. Er warf mir ein Bündel Radieschen zu. Wir kamen nach Hause, er fing an, mich zu prügeln, ich rannte los, die Frau hat mir den Weg versperrt, ich habe sie gerammt und sie stürzte hin. Ich rannte hinaus. Der Mann hat mich eingeholt, erwischt, verprügelt und im oberen Zimmer eingesperrt […] Einmal habe ich im Gasthaus ein Zimmer geputzt, erblickte ein Radio und wählte Moskau. Die Chefin kam herein, ergriff mich bei der Hand und schrie: Willst du ins KZ? Dann kam ein Polizist und streckte mich zu Boden. Er trat mit seinen Beinen in meinen Bauch, immer wieder. Der Polizist wollte mich ins Straflager schicken, meine Chefin hat das verhindert. Zuhause sagte man mir dann, ich könne keine Kinder bekommen. Der Bürgermeister in Lustenau hat zu mir gesagt, ich weiß, dass sie dort so brutal sind und hat mich zu einem Bauern gegeben. Beim Bauern war es gut."

N. N. gehört zu jenen Ausnahmen, die trotz ihres Aufenthaltes in Österreich studieren konnten. Den Aufenthalt geheim zu halten, sei allerdings unmöglich gewesen, meinte sie, denn 30 aus dem gleichen Dorf waren verschleppt worden. Heute ist sie die einzige Überlebende. Sie möchte gerne nochmals Österreich sehen, fühlt sich aber zu alt für die Reise.

"Passt auf, damit es sich nicht wiederholt", ermahnt sie uns zum Abschied.[16] 

Nina Karpenko

Eine der Zwangsarbeiterinnen, die in Lustenau eingesetzt wurden, vermutlich Nina Karpenko (geb. 1926). Quelle: Margit Scheffknecht

 

Neuer Forschungsansatz:
Deutsche Besatzungspolitik in der heutigen Ukraine

 

Das Schicksal der ins "Reich" deportierten Zwangsarbeiter/innen ist in den letzten Jahren ausführlich erforscht und dokumentiert worden. Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" stellt zum Beispiel auf ihrer Internetplattform knapp 600 ausführliche Audio- und Video-Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus 26 Ländern, die ihre Lebensgeschichte erzählen, mit aufbereiteten Unterrichtsmaterialien zur Verfügung.[17]

Im Zuge der "Entschädigungsfrage" erfuhr die "Zwangsarbeiterforschung" sowohl in Deutschland als auch in Österreich eine starke Konjunktur. Die Arbeit der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen für die deutsche Kriegswirtschaft in den besetzten sowjetischen Gebieten ist allerdings für die Forschung noch weit gehendes Neuland. Jüngst hat Tanja Penter in ihrem Aufsatz "Der Donbass unter deutscher Besatzung" versucht, diese Forschungslücke etwas zu schließen.[18]

Die heutige Ukraine ist ein äußerst komplexes Gebilde mit einer Bevölkerung, die auf die unterschiedlichsten Traditionsstränge zurückgreift. Deshalb ist auch der Prozess der Nationsbildung äußerst schwierig und die historischen Narrative sind in der 1991 neu entstandenen Ukraine heiß umkämpft.[19] Dies gilt vor allem auch für den Blick auf den "Großen Vaterländischen Krieg". Er wird in der West- und Ostukraine unterschiedlich gesehen. In der Westukraine – in den ehemaligen Gebieten der einstigen Habsburgermonarchie – wird die Rolle der ukrainischen Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), die die Sowjetunion bekämpften, herausgestrichen, in der Zentral- und Ostukraine, die sehr eng mit Russland verbunden ist, wird nach wie vor die Rolle der "Roten Armee" und ihr Kampf gegen Nazi-Deutschland hoch gehalten.

Hintergrund dieser verschiedenen Zugänge sind die unterschiedlichen Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges. Die deutsche Besetzung wurde von der Bevölkerung in den verschiedenen Gebieten der Ukraine unterschiedlich erlebt, ein Aspekt, der in der Forschung über die Zwangsarbeiter/innen bisher zu kurz kam. Vor allem die (anfänglichen) Sympathien vieler Ukrainer für die deutschen Besatzer – vor allem in der Westukraine – konnten erst nach dem Untergang der Sowjetunion thematisiert werden.

Die deutsche Eroberungspolitik während des Zweiten Weltkrieges zielte im Osten in erster Linie auf die wirtschaftliche Ausbeutung ab. Der Ukraine war die Rolle einer Kolonie zugedacht. Im August 1941 hatte der Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg, im Rahmen des ‚Generalplans Ost’ eine allgemeine Arbeitspflicht für alle Einwohner im Alter zwischen 18 und 45 Jahren sowie einen Arbeitszwang für Juden im Alter von 14 bis 60 Jahren unter Androhung von härtesten Strafen bei Nichtbefolgung erlassen. Der Arbeitszwang bildete – neben den rassepolitischen Zielen – das zentrale Element der Besatzungspolitik mit den gravierendsten Auswirkungen auf die Bevölkerung. Im Juli 1943 standen rund 7,5 Millionen Menschen im "Reichskommissariat Ukraine" im "Arbeitseinsatz", das war rund die Hälfte der Bevölkerung, dazu kamen noch 3,2 Millionen (von rund sieben Millionen) in den unter militärischer Verwaltung stehenden Gebieten in der Ostukraine. Über vier Fünftel der Beschäftigten arbeiteten in der Landwirtschaft. Von den 3,1 Millionen ins "Reich" verschleppten "Ostarbeiter/innen" stammten zwei Drittel aus der Ukraine. Außerdem waren hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene mit ukrainischer Nationalität in deutscher Hand.[20]

Viele ukrainische Zwangsarbeiter/innen, die nach Vorarlberg kamen, stammen aus dem Südosten der heutigen Ukraine, aus dem Bergbaugebiet des Donezbeckens, dem Donbass. Dieses Bergbaugebiet war in den 1930er-Jahren in der forcierten Industrialisierung unter Stalin zu einem der wichtigsten industriellen Zentren der Sowjetunion aufgestiegen.

Die Arbeitseinsatzpolitik der deutschen Besatzer stand dort in engem Zusammenhang mit der Ernährungspolitik. Mit dem Ziel, die Versorgung der Truppe aus dem Lande sicherzustellen und zudem ein Höchstmaß an Lebensmitteln ins Reich abzutransportieren, war im Frühjahr 1941 zwischen dem Reichsernährungsministerium und dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) die Durchführung einer selektiven Hungerstrategie gegenüber der sowjetischen Bevölkerung vereinbart worden. Die deutschen Behörden wollten die "Ernährungs-Zuschussgebiete", also die größeren Städte und Industrieregionen, aushungern. Der Landbevölkerung wurde eine elementare Selbstversorgung zugestanden. Den Hungertod von Millionen Menschen nahmen die Strategen dieser Politik bewusst in Kauf. In der Praxis erwies sich der „Hungerplan“ aber schon bald als nicht durchführbar. Vor allem der wachsende Bedarf an Arbeitskräften für den Einsatz vor Ort sowie für den Reichseinsatz spielte dabei eine wichtige Rolle. Die selektive Hungerpolitik gegenüber der Stadtbevölkerung wandelte sich zunehmend zu einer selektiven Hungerpolitik gegenüber allen Nicht-Arbeitenden. Täglich gab es 325 Gramm Brot für die arbeitende Bevölkerung, ohne zusätzliche Rationen für die Familienangehörigen. Die Löhne orientierten sich an den sowjetischen Vorkriegstarifen und standen in keinem Verhältnis zu den horrenden Preisen auf den entstehenden Schwarzmärkten. Der Ernährungszustand der Bergleute war zum Teil derartig schlecht, dass sie vor Entkräftung kaum arbeiten konnten. Die Arbeiter litten zum Teil an Hungerödemen, waren in äußerst schlechter körperlicher Verfassung und mussten mit Zwangsmaßnahmen zum Arbeiten ‚motiviert’ werden. In Char’kiv forderte der Hungerwinter 1941/42 Tausende von Opfern. Die Leute versuchten auf dem Land zu Nahrungsmitteln zu gelangen. Dabei wurden kilometerlange Wege in Kauf genommen. Besonders für Frauen mit Kindern waren diese "Hamstergänge" unsäglich beschwerlich. Viele erfroren im Winter auf dem Weg in die Dörfer.

Unter diesen Bedingungen war es für die deutschen Besatzungsbehörden schwer, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Sie taten dies über Arbeitsämter, denen die restlose Erfassung aller Arbeitskräfte oblag. Zur "Bekämpfung des Arbeitsunwillens" der Bevölkerung setzten die Arbeitsämter Zwangsmaßnahmen ein. Dazu zählten die Einführung der Prügelstrafe, die Verhängung von Haftstrafen und Einrichtung von Arbeitslagern – und auch der Sicherheitsdienst wurde eingeschaltet, um mit drakonischen Strafen abzuschrecken. Der Zeitzeuge Viktor Smal’ko berichtete, dass sein Vater vor seinen Augen von den Deutschen zu Tode geprügelt wurde, weil er sich weigerte, auf seinem alten Arbeitsplatz als Gießer in der Metallfabrik zu arbeiten.[21]

Die Anwerbung ins Reich schien zunächst einem Teil der einheimischen Bevölkerung durchaus lukrativ zu sein. Daraus machte zum Beispiel auch Nadeshda Iwanowna (Schuralewa) kein Hehl, als sie 1998 interviewt wurde.[22] Sie erhielt damals im Rathaus von Luhansk aus dem oben erwähnten privaten Spendenfonds 100 Dollar überreicht, da sie ab 1942 bei der Dornbirner Textilfirma Herrburger & Rhomberg zwangsverpflichtet war.

Dass sich Nadeshda Iwanowna (Schuralewa) zunächst in der Ukraine "freiwillig" gemeldet hatte[23], lag vor allem daran, dass die Werber-Kommissionen mit deutlich höheren Verpflegungssätzen warben und zudem die Versorgung der zurückbleibenden Angehörigen versprachen. Manche ließen sich in der ersten Besatzungsphase von der nationalsozialistischen Propaganda blenden, die ein völlig verzerrtes Bild der Arbeits- und Lebensbedingungen der "Ostarbeiter" in Deutschland zeichnete. Die Zahl der "Freiwilligen" für den Reichseinsatz nahm allerdings rasch ab, als sich herausstellte, dass das Versprechen, die zurückgebliebenen Angehörigen zu versorgen, von den Besatzungsbehörden nicht eingehalten wurde. Auch Nachrichten über die katastrophalen Lebensbedingungen der "Ostarbeiter" im Reich verbreiteten sich schnell unter der Bevölkerung im besetzten Gebiet. Bereits im April 1942 berichtete die "Wirtschaftsinspektion Süd", dass Arbeitskräfte für das Reich mithilfe der lokalen Polizei zwangsweise rekrutiert werden mussten.

Diese unterschiedlichen Phasen der Arbeitskräfterekrutierungspolitik müssen bei Forschungsarbeiten über die Zwangsarbeit stärker berücksichtigt werden, denn für die einzelnen Zwangsarbeiterbiographien spielen diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen bei der Deportation eine wichtige Rolle. Und noch eine Erfahrung muss stärker beachtet werden: Viele waren Mitte der Zwanzigerjahre geboren und hatten in ihrer Kindheit den "Holodomor", der heute von vielen Forschern als Genozid betrachtet wird, erlebt und überlebt: Die Hungersnot in den Jahren 1932/33 in Folge der stalinistischen Kollektivierungsmaßnahmen in der Ukraine.

 

Von Gorodische (Horodyschtsche) nach Vorarlberg

 

Am 7. Oktober 2011 besuchten Margarethe Ruff und der Autor Nikolaus Telitschko, der mit 15 Jahren aus der Ukraine zwangsweise nach Vorarlberg ins "Aufbaulager Silbertal" verschleppt wurde und bis zu seinem Tode im Jahre 2012 in Bartholomäberg-Innerberg wohnte. Jahrelang stand er als wichtiger Zeitzeuge zur Verfügung.[24]

Er stammte aus Gorodische (Horodische/Horodyschtsche), einer Stadt im Zentrum der Ukraine. Hier wurde Nikolas (Nikolaus) Telitschko am 22.12.1925 geboren. Laut Vorlage seines Arbeitsbuches kam er als "Fremd-/Zwangsarbeiter" im Jahre 1942 ins  "Aufbaulager Silbertal-Bartolomäberg", das nach Kriegsende aufgelöst wurde. Einen Rechtsnachfolger gibt es nicht.

Nikolaus Telitschko (gest. 2012), war seit 1957 österreichischer Staatsbürger. Als er 1985 in Pension ging, erlebte er eine böse Überraschung: Trotz der Vorlage seines Arbeitsbuches wurden ihm die Jahre 1942 bis 1947 für die Pension nicht angerechnet, denn er wurde bei der Gebietskrankenkasse erst 1947 angemeldet. Alle Versuche, die Jahre als Zwangsarbeiter im Silbertal und die der unmittelbaren Nachkriegszeit angerechnet zu bekommen, scheiterten. Als er als "Zeitzeuge" am 5. Mai 2010 – dem offiziellen "Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus" in Österreich – im Vorarlberger Landtag zu Gast war, sagte er, dies sei eine bleibende Wunde in seinem Leben: die Jahre der Zwangsarbeit pensionsrechtlich nicht anerkannt zu bekommen.

Im November 1941 – nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht – musste sich auch Nikolaus Telitschko, der einzige Sohn der Familie, beim Arbeitsamt in Horadische melden. Er war damals sechzehn Jahre alt und ging noch zur Schule. 140 Jugendliche – davon vier Mädchen – mussten mit dem gleichen Transport ins Reich.[25]

Am 6. Mai 1942 erfolgte der Abtransport in Richtung Deutschland. Dreizehn lange Tage waren er und seine Schulkollegen im Waggon unterwegs: "Es gab weder Toiletten noch etwas zu essen, gar nichts. Schließlich hielt der Zug in Wörgl. Dort war ein Umschlaglager, dort war die Entlausung." Am nächsten Tag erfolgte der Weitertransport nach Schruns.

Er wurde im "Aufbaulager" in Silbertal untergebracht: "Zuerst, als wir gekommen sind, war das Lager nagelneu, französische Gefangene haben es aufgestellt. Daneben war ein Viehstall, ungebraucht. Dort hinein streute man Stroh und fast einen Monat hausten wir in dem Stall. [...]. Dann durften wir in das umzäunte Lager einziehen […]. Zuerst waren wir 270 Mann. Es waren auch einige Ältere aus der Region Shitomir dabei, einige waren noch viel jünger als ich, Vierzehnjährige, Kinder, nicht umsonst weinten viele ohne Mama."

Der Sechzehnjährige wurde auf diversen Baustellen eingesetzt, er musste Güterwege ausbessern und half mit, das Wegenetz zu verbessern. Seine Schilderung veranschaulicht die damaligen Lebensumstände im Lager: "Ich hatte oft Furunkeln und ich war deshalb mehrere Wochen im Krankenstand […]. Wir hatten keinen Ausgang, wir durften nicht einmal nach Schruns hinaus, der Kirchenbesuch war für uns verboten, auch der Gasthausbesuch, der Kontakt mit den Einheimischen war untersagt, außer wenn man direkt etwas mit ihnen zu tun hatte und wir mussten das Ostarbeiterzeichen tragen."

Der Heranwachsende hatte im Lager ständig Hunger. "Glück hatte einer, wenn er einmal bei einem Bauern arbeiten durfte und eine Kartoffel bekam. Kartoffeln habe ich im Lager nicht gesehen, die ganzen drei Jahre nicht. Am Morgen gab es Kaffee, braunes Wasser, zu dritt musste man ein Kilo Brot teilen, zum Schluss zu viert. Das war das Frühstück, das schlang man hinunter. Zu Mittag Rübeneintopf und am Abend dasselbe. Das war alles, wir hatten Hunger. Besonders am Anfang – bis die Mutter dann Tabak geschickt hat – den habe ich eingetauscht für Brot. Für zwei Zigaretten gab eine Tagesration Brot."

Doch nicht nur an den Hunger erinnerte sich Nikolaus Telitschko: Auch die Bekleidung war mangelhaft, Schuhe fehlten oder waren zerrissen, es mangelte an Socken und Fußlappen, so dass das Arbeiten in den Bergen – besonders im Winter – zur Qual wurde.

Bei unserem letzten Interview ging es allerdings nicht nur um seine Erfahrungen als Zwangsarbeiter im Silbertal, um die Zeit nach dem Krieg und das Leben eines ehemaligen Zwangsarbeiters in einem Dorf, sondern das Gespräch drehte sich um einen Lebensabschnitt, der bisher tabuisiert war: um seine schrecklichen Kindheitserfahrungen vor der Deportation nach Vorarlberg während des Holodomors. Über dieses Thema hatte er bisher noch mit keinem Historiker, mit keiner Historikerin gesprochen, weil er noch nie zuvor darauf angesprochen worden war.

Nikolaus Telitschko war mehrmals in seiner Ursprungsheimat. Beim letzten Besuch in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts lebten in Horodische noch drei ehemalige "Silbertaler".

 

„Fest des Dankes und der Anerkennung“

 

Aus der Bergwerkgegend des Donbass stammten auch viele Zwangsarbeiter auf den Baustellen der Illwerke, so auch Mykola Skrypnik, der kürzlich verstorben ist. Im Juni 2008 ging ein sehnlicher Wunsch von ihm in Erfüllung: Noch einmal konnte er mit seiner Tochter an jenen Ort zurückkehren, an dem er den Großteil seiner Jugend verbracht hat.

Er gehörte zu jener kleinen Delegation aus Rowenki, die auf Einladung der Stadt Dornbirn Vorarlberg besuchte.[26] Im "Standard" berichtete Jutta Berger über diesen Besuch: „Mykola Skrypnik wird beim Besuch am Vermuntstausee immer wieder von Erinnerungen überwältigt. ‚Wir mussten graben, graben, ob wir wollten oder nicht. Zehn Meter jeden Tag nur mit dem Spaten.’ Drei Jahre lang. An die Menschen im Dorf erinnert er sich mit großer Dankbarkeit: ‚Die Bauern in Partenen waren gut. Sie haben uns Brot geschenkt, damit haben sie uns das Leben gerettet."[27] Und am 8. Dezember 2008 war er in Rowenki beim  "Fest des Dankes und der Anerkennung" dabei, das zum Abschluss des Projektes "Brücken schlagen – ehemalige Zwangsarbeiter(innen) aus der Ukraine zwischen Rückkehr und neuer Heimat. (Region Vorarlberg)" von den Projektdurchführenden für die ehemaligen Zwangsarbeiter/innen initiiert wurde.

52 Personen folgten der Einladung, 16 weitere kranke oder gebrechliche Menschen wurden Zuhause aufgesucht. Bürgermeister Alexandr Onasenko und Stadtamtsdirektorin Elena Ushakowa betonten, dass die Anwesenden noch nie eine solche öffentliche Wertschätzung erhalten hätten. Die ehemalige Zwangsarbeiterin Wera Kustenko dankte auf ihre Weise: Sie sang zur Melodie von Lilli Marlen (!) einen deutschen Text, den sie während ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin in Dornbirn wohl oft gesungen hatte: "[…] spazieren gehen, spazieren gehen, arbeiten nix mehr schön!" Das ostukrainische Lokal-Fernsehen übertrug nicht nur das Fest in voller Länge, sondern auch das anschließende Interview mit den Gästen über das Thema Zwangsarbeit in Österreich.

Dieses "Versöhnungsfest" war ein würdiger Projektabschluss. Es brachte nicht nur neue Erkenntnisse bei der Feldforschung in der Ukraine, sondern es erfolgte auch eine biographische Bestandsaufnahme von jenen ehemaligen Zwangsarbeitern/Zwangsarbeiterinnen, die nach 1945 in Vorarlberg geblieben sind und hier eine "neue Heimat" gefunden haben. Die Interviews erhoben die Gründe des Bleibens, allfällige Kontakte in die ehemalige Heimat, die entstandene Identitätsproblematik, die Folgen des Heimatverlusts und die Probleme bei der Integration in die neu gewonnene Heimat. Ein besonderes Anliegen war es, die Nachkommen mit der Geschichte ihrer Eltern zu konfrontieren. Im Zuge der früheren Forschungen hatten bereits Einzelne ihre Herkunft neu entdeckt, neue Verwandte in der Ukraine und damit eine neue Lebensperspektive gewonnen. Dieser Prozess wurde durch das neue Projekt intensiviert. Ein Musterbeispiel dafür ist die Geschichte von Otto Ohrmeier (Jg. 1950). Seine Mutter Anna Holiaka wurde am 11.9.1923 in Ciciliuka (heute Emilcino; Kreis Shitomir) geboren. In den Meldeunterlagen wurde sie irrtümlich unter "Anna Holika" geführt.

Sie kam am 12. Juni 1942 nach Dornbirn und blieb nach Kriegsende hier. 1947 heiratete sie den Landwirt Otto Ohrmeier (Dornbirn, Haselstauderstr. 8). "Meine Mutter" – so ihr Sohn – "war ihr Leben lang hin- und hergerissen. Auf der einen Seite war da die Familie in der Ukraine, auf der anderen Seite hatte sie Angst zurückzukehren: Sie hatte gehört, die Zurückgeschickten würden nach Sibirien kommen. Und dann heiratete sie und hatte eine eigene Familie in Dornbirn. Natürlich hatte sie Heimweh, der Gedanke an ihre Ursprungsheimat hat sie nie losgelassen. Ein kleines Häufchen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen war noch da; mit denen hatte sie Kontakt, z.B. mit Ira, die bei Paulina Mäser (Im Hohlen) war. Aber auch der Kontakt mit ihrer Schwester Olga ist nie abgerissen. Sie haben sich ständig geschrieben. Aber nur mit Olga bestand dieser Kontakt: Für die übrigen Geschwister war die Dornbirnerin eine Faschistin, weil sie nicht zurückgekehrt ist."

1965 starb Ottos Vater. "Für meine Mutter begann eine ganz schwierige Zeit. Unter Weinkrämpfen schrieb sie an ihre Schwester in der Ukraine. Aber die Angst zurückzukehren war immer vorhanden, denn sie wusste, dass die Heimkehrerinnen als Menschen zweiter Klasse galten. Und dann ist meine Mama 1985 – noch zu Sowjetzeiten – gestorben. Zehn Jahre später klingelte es an meiner Tür. Zwei Herren standen draußen. Der eine sagte: Ich bin dein Cousin Segej aus der Ukraine. Und er hat mich sofort verglichen mit dem Bruder meiner Mutter. Ich bin dann noch im gleichen Jahr in die Ukraine gefahren. Es ist, wie wenn die Mutter mir die Seele übertragen hätte. Ich wollte den Ort aufsuchen, an dem meine Mutter gelebt hatte."

Inzwischen ist Otto Ohrmeier an die zehn Mal in der Ukraine gewesen und gilt dort bei der Verwandtschaft als Familienmitglied. "Ich fühle mich heute eigentlich mehr als Ukrainer", meinte er neulich bei einem Gespräch.[28]



 

[1] Grundlegende Arbeit zur Erforschung der Zwangsarbeit: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin-Bonn 1985.

[2] Siehe u.a. Volkhard Knigge/Rikola-Gunnar Lüttgenau/Jens-Christian Wagner (Hg.), Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Begleitband zur Ausstellung, Weimar 2010.

[3] Siehe dazu Dieter Pohl, Vernichtungskrieg. Der Feldzug gegen die Sowjetunion 1941-1944 im globalen Kontext, in: Einsicht 06. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 3 (Herbst 2011), S. 16-31.

[4] Zur Zahlenentwicklung der Zwangsarbeit auf dem Boden des heutigen Österreich und den methodischen Schwierigkeiten bei der statistischen Auswertung siehe Mark Spoerer, Zwangsarbeit auf dem Gebiet der Republik Österreich, Teil 1: Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939-1945 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 26/1), Wien-München 2004.

[5] Ebenda, S. 242 f.

[6] Der Zeithistoriker und ehemalige Landesarchivmitarbeiter Univ. Doz. Dr. Wolfgang Weber kommt bei seiner Sichtung der Quellenlage zu folgendem Schluss: "Grundsätzlich erscheint es auf Grundlage des vorhandenen Quellenmaterials nicht möglich, eine faktische Rekonstruktion der NS-Zwangsarbeit in Vorarlberg zu leisten. Die schriftliche Überlieferung ist in Hinblick auf ihre Provenienz und ihre Entstehungsbedingungen zu unterschiedlich, als dass damit eine umfassende Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Vorarlberg geschrieben werden könnte. Möglich sind jedoch exemplarische Schwerpunktstudien für einzelne Betriebe, Ortschaften oder Personen, weniger für ganze Wirtschaftszweige." Wolfgang Weber, Quod non est in fontes [sic!], non est in mundo? Umfang und Bedeutung der schriftlichen Überlieferung zur Geschichte der Zwangsarbeit in Vorarlberg, in: Scrinium. Zeitschrift des Verbandes Österreichischer Archivarinnen und Archivare 55 (2001), S. 579-590, hier S. 587.

[8] Das österreichische Bundesgesetz über den Fonds für freiwillige Leistungen der Republik Österreich an ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeiter des nationalsozialistischen Regimes (Versöhnungsfonds-Gesetz) wurde am 8. August 2000 im Bundesgesetzblatt Nr. 74/2000 veröffentlicht und ist am 27.11.2000 in Kraft getreten. Siehe dazu Hubert Feichtlbauer, Zwangsarbeit in Österreich 1938-1945: Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit: Späte Anerkennung, Geschichte, Schicksale, Wien 2005.

[9] Wilfried Längle, Entschädigungen an ehemalige Zwangsarbeiter in Vorarlberg – Bericht des Landeskoordinators für Vorarlberg, in: Ulrich Nachbaur/Alois Niederstätter (Hg.), Aufbruch in eine neue Zeit. Vorarlberger Almanach zum Jubiläumsjahr 2005, Bregenz 2006, S. 197-199, hier S. 199.

[10] Siehe dazu Wolfgang Scheffknecht, 100 Jahre Marktgemeinde Lustenau 1902-2002. Eine Chronik, Lustenau 2003, S. 243 ff.

[11] Grundlegend: Margarethe Ruff, "Um ihre Jugend betrogen". Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 13), Bregenz 1996.

[12] Rede des Obmannes der Johann-August-Malin-Gesellschaft, Werner Bundschuh, gehalten im Rathaus von Luhansk am 7. September 1998 anlässlich einer Spendenübergabe an ehemalige Zwangsarbeiter/innen: http://www.malingesellschaft.at/aktuell/weiteres/zwangsarbeit/rede-des-obmannes-der-malin-gesellschaft-gehalten-im-rathaus-von-luhansk-am-7.-september-1998-anlaesslich-einer-spendenubergabe-an-ehemalige-zwangsarbeiter-innen.

[13] Werner Bundschuh/Margarethe Ruff, Projekt "Brücken schlagen – ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine zwischen Rückkehr und neuer Heimat." Projektbericht für den Zukunftsfonds der Republik Österreich (2008). Der Forschungsbericht ist nicht veröffentlicht. Teile daraus sind auf der Homepage von www.erinnern.at einsehbar: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/bundeslaender/vorarlberg/bibliothek/dokumente/das-projekt-brucken-schlagen-ehemalige-zwangsarbeiter-und-zwangsarbeiterinnen-aus-der-ukraine-zwischen-ruckkehr-und-neuer-heimat-margarethe-ruff-und-werner-bundschuh

[14] Grundlegende Studie von Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im "Dritten Reich" und ihre Repatriierung, München-Wien 2001.

[15] Bundschuh/Ruff, Projektbericht "Brücken schlagen" (wie Anmerkung 13), S. 37.

[16] Bundschuh/Ruff, Projektbericht "Brücken schlagen" (wie Anmerkung 13), S. 49.

[18] Tanja Penter, Der Donbass unter deutscher Besatzung, in: Einsicht 6. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 3 (Herbst 2011), S. 40-47.

[19] Siehe dazu Andreas Kappeler (Hg.), Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, Köln-Weimar-Wien 2011.

[20] Siehe dazu Tanja Penter, Die Ukrainer und der „Große Vaterländische Krieg“: Die Komplexität der Kriegsbiographien, in: Kappeler (Hg.), Die Ukraine (wie Anmerkung 19), S. 335-348, hier S. 339.

[21] Ebenda, S. 44.

[22] Werner Bundschuh, "Ich möchte Dornbirn noch einmal sehen". Wunsch der ukrainischen Zwangsarbeiterin Nadeshda Schuralewa/Iwanowna, in: Dornbirner Schriften 27 (2000), S. 101-112.

[23] Margarethe Ruff und der Autor suchten Nadeshda Schuralewa/Iwanowna auch im Jahre 2008 in Rowenki auf. Sie war allerdings schwer krank und konnte mit uns nicht mehr sprechen.

[24] Seit den Neunzigerjahren stellt sich Nikolaus Telitschko als Zeitzeuge zur Verfügung. Ein ausführliches Interview führte er im Jahre 2006 auch mit Johannes Breit, der ihn im Zuge seiner Fachbereichsarbeit "Das Arbeitserziehungslager Innsbruck-Reichenau und die Nachkriegsjustiz" interviewte. Dieses Interview liegt in CD-Form als Beilage zur Fachbereichsarbeit vor: Johannes Breit, Nikolaus Telitschko. Arbeit! Arbeit! Arbeit!. Bericht über Zwangsarbeit in der Aufbaugenossenschaft Bartholomäberg-Silbertal (Vbg.) 1942-1945. CD-Privatdruck 2007.

[25] Gespräch mit W.B. am 6.4.1999.

[26] Zur konfliktreichen Vorgeschichte siehe Jutta Berger in: Der Standard, Printausgabe, 5.12.2007.

[27] Jutta Berger, An den Stätten verlorener Jugend. Ukrainische Ex-Zwangsarbeiter besuchten Vorarlberg, in: Der Standard, Printausgabe, 1.7.2008.

[28] Langjährige Bekanntschaft mit Otto Ohrmeier und zahlreiche Interviews, besonders in den Jahren 2007/2008. Bundschuh/Ruff, Projektbericht "Brücken schlagen" (wie Anmerkung 13), S. 84 ff. Aussage am 10. November 2011.