Meinrad Pichler (2007): Der Vorzugsschüler im Widerstand. Gelebte Humanität, praktiziertes Christentum: Josef Anton King (1922-1945)
Meinrad Pichler
Der Vorzugsschüler im Widerstand
Gelebte Humanität, praktiziertes Christentum: Josef Anton King (1922-1945)
Erschienen in Meinrad Pichler: Quergänge. Vorarlberger Geschichte in Lebensläufen. Hohenems: Bucher Verlag 2007 (2. Aufl. 2008), S. 238-251.
"Nicht mit zu hassen,
mit zu lieben sind wir da."
(Sophokles)
Als der Bauer und Fuhrmann Johann King aus der Hörbranzer Parzelle Berg im Jahre 1919 aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehrte, war kurz zuvor seine Frau, erst 28 Jahre alt, geschwächt durch Gram und Überanstrengung, an der im November und Dezember 1918 grassierenden Grippe verstorben.[1] Doch für Nachsinnen und Trauer blieb wenig Zeit: Der Hof war durch die mehrjährige Abwesenheit des Bauern verlottert, die Pferde des ehemaligen Fuhrmanns hatte das Heer requiriert, und die beiden kleinen Kinder brauchten eine Mutter. Die Ende 1920 mit Agatha Guldenschuh aus Kennelbach geschlossene Ehe stand gleichsam für den sozialen und wirtschaftlichen Neustart des Heimkehrers. Zu ihrem Glück konnten die Eheleute nicht ahnen, welche Katastrophe in den kommenden Jahrzehnten über sie hereinbrechen sollte. Den beiden Kindern aus erster Ehe folgten zwei aus der neuen Verbindung, jeweils ein Mädchen und ein Bub, die alle in den 1920er und 1930er Jahren eine relativ unbeschwerte, wenn auch arbeitsreiche Kindheit und Jugendzeit verbrachten.
Die Kette tragischer Unglücksfälle begann mit dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahre 1941 fiel der älteste Sohn an der Eismeerfront. 1947 starb der Vater an einer Gasvergiftung, die er sich bei der Reparatur des Rührwerks in seinem Güllekasten zugezogen hatte. Im Herbst desselben Jahres kollidierte die älteste Tochter auf ihrem Traktor im Harder Ried an einem unbeschrankten Bahnübergang mit einer Eisenbahnlokomotive, und wenige Jahre danach verstarb die einzige noch lebende Tochter an einer Krebserkrankung.[2] Die Mutter als einzige Überlebende musste alle diese tragischen Unfälle erleben und die schmerzlichen Verluste erleiden.
Integriert und Außenseiter
Der schwerste Schlag aber war der sinnlose und unfassbare Tod ihres besonderen Sohnes Josef Anton. Besonders war der Sohn deshalb, weil er bereits in der dörflichen Volksschule die Lehrer und Mitschüler ob seiner Kenntnisse und Fähigkeiten erstaunte. Im Dorfe hieß der gescheite, schmächtige und kurzsichtige Bub schon "Professarle", bevor er auf Empfehlung des Pfarrers ins bischöfliche Gymnasium Paulinum in Schwaz in Tirol kam. Zwar wurden seine außergewöhnlichen Geistesgaben auch dort schnell erkannt, doch war damit eine Akzeptanz durch die Gleichaltrigen eher erschwert als befördert.
Der ehemalige Mitschüler Dr. Walter Köck aus Kappl erinnert sich Josef Anton Kings folgendermaßen:
"Er war körperlich klein, unscheinbar und im Allgemeinen eher schwächlich. Dafür war er geistig allen bei weitem überlegen. Ich habe bis heute keinen intelligenteren Menschen getroffen als ihn. Ohne jede Mühe und Anstrengung schaffte er die Schule mit überragendem Erfolg. […] Er erhielt das für die damalige Zeit unerhörte Privileg, während des Studiums nicht studieren zu müssen. Er konnte sich beschäftigen, mit was er wollte und hatte nur die Pflicht, uns anderen zu helfen. Nun, diese Pflicht erstreckte sich nicht nur auf unsere Klasse, sondern auch auf höhere. Gegen Ende des Untergymnasiums löste er bereits Maturaaufgaben. Sonst galt seine ganze Liebe der Radiotechnik und seiner Theorie. Während wir uns mit den Aufgaben der Schule täglich abmühten, studierte er in dicken Wälzern Hochfrequenztechnik und ähnliches. […] Der Mensch Josef King: Übertrieben gesagt, stand dem geistigen 'Riesen' der körperliche 'Schwächling' gegenüber. Seine Mentalität war vom Körper her geprägt. Er litt häufig an Minderwertigkeitskomplexen und konnte seine geistige Überlegenheit nicht ausnützen. Daher war er sehr sensibel und anlehnungsbedürftig. Damit verband er eine, weit über den Durchschnitt gehende Hilfsbereitschaft. Es gab keinen in der Klasse, der ihn nicht gebraucht hätte, und es gab keinen, dem er nicht geholfen hätte. Sein Wesen war Gutmütigkeit und tiefe Religiosität."[3]
Als nach dem Einmarsch der hitlerdeutschen Truppen in Österreich im März 1938 die konfessionellen Schulen - und damit auch das Paulinum - aufgelöst wurden, kam King mit einigen anderen Vorarlbergern an das Bregenzer Gymnasium. Er stieg im Herbst 1938 in die 6. Klasse ein und schloss diese mit Vorzug ab.[4] Im Jahr darauf wurden die Vorzugszeugnisse offiziell abgeschafft, aber noch als Kalkül des "Prüfungsurteils" festgehalten. Das Schlusszeugnis hatte nun, der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend, "eine allgemeine Beurteilung des körperlichen, charakterlichen und geistigen Strebens und Gesamterfolges"[5] zu enthalten. Bei Josef A. King lautete dieses Urteil: "Körperlich recht ausdauernd; aufrichtig und pflichtbewusst; sehr begabt und vielseitig interessiert".[6] Damit waren seine wesentlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zwar unzureichend, aber treffend beschrieben.
Auch hier, auf dem Bregenzer Gymnasium, war King eher ein Außenseiter: heimlich bewundert zwar für seine geistigen Fähigkeiten, aber eben doch anders als seine städtischen Klassenkollegen, die aus feinen Häusern und zum Teil aus großdeutschen Familien stammten. King dagegen war religiös, schüchtern und irgendwie auch deshalb nicht dazugehörig, weil ihm im wahrsten Sinne des Wortes der Stallgeruch der häuslichen Landwirtschaft anhaftete. Auch dass der Frächtersohn früh am Morgen mit einem Pferdefuhrwerk von Hörbranz nach Bregenz fuhr, um die eigene und die Milch der Nachbarn in die Bregenzer Molkerei zu bringen, trug ihm bei den jungen Städtern kein Prestige ein. Für die Bauernfamilie erschien es selbstverständlich, dass der Gymnasiast, wenn er schon in die Stadt musste, diesen Dienst mit erledigte. Im Dorf allerdings war Josef King bestens integriert: Er nahm rege am Vereinsleben teil, machte für viele Familien Eingaben und Schriftsätze, wurde bei feierlichen Anlässen als Redner engagiert und war ein gefragter Zitherspieler.[7]
Als seine Klasse am Bregenzer Gymnasium im März 1941 maturierte, waren neun von vormals 22 Schülern bereits als Soldaten an der Front; ihnen wurde im Dezember 1940 anstelle der Reifeprüfung die so genannte Reifeklausel erteilt. Damit hatte sich die militärische Mobilisierung auch den Bildungsbereich untergeordnet. Einig waren sich die regulären Maturanten noch 65 Jahre nach ihrer Reifeprüfung über den damaligen Klassenbesten: "Das war Josef-Anton King", weiß Albert Plankl. "Der war in den Sprachen genauso herausragend wie in Mathematik."[8] Das ausgezeichnete Maturazeugnis bezeugt diese Erinnerung ebenso eindrücklich wie die Tatsache, dass er bei der schulischen Verabschiedung die lateinische Rede hielt.
Das helfende Sprachgenie
Auch King wurde zum Heeresdienst eingezogen. Er kam für neun Monate nach Landeck[9] und erhielt hier nicht nur schnell einen Posten in der Schreibstube, sondern auch Angebote für Verwendungen in den Militärmissionen von Athen und Rom. Denn womit King in der Schule nie renommiert hatte, wurde hier evident: nämlich dass er hervorragend Italienisch und Neugriechisch sprach. Beides hatte er sich durch Radiohören angeeignet.[10] Ein Avancement innerhalb der Wehrmacht lehnte er aber strikt ab. Aufgrund einer Augenentzündung, die seine Kurzsichtigkeit verstärkte, wurde er vom Militär entlassen und schließlich nach dem Fronttod seines Bruders für die elterliche Landwirtschaft "uk" (unabkömmlich) gestellt.[11] An ein von ihm früher geplantes Studium war zu dieser Zeit also nicht zu denken. Einem Bregenzer Professor vertraute er an, dass er nur weiterstudiere, wenn Deutschland den Krieg verliere, andernfalls bleibe er zu Hause.[12]
Mit der kriegsvorbereitenden Ausweitung der Rüstungsindustrie wurden bereits ab 1938 vom Deutschen Reich in Italien, später in Kroatien und in der Tschechoslowakei Arbeitskräfte angeworben. Mit den ersten Eroberungen kamen Kriegsgefangene aus Polen, Frankreich und ab Herbst 1941 aus der Sowjetunion dazu. Mit Erlass vom Mai 1942 wurde durch den "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" die Zwangsrekrutierung junger Menschen vor allem in den eroberten Ostgebieten zur Abdeckung des Arbeitskräftebedarfs in Deutschland angeordnet.[13] Auch die Vorarlberger Industrie, das Baugewerbe und die Landwirtschaft gingen sukzessive dazu über, den Bedarf an Arbeitskräften mit so genannten OstarbeiterInnen abzudecken. Dazu wurden Lager angelegt, in denen die jungen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter fast wie Gefangene untergebracht waren. Um ihre Mobilität zu beschränken und Fluchten zu verhindern, war ihnen die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln und von Fahrrädern verboten.
Der einheimischen Bevölkerung wurde in ausführlichen öffentlichen Belehrungen befohlen, sich gegenüber den jungen Menschen aus den Ostgebieten abweisend und diskriminierend zu verhalten.
"Wer mit Kriegsgefangenen in freundschaftlichen Verkehr tritt und mehr mit ihnen spricht, als zu Arbeitszwecken unbedingt nötig ist",
mache sich strafbar, verkündete ein durch und durch rassistisches "Merkblatt für das Verhalten der Bevölkerung gegenüber Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern", das 1942 in Vorarlberger Betrieben verteilt wurde.[14] Etliche Vorarlberger Frauen und Männer, die sich ihren anerzogenen Anstand und ihre Menschlichkeit bewahrt und sich geweigert hatten, die eingeforderte Apartheid zu verinnerlichen, wurden zu Haftstrafen verurteilt oder ohne Gerichtsurteile in Konzentrationslager deportiert.[15]
Noch schärfer und gnadenloser verfuhr der staatliche Verfolgungsapparat mit auffällig gewordenen Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeitern. Sie wurden für kleinste Übertretungen der Diskriminierungsgesetze ‑ zum Beispiel wegen eines Kinobesuchs ‑ unverhältnismäßig hart bestraft, um das Zwangssystem aufrecht zu erhalten. Insgesamt etwa 1.500 Personen aus besetzten Gebieten wurden von der Gestapo in Vorarlberg verhaftet und vernommen, dann verwarnt, abgestraft oder deportiert.[16]
Für die Polizei bedeutete die Durchsetzung dieser Repressalien einen immensen Aufwand. Dazu kam, dass die Gestapo Bregenz für die zahlreichen Verhöre kein Übersetzungspersonal für slawische Sprachen zur Verfügung hatte. In dieser "Not" erfuhr die Gestapo vom örtlichen Gendarmen, der King dann und wann als Übersetzungshilfe gerufen hatte, von dem sprachbegabten Maturanten, der sich im Umgang mit jungen OstarbeiterInnen in kürzester Zeit deren Sprachen angeeignet hatte. Auf Kings Sterbebildchen vermerkten die Eltern, er sei "neunsprachiger Dolmetscher" gewesen.
Viele Hörbranzer Bauern hatten als Ersatz für ihre eingerückten Söhne und für ihre dienstverpflichteten Töchter ArbeiterInnen aus Polen, aus der Ukraine und aus Russland zugewiesen bekommen. Mit diesen unterhielt sich King mit Vorliebe, interessierte sich für deren Leben und Sprache. Sein Interesse für Russland hatte vermutlich auch mit den Erfahrungen seines Vaters zu tun, der einer russischen Familie sein Überleben während der Kriegsgefangenschaft verdankt hatte.
Im Innern des Terrorapparats
So kam es, dass Josef Anton King im Jahre 1943 zur Bregenzer Gestapo als halbtags arbeitender Dolmetscher und Briefzensor dienstverpflichtet wurde ‑ zu einer Tätigkeit, die ihm schwerste Gewissenskonflikte bereitete, wie er Angehörigen und Freunden gegenüber öfters formulierte. Während er in seiner offiziellen Funktion immer häufiger an Vernehmungen teilzunehmen hatte, wurde er privat immer vertrauter mit den jungen Menschen aus Osteuropa. Er habe, so wird erzählt, 1943 und 1944 viele Sonntagnachmittage im Ostarbeiterlager der Firma Dornier in Lindau-Rickenbach verbracht. Zugang verschaffte er sich, indem er sich einen so genannten Ostarbeiterstern auf seinen Revers nähte. Es ist anzunehmen, dass King hier die Zuneigung, Wertschätzung und Anerkennung fand, die ihm von den Mitschülern nicht zuteil geworden war. Und nirgends konnte er sich nützlicher einbringen als für diese sonst hilflosen Menschen. Die wichtigsten und am meisten gesuchten Informationen für die Weggesperrten waren Nachrichten von Auslandsendern, die King regelmäßig abhörte. Er verfügte über das spezielle Wissen und die Fertigkeit, die beschränkten Empfangsmöglichkeiten der Volksempfänger zu erweitern.[17]
Offensichtlich waren Kings Eltern keineswegs damit einverstanden, dass ihr Sohn die Sonntagnachmittage im Ostarbeiterlager statt in der kirchlichen Nachmittagsandacht verbrachte, und sie waren in ihrem einfachen und traditionsbestimmten Glauben besorgt um die religiöse Entwicklung ihres einstigen Priesterkandidaten. In seinem ersten Brief[18] nach der Verhaftung - greifen hier der Geschichte etwas vor ‑ versuchte er, diese Ängste seiner besorgten Eltern zu beseitigen:
"Ich bitte Euch, liebe Eltern, macht es so wie ich, findet Euch mit dem, was mir Gott gesandt hat, ab und erträgt es ohne viel Klagen. Ich bin schon ganz in das seelische Gleichgewicht gekommen, und wenn mir manchmal meine Lage schwer erscheint, dann finde ich den besten Trost in dem Gedanken, dass wir Menschen ja alle nicht für diese Welt bestimmt sind, die so wechselvoll und vergänglich ist. Ihr wißt, liebe Eltern und Schwestern, dass ich über diese Dinge nicht viel zu sprechen liebe, denn das behält man am besten im Herzen und macht es mit sich und dem Herrgott aus. Aber jetzt muß ich Euch davon schreiben, damit Ihr um mich nicht in zu großer Sorge seid, und damit gleichzeitig auch Ihr aus diesem Gedanken Trost schöpfen könnt. Ich weiß ja, dass Ihr früher oft geglaubt, ich sei gleichgültig gegen Gott und die heilige Religion geworden, und ich kann mir auch jetzt denken, dass Ihr jetzt meint, ich sei nur durch das Gefängnis zu diesen besinnlichen Gedanken gekommen, aber dem ist nicht so."
Lange Zeit hatte die Gestapo nicht geahnt, dass sie einen politisch Oppositionellen und Freund der diskriminierten FremdarbeiterInnen als Dolmetscher hatte. Doch zu Jahresanfang 1944 wurde ein übergelaufener Ukrainer zu Verhören beigezogen, bei denen King übersetzte. Vielleicht hatte die Tatsache, dass sich die Vernommenen recht geschickt verhalten hatten, Verdacht erweckt. King hat diese Vertrauenskrise aber überstanden und weiterhin die Aussagen der Verhafteten ins Deutsche "verbessert".
Bei seinen Lagerbesuchen ist er ganz offensichtlich auch mit russischen Widerstandgruppen in Verbindung gekommen und hat für diese gearbeitet. In diesem Zusammenhang wurden Flugblätter hergestellt, in denen die aus der Sowjetunion stammenden ArbeiterInnen über die militärische Wende informiert und auch zu Sabotageakten ermutigt wurden. Die in Bregenz in einem Haushalt beschäftigte Ukrainerin Sina Sidorowna legte ein solches Flugblatt, das sie von King erhalten hatte, einem Brief an eine Landsfrau in Bayern bei. Der ungewöhnlich dicke Brief fiel auf, wurde deshalb von der Münchner Zensurstelle geöffnet und die Absenderin kurz darauf in Bregenz verhaftet.
"Ich sollte noch damals sterben. Ich wurde gequält, geschlagen, ich wurde gezwungen zu sprechen das, was ich nicht gemacht habe. Mehrere Male wurden wir vom Bregenzer Kerker nach dem Innsbrucker Kerker geliefert und am Ende nach dem Wiener Kerker und von Wien ins KZ." [19]
"Beseitigung" eines Zeugen
Als die Gestapo schließlich aus der jungen Frau das Geständnis herausgefoltert hatte, wer ihr dieses Flugblatt übergeben hatte, wurde King am 6. Juni 1944 in seinem Elternhaus in Hörbranz verhaftet. Er hatte an diesem Dienstagmorgen mit anderen Bauern sein Jungvieh auf die Alpe Hochberg gebracht und war beim Rückweg von einem ihm entgegeneilenden Nachbarn gewarnt worden, dass zu Hause Gestapoleute auf ihn warteten. King aber schlug die Warnung aus, weil er annahm, dass ein dringender Dolmetscheinsatz anstand. Doch diesmal war er es, der verhaftet und verhört wurde.
Aus der Gestapohaft in Bregenz wurde King nach Lindau überstellt, wo er mit einem Sprung in den See einen dramatischen, aber erfolglosen Fluchtversuch unternahm. Er wusste zu genau, welche Torturen ihm nun bevorstanden. Andere Gefangene müssen davon erfahren haben, auch Sina Sidorowna. Jedenfalls blieb ihr in Erinnerung, dass King in einem "Gefängnis auf dem Wasser" inhaftiert gewesen sei.[20] Sein Transfer nach Lindau könnte mit seinen Besuchen im Ostarbeiterlager der Firma Dornier zu tun gehabt haben. Von Lindau wurde King am 22. Juni 1944 in die Gestapozentrale Innsbruck verbracht. In den monatlichen Briefen, die er von hier aus an seine Familie schicken durfte, hat er nicht nur aufmunternde und tröstliche Worte verschickt, sondern auch Vorschläge für die Steuererklärungen, für die Milchabrechnung und für andere betriebliche Notwendigkeiten gemacht. Zweimal wurde der Vater zu Kurzbesuchen vorgelassen. Innsbrucker Rechtsanwälte, die er für seinen Sohn engagieren wollte, wurden mit dem Argument, Josef King werde nicht in Gerichtshaft, sondern "nur zur Verfügung der Gestapo angehalten", abgewiesen.[21]
Am 19. Jänner 1945 hatte die Gestapo ihre Erhebungen offensichtlich abgeschlossen und ließ den jungen Hörbranzer mit drei weiteren Häftlingen ins Konzentrationslager Mauthausen deportieren. [22] Nach dem demütigenden und schikanösen Eingangsritual, bestehend aus nacktem Strammstehen auf dem berüchtigten Appellplatz, Ganzkörperrasur, Desinfektion und Eintätowierung der Häftlingsnummer 116189, wurde er für die nächsten drei Monate im Block 9 einquartiert. An dieser Österreicher-Baracke war - wie an einigen anderen auch ‑ auf der Außenwand eine Tafel angebracht, deren Aufschrift jene Tugenden, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts besonders kultiviert worden waren, der Nationalsozialismus aber in zynischer Weise pervertierte: "Es gibt einen Weg in die Freiheit. Seine Meilensteine heißen Gehorsam, Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Ehrlichkeit, Opfermut und Liebe zum Vaterland."
Am 18. April 1945 wurde Josef Anton King mit "unbekanntem Bestimmungsort" verlegt.[23]
"Das bedeutet einwandfrei, dass King an diesem Tag von der Baracke 9 in den Lagerarrest überstellt und offenbar über Auftrag der einweisenden Gestapostelle entweder in der Gaskammer erstickt oder im Arrest erschossen wurde."[24]
Damit gehörte King zu einer Gruppe von 300 bis 400 österreichischen Häftlingen, die angesichts der näher rückenden Alliierten über Auftrag der Gestapo liquidiert wurden, da sie entweder als "aufbauwillige Kräfte oder Geheimnisträger"[25] galten. Zweifellos hätte King einiges über die Praktiken der Gestapo und der SS nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft zu berichten gewusst.
Auch nach der Befreiung im Mai 1945 war es den hoffenden Eltern nicht möglich, Auskunft über das Schicksal ihres Sohnes zu erhalten. Denn sein Tod war weder in den Lagerakten noch im Standesamt von Mauthausen verzeichnet. So begab sich der Vater unter schwierigsten Umständen im Sommer 1945 persönlich nach Mauthausen. Dort erfuhr er vom amerikanischen Lagerkommandanten David L. Simpson, dass "der politische Häftling Josef Anton King" am 24. April 1945, also wenige Tage vor dem Eintreffen der Befreier, hingerichtet und seine Leiche verbrannt worden sei.[26]
Der sinnlose Mord an Josef Anton King, der nie untersucht, geschweige denn gesühnt wurde, bestätigt wieder und eindrücklich die blindwütige "Pflichterfüllung" der SS-Männer bis zum äußersten Ende der NS-Herrschaft. Auch - oder gerade ‑ angesichts der bevorstehenden Niederlage kannten sie keine Gnade. King hatte der Barbarei tätige Menschlichkeit entgegenzusetzen versucht ‑ das war nach dem Verständnis der nationalsozialistischen Staatsterroristen ein Verbrechen, ein besonderes noch dazu, weil er seine Sprachbegabung und seine Zuwendung den Hilflosesten, den als Arbeitssklaven Gehaltenen und Diskriminierten angedeihen ließ.
Josef Anton King hat das Risiko seines Engagements gekannt und ist es eingegangen, hat christliche, menschliche Tugenden gelebt, wo andere weggeschaut haben. Darin besteht ganz wesentlich der aktuelle Wert der Erinnerung an diesen beredten und doch so stillen Helden. Spät, aber doch noch ‑ 1982 ‑ erinnerte sich der demokratische Nachkriegsstaat des mutigen Maturanten, mit der posthumen Verleihung des "Ehrenzeichens für die Verdienste um die Befreiung Österreichs". Die Heimatgemeinde konnte sich nach zahlreichen Interventionen schließlich im Jahre 1988 zur Errichtung eines Gedenksteins durchringen. Wie andernorts auch, brauchte man in Hörbranz viel Zeit, um eine Haltung für den Umgang mit dem Widerstand und mit dessen Opfern zu gewinnen
Insgesamt sind es nur zwei kleine unscharfe Bilder, die von Josef Anton King geblieben sind: das Sterbebild und dieses hier aus dem Jahr 1941 in der "Geschichte des Bregenzer Gymnasiums" (1950). Die familiengeschichtliche Hinterlassenschaft der Kings wurde vom öffentlichen Erben offensichtlich ebenso entsorgt, wie das auch die Nachkriegsgesellschaft weitgehend mit der Erinnerung an die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus getan hat.
[3] Zitiert nach Helmut Tschol: Josef Anton King. In: Paulinum unterwegs, Heft 24 (Juli 1977), S. 4. Tschols Artikel ist außerdem abgedruckt in: Kontakt, Pfarrgemeinde St. Martin Hörbranz, Nr. 11 + 12/1977.
[4] Anton Vonach: Das Bregenzer Gymnasium. Werdegang und Entwicklung 1895-1949. Bregenz 1950, S. 192
[7] Josef King! Rede anlässlich der Beerdigungsfeier in der Pfarrkirche Hörbranz am 12.8.1945, Manuskript ohne Angabe eines Autors; Helmut Tschol: Josef Anton King – KZ-Opfer aus Hörbranz. In: Hörbranz aktiv, Heft 65/1988, S. 44-51, hier S. 50, nimmt an, dass ein Professor aus dem Paulinum (Alois Meusburger oder Josef Plangger) diese „Worte des Gedenkens“ gesprochen habe.
[11] Diese wie weitere biographische Angaben stammen von Kings Nachbarin Christine Rupp (+), Interview Hörbranz, 28.3.1982.
[13] Vgl. Hermann Brändle/Kurt Greussing: Fremdarbeiter und Kriegsgefangene. In: Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945. Bregenz 1985, S. 161-185, hier S. 161
[15] Siehe Brändle/Greussing (Anm. 13), S. 175-179, sowie Meinrad Pichler: Humanitäre Hilfe. In: Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945. Bregenz 1985, S. 186-194
[16] Vgl. Margarethe Ruff: Um ihre Jugend betrogen. Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945. Bregenz 1997, S. 12
[18] Brief von Josef Anton King an seine Eltern, Lindau, 11.6.1944; teilweise wiedergegeben im Nachruf (Anm. 7)
[19] Brief von Wassiljewa Sinaida Sidorowna (28.9.1994) an ihre ehemalige Bregenzer Familie; Kopie im Besitz des Verfassers