Harald Walser (2012): Lokaler Bezug und überregionale Vernetzung. Die Johann-August-Malin-Gesellschaft als regionale Historikerinitiative
Erschienen in: Hans Mikosch / Anja Oberkofler (Hrsg.): Gegen üble Tradition, für revolutionär Neues. Festschrift für Gerhard Oberkofler. Innsbruck: Studien-Verlag 2012, S. 199–205
Blickt man auf die „alternativen“ Kulturinitiativen im Vorarlberg der 1970er und 1980er Jahre zurück, so wird deutlich, dass diese Initiativen von lokalen Akteurinnen und Akteuren getragen wurden, die als Angehörige freier Berufe, als Kleinunternehmer/innen, höhere Angestellte und vor allem als Lehrerinnen und Lehrer in der lokalen Gesellschaft sozial gut verwurzelt waren. Vor allem durch die Expansion des Bildungswesens ab den 1970er Jahren und die wachsende Zahl der Lehrkräfte sowie der Schülerinnen und Schüler an Höheren Schulen ist damals offenbar eine kritische Masse entstanden, die in der Lage war, sich dem konservativen Mainstream zu widersetzen und im Konflikt mit der herrschenden Politik neue Vorstellungen kultureller Arbeit und politischer Aufklärung in die Öffentlichkeit zu bringen.
Das Wachstum dieser kritischen Masse lässt sich gut an den Schulstatistiken zu jener Zeit ablesen. So wuchs von 1970/71 bis 1990/91 die Zahl allein der AHS-Pädagog/inn/en im Fünfjahresrhythmus um jeweils rund einhundert, und zwar von 257 auf 649. Die Zahl der AHS- und BHS-Schüler/innen stieg in diesem Zeitraum um 70 % – von 5.888 auf 10.105. [1] Entsprechend wuchs auch die Zahl der Vorarlberger Studierenden außerhalb des Bundeslandes, da Vorarlberg über keine eigenen universitären Einrichtungen verfügte und lediglich ab 1981 das Studienzentrum Bregenz als Anbieter von Fernstudien fungierte. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit, das Land zu Studienzwecken zu verlassen, schuf für Studierende Freiräume einer politischen Sozialisation in städtischer Umgebung, die im Lande selbst nicht gegeben gewesen wären. Viele derer, die als Akademikerinnen und Akademiker zurückkehrten, waren deshalb wichtige Betreiber der alternativen Kulturbewegung.
„Junge Historiker“: Gegen das herrschende Geschichtsbild
Geschichts- und gesellschaftswissenschaftlich Interessierte begannen ab den 1980er Jahren, die massive Vormacht konservativer Landeshistoriker anzugreifen. Bis dahin hatte sich mit ganz wenigen Ausnahmen ein Konsens dahingehend gebildet, dass Vorarlberg als „alemannischer Volkskörper“ seit urdenklichen Zeiten eine eigene politische und kulturelle Einheit bilde und dass seine demokratische Verfassung stets erfolgreich gegen Eindringlinge oder Zugriffe von außen verteidigt worden sei. Dieses Geschichtsbild war im wesentlichen eine Fortsetzung von volkscharakterologischen Vorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die durch die ideologische Verarbeitung der nationalsozialistischen Herrschaft im Lande nach 1945 in besonderer Weise geformt worden waren. Denn nun ging es um die Legitimierung der Einbeziehung der früheren nationalsozialistischen Eliten in die Landespolitik, in die Verwaltung und in das elitäre Kulturgeschehen. Dies wurde dadurch bewältigt, dass die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft – wie das Euthanasieprogramm oder die massive Verfolgung bis hin zur Hinrichtung von Widerständler/inne/n und Regimegegnern – entweder verschwiegen oder „fremden Kräften“, also nicht-landesstämmigen Nationalsozialisten, zugeschrieben wurden.
Dieses Geschichtsbild wurde ganz gezielt von der Vorarlberger Landesregierung durch den damaligen Landesamtsdirektor Dr. Elmar Grabherr und in weiterer Folge vor allem durch die Verfasser von Ortsgeschichten und Jungbürgerbüchern gefördert. Dr. Elmar Grabherr hatte über das politische Interesse hinaus ein durchaus persönliches für seine Sicht auf die Landesgeschichte. Er war während des Zweiten Weltkrieges als NSDAP-Mitglied Mitarbeiter im Stab des Gauleiters Franz Hofer in Innsbruck und Bozen gewesen, hatte nach dem Krieg als Leiter des Präsidiums im Amt der Vorarlberger Landesregierung rasch eine Vertrauensposition in der Landesverwaltung erhalten, in der er sich faktisch selbst „entnazifizieren“ konnte, und war dann in den Rang des Landesamtsdirektors aufgestiegen, dem unter anderem auch die Schulung des Beamtennachwuchses oblag. Inzwischen liegt zu seinem Wirken einschließlich seines Geschichtsbildes und seiner Geschichtspolitik eine ausführliche Darstellung vor. [2]
Die von der medialen Öffentlichkeit bald so bezeichneten „jungen Historiker“ traten als Gruppe erstmals 1982 in Erscheinung. Sie gründeten die Johann-August-Malin-Gesellschaft – so benannt nach einem 1942 wegen "Wehrkraftzersetzung, Vorbereitung zum Hochverrat und Verbreitung von Lügennachrichten ausländischer Sender" hingerichteten Vorarlberger Widerstandskämpfer – und veröffentlichten im selben Jahr einen Sammelband (in dem nicht nur Mitglieder der Gesellschaft vertreten waren) mit dem Titel „Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte“. [3]
Diese „Nachträge“ schlugen ziemlich hohe Wellen. Denn sie nahmen zum ersten Mal nach 1945 gebündelt und übersichtlich Themen der Landesgeschichte auf, die bis dahin tunlichst ignoriert worden waren: die Unterdrückung aufklärerischer Gesellschafts- und Politikkonzepte durch die katholisch-konservative Partei ab den 1870er Jahren, den christlichen Antisemitismus jener Zeit bis zur Jahrhundertwende, die autoritäre Politik der Konservativen, auch unter dem Einfluss der bayerischen Rechten, nach dem Ersten Weltkrieg, Vorarlberger Industrielle als Förderer der NSDAP 1933−1934, die Vorarlberger Sozialdemokraten und Kommunisten von 1934 bis 1938 und schließlich Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945, die einen kritischen Umgang mit den Auswirkungen nationalsozialistischer Herrschaft für überflüssig erachtete beziehungsweise kritische Stimmen schlichtweg zensurierte. Das Buch erlebte bald über die ersten 1000 Exemplare hinaus eine ebenfalls rasch verkaufte zweite Auflage – für ein Geschichtsbuch in diesem kleinen Land ein ganz ungewöhnlicher Erfolg.
Stimmen, die vor einem Umschreiben der Landesgeschichte „von links“ warnten, blieben denn nicht aus. An vorderster Front stand – neben dem damaligen Chefredakteur der „Vorarlberger Nachrichten“ Franz Ortner – der Feldkircher Rechtsanwalt und „Volksgruppentheoretiker“ Dr. Theodor Veiter. Auch er hatte, wie Elmar Grabherr, eine Position zu verteidigen. Als jemand, der dem Ständestaat gedient und gleichzeitig sich um Aufnahme in die NSDAP bemüht hatte, galt es für ihn nach 1945, seine Leistungen im „Widerstand“ hervorzukehren und sich alter Netzwerke der NS-nahen „deutschen Katholiken“ zu bedienen. Als „Volksgruppenwissenschaftler“ war er ebenfalls ein heftiger Verfechter eines alemannistischen Vorarlberg-Geschichtsbildes, und als solcher ein eifriger Gegner jener „jungen Historiker“, die dieses Geschichtsbild „von links“ zerstören wollten. Veiters schillernde Karriere wurde von der Malin-Gesellschaft bald in einer Schrift gewürdigt (November 1983) [4] , die zur Folge hatte, dass er sich zumindest mit öffentlichen und persönlichen Angriffen auf den kritischen Vorarlberger Historikernachwuchs zurückhielt.
Malin-Gesellschaft: eine Zwischenbilanz
Auch wenn sich die Gesellschaft als „historischer Verein für Vorarlberg“ bezeichnet, war und ist ihr Wirken nicht nur auf die Regionalgeschichte gerichtet. In diesem Bereich hat sie zwar in den rund dreißig Jahren ihres Bestehens über 40 Publikationen entweder selbst herausgebracht oder zu ihrem Entstehen maßgeblich beigetragen. [5] Sie ist aber auch eine stets vernehmbare Stimme in der öffentlichen Auseinandersetzung über den Austrofaschismus und vor allem den Nationalsozialismus geblieben. Denn die J.-A.-Malingesellschaft bestand und besteht nicht nur aus aktiven Historikern, sondern auch aus rund 200 sonstigen Mitgliedern, die selbst wiederum zu einem großen Teil in anderen politischen und kulturellen Zusammenhängen engagiert sind und zur Bildung einer kritischen öffentlichen Meinung beitragen.
Auf diese Weise ist die Malin-Gesellschaft Teil einer breiteren „alternativen“ Strömung in der Politik und Kultur Vorarlbergs. Auskunft über die Positionen, die in öffentlichen Debatten immer wieder bezogen werden, gibt zumindest für die Jahre ab 2000 die Website der Gesellschaft (www.malingesellschaft.at).
Die J.-A.-Malin-Gesellschaft funktioniert seit ihrem Anfang ohne personelle Infrastruktur, ohne Sekretariat und ohne Grundsubvention. Die einzigen regelmäßigen Einkünfte sind die aus Mitgliedsbeiträgen. Dennoch ist es der Gesellschaft in den ersten zwanzig Jahren des Bestehens, also bis ungefähr 2000, gelungen, den publizistischen Output eines sehr aktiven Kleinverlages zu leisten. Möglich war das durch einen intensiven persönlichen Einsatz von Autor/inn/en, Lektoren, Producern und zum Teil Grafikern, der in der Regel nicht vorweg entlohnt wurde, sondern mit dem Risiko des wirtschaftlichen Ertrags aus dem Buchverkauf erfolgte. Es handelt sich hier in einem gewissen Sinn um ein Genossenschaftsmodell auf der Basis von Risikobeteiligungen.
Von Seiten der Vorarlberger Landesregierung und anderer öffentlicher Hände – ursprünglich vor allem jener des Bundes – gab es zwar fast immer Druckkostenzuschüsse, doch waren diese besonders landesseitig so knapp gehalten, dass sie quasi zum (verlegerischen) Leben zu wenig und zum Sterben zu viel waren. Allerdings hatte diese zwar nicht ganz unfreundliche, aber wenig generöse Haltung der Landesregierung eine äußerst positive, wenn auch von den Gebern unbeabsichtigte Konsequenz: Die Malin-Gesellschaft musste einen erheblichen Teil der Produktionskosten der Bücher aus deren Verkauf erwirtschaften und war dadurch gezwungen, öffentliche Veranstaltungen mit Verkäufen zu organisieren und ein gutes Belieferungsnetz für die Buchhandlungen in den Städten und größeren Orten des Landes aufzubauen. Die Bücher der Malin-Gesellschaft sind deshalb weit über die bei landesgeschichtlicher Literatur üblichen Auflagen von 300 bis 500 Stück hinausgekommen und haben größere Verbreitung gefunden.
Im Rückblick handelte es sich also bei der fehlenden öffentlichen Ausfinanzierung der Bücher um einen unbeabsichtigten Segen. Denn während in anderen Fällen die Bände so mancher vollsubventionierten Reihe maximal in Fachbibliotheken zu finden sind und im übrigen in Kellern verstauben, haben die Publikationen der Malin-Gesellschaft schon aus ökonomischen Zwängen den Weg zu einer breiteren Öffentlichkeit gefunden.
Regionale Arbeit – überregionale Ressourcen
Die alternative Kulturbewegung Vorarlbergs hat ihre Akteure zwar durchweg aus „einheimischem“, also aus dem Land selbst stammendem Personal rekrutiert, doch war sie in den Anfangsjahren finanziell auch auf Ressourcen von außen angewiesen. Sie konnte sich nämlich in den 1970er und 1980er Jahren das Spannungsverhältnis zwischen „rotem“ Bund und „schwarzem“ Land zunutze machen. Auf diese Weise ließen sich Zuschüsse von Bundesministerien oder des Kanzleramtes für Projekte und Veranstaltungen mobilisieren, an deren Förderung die Landesregierung keineswegs interessiert war, wo sie dann aber mitzog, um dem „roten“ Bund nicht allein das (Geber-)Feld und die gute öffentliche Nachrede zu hinterlassen. Das war der Fall bei den „Randspielen“ in Bregenz (1972−1977), bei den „Wäldertagen“ im Bregenzerwald (1973 −1979) oder beim „Spielboden“ in Dornbirn. [6]
Eine wesentliche – und bis heute in der rückblickenden Betrachtung oft nur wenig gewürdigte – Rolle spielte hier der Unterrichtsminister Fred Sinowatz (mit seinem Berater Fritz Herrmann, der von 1972 bis 1977 die Politik der Unterstützung der „Alternativkultur“ theoretisch vertrat und aktiv betrieb). Genauso lief es mit den Büchern der Malin-Gesellschaft: Die Zusage einer Unterstützung durch Bundesinstitutionen hat – zumindest in den 1980er Jahren – die Gebefreudigkeit des Landes gefördert oder diese überhaupt erst ausgelöst. Auch wenn der finanzielle Aspekt der Publikationstätigkeit der Malin-Gesellschaft nicht überbewertet werden soll – unterschätzen darf man ihn auch nicht.
Doch mindestens ebenso wichtig wie die finanziellen Ressourcen, die von „außen“ kamen, waren die intellektuellen. Hier sind zwei Quellen zu nennen: das Institut für Geschichtswissenschaften der Universität Innsbruck und der Kontakt mit Regionalhistorikern des deutschen und Schweizer Bodenseeraums. Mit letzteren hatte sich ein intensiver Kontakt entwickelt – unter anderem durch den vom sozialdemokratischen Bürgermeister Fritz Mayer im Juni 1981 initiierten „Historischen Arbeitskreis der Landeshauptstadt Bregenz“, dessen Arbeit dann 1984 in die große Ausstellung „Im Prinzip: Hoffnung. Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870−1946“ mündete. [7] Diese bodenseeweiten Kontakte schärften das Verständnis für Aufgaben und Methoden der Regionalgeschichte. Vor allem Gert Zang ist hier zu erwähnen, aber auch Werner Trapp, Detlef Stender, Margarete Lorinser und nicht zuletzt Elmar L. Kuhn, der den Dreiländer-Raum der Bodenseeregion – aus sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive – grenzüberschreitend als industrialisierungsgeschichtliches Ganzes vorgestellt hat. [8]
Ein weiteres Mitglied dieses Arbeitskreises reiste regelmäßig aus Innsbruck an – es war der damalige Universitätsdozent und Wissenschaftliche Rat Dr. Gerhard Oberkofler. Damit kommen wir zu einer weiteren „externen“ intellektuellen Ressource der damals neuen Historiker-Bewegung: die Universität Innsbruck, und dabei in besonderem Maße Gerhard Oberkofler. Eine Reihe für die Malin-Gesellschaft und die kritische Vorarlberger Geschichtsschreibung wesentlicher Arbeiten ist unter seiner Obhut und Anleitung entstanden: „Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg 1933−1938“ aus der Feder des Autors dieses Beitrags zum Beispiel oder Werner Bundschuhs Dissertation „Heimatgeschichte als Ideologie“ am Beispiel des NS-Schrifttums über Dornbirn. Immer wieder war es Gerhard Oberkofler, der Studierenden die Möglichkeit einer kritischen Befassung mit neuer regionaler Geschichte und deren Thematisierung für akademische Abschlüsse eröffnete.
Wissenschaftspolitisch und aus regionalgeschichtlicher Perspektive gesehen war das durchaus folgenreich. Denn Themen, deren Behandlung von der konservativen akademischen Elite des Landes ausgeblendet wurde und von der konservativen politischen Elite nicht gewünscht war, kamen nun im akademischen Normalbetrieb an – und konnten nicht mehr als Außenseiterpositionen abgetan werden. Gerhard Oberkofler selbst hat sich im Hinblick auf Vorarlberg unter anderem mit der frühen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts bis zur formellen Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für Tirol und Vorarlberg im Jahre 1890 beschäftigt, und er hat ein für die Schul- und Bildungsgeschichte des Landes bis heute unverzichtbares Buch geschrieben: „Vorarlbergs Weg zur modernen Schule“ (Dornbirn 1969).
Für den Beitrag, den die Historiker der Johann-August-Malin-Gesellschaft zur Veränderung der geschichtswissenschaftlichen Diskussion und zur kritischen „Dekonstruktion“ des lange herrschenden Vorarlberg-Geschichtsbildes geleistet haben, war es also entscheidend, dass nicht nur regionale intellektuelle Ressourcen, sondern immer auch solche außerhalb des Landes genutzt werden konnten. Das hatte und hat Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Standards, denen sich die Forschenden und Publizierenden verpflichtet fühlen: Sie müssen sich in jedem Fall an dem, was überregional für ernsthafte akademische Arbeit gefordert ist, messen lassen. Bei methodischer und darstellerischer Qualität gibt es für kritische Regionalgeschichtsschreibung keinen Rabatt. Nur so kann sie im öffentlichen Diskurs bestehen und ihre Ergebnisse zur Geltung bringen. Diesem Prinzip hat Gerhard Oberkofler als akademischer Lehrer mit seinem unnachsichtigen Bestehen auf klarer Organisierung des Stoffes und auf minutiöser Quellenarbeit zur Geltung verholfen.
Ergebnisse und Herausforderungen
Was also sind die Ergebnisse einer fast dreißigjährigen regionalgeschichtlichen Arbeit? Es liegen Bücher und Aufsätze zu allen wesentlichen Themen vor, die für eine kritische Befassung mit der Geschichte Vorarlbergs im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich sind: die Formierung des katholisch-konservativen, gegenaufklärerischen Lagers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre; der christliche Antisemitismus von den 1870er Jahren bis in die Erste Republik; die Entstehung der Arbeiterbewegung; die sozialen und politischen Auseinandersetzungen in der Ersten Republik und die Rolle von Landespolitikern, u. a. des ehemaligen Landeshauptmanns Dr. Otto Ender, im Austrofaschismus; die Entstehung und Durchsetzung der NSDAP und die Wirtschaftspolitik des NS-Systems; Widerstand und Verfolgung, zumal auch „Euthanasie“, im Nationalsozialismus; Nachgeschichte und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Vorarlberg in den Jahrzehnten nach dem Krieg; die Schaffung des „alemannistischen“ Geschichtsbildes im neunzehnten Jahrhundert und seine Anpassung an oft abrupt sich wandelnde politische Interessen im zwanzigsten (www.malingesellschaft.at/publikationen und www.malingesellschaft.at/texte).
Und immer wieder gab und gibt es aktuelle Interventionen von Mitgliedern der Gesellschaft in öffentlichen Auseinandersetzungen – zu antisemitischen Äußerungen von Politikern, über den Nationalsozialismus verharmlosende Leser/innen/briefe, bis zur Frage der Neugestaltung des Vorarlberger Landesmuseums. Über all das gibt die Website der Gesellschaft Auskunft.
Parallel zu den Aktivitäten der Malin-Gesellschaft, und oft in Kooperation mit ihr, hat ab den 1990er Jahren ein kritischer Zugang zu Regionalgeschichte insgesamt eine breite Basis gewonnen. Das hat in hohem Maße mit dem 1991 gegründeten Jüdischen Museum in Hohenems zu tun, aber auch mit weiteren lokalen Museen wie dem Heimatmuseum Montafon in Schruns, dem Textildruckmuseum in Hard, dem Klostertalmuseum in Wald am Arlberg oder den Aktivitäten des Frauenmuseums in Hittisau im Bregenzerwald. Dazu kommen die Leistungen jüngerer und älterer Forscher, in besonderem Maße die des Leiters des Vorarlberger Landesarchivs Univ.-Prof. Dr. Alois Niederstätter und die seiner Kollegen, zum Beispiel Dr. Manfred Tschaikners.
Eine Frage freilich bleibt: Wie wirkt sich das offenere Geschichtsbild vieler Historiker/innen, die politische Vorgaben und hergebrachte Annahmen nicht mehr unkritisch akzeptieren, auf die öffentliche Meinung aus? Der Alemannismus – also die Vorstellung, die Vorarlberg/innen bildeten seit jeher einen „Volkskörper“ mit ganz bestimmten, überwiegend positiven Eigenschaften – ist auch in der Öffentlichkeit weitestgehend passé. Doch neue Trennlinien zwischen „uns“ und „den anderen“ sind längst im Entstehen: gegenüber Zuwanderern, „Nicht-Europäern“ (sofern nicht-christlich), „Wirtschaftsflüchtlingen“ usw. Dass sich die Regionalgeschichtsschreibung dieser Themen annimmt, ist zu erwarten. Dass sie das weiterhin mit kritischer Distanz zu politischen Vorgaben und zum „Mainstream“ der öffentlichen Meinung tut, bleibt zu hoffen.
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[1] Zahlen bei Karl Schall: Feuersteine. Jugendprotest und kultureller Aufbruch in Vorarlberg nach 1970. Bregenz: Vorarlberger Autoren Gesellschaft 2007, S. 9
[2] Leo Haffner: Ein besessener Vorarlberger. Elmar Grabherr und die Ablehnung der Aufklärung. Hohenems: Bucher Verlag 2009, u. a. S. 45-53; siehe auch www.malingesellschaft.at/texte/politische-kultur-1
[3] Meinrad Pichler (Hg.): Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Bregenz: Fink’s Verlag 1982 (2. Aufl. 1983)
[4] Siehe Sperrung – Mitteilungen der Johann-August-Malin-Gesellschaft, Nr. 2, November 1983 („Der Umschreiber“) – www.malingesellschaft.at/publikationen/vorarlberger-autorengesellschaft-j.-a.-malin-gesellschaft-1/weitere-titel/. Inzwischen sind Veiters Laufbahn und das Bild, das er nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1994 von sich selber zeichnete, einer detaillierten Analyse unterzogen worden – siehe Brigitte Behal: Kontinuitäten und Diskontinuitäten deutsch-nationaler katholischer Eliten im Zeitraum 1930 -1965. Ihr Weg und Wandel in diesen Jahren am Beispiel Dr. Anton Böhms, Dr. Theodor Veiters und ihrer katholischen und politischen Netzwerke. Diss. Universität Wien, 2009 – www.malingesellschaft.at/texte/politische-kultur-1/
[5] Siehe www. malingesellschaft.at/publikationen
[6] Siehe hierzu Karl Schall: Feuersteine … (wie Fn. 1)
[7] Hierzu Kurt Greussing (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung. Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870-1946, Bregenz: Fink’s Verlag 1984; siehe auch www.malingesellschaft.at/archiv/ausstellungen
[8] Siehe hierzu: Gert Zang: Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen und praktischen Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte. Konstanz 1985 (Eigenverlag des Arbeitskreises für Regionalgeschichte e.V.); Dieter Schott / Werner Trapp (Hg.): Seegründe. Beiträge zur Geschichte des Bodenseeraumes. Weingarten: Drumlin-Verlag 1984; hierin Elmar L. Kuhn: Industrialisierung am See, S. 167-209; Detlef Stender (Hg.): Industrialisierung am Bodensee. Ein Führer zu Bauten des 19. und 20. Jahrhunderts. Konstanz: Verlag Stadler 1992