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Markus Barnay (1989): "Echte Vorarlberger" und "fremde Bettler". Bildung von Landesbewußtsein und Ausgrenzung von Zuwanderern in Vorarlberg im 19. und 20. Jahrhundert

Industrialisierung und Zuwanderung sind siamesische Zwillinge: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Gleichzeitig wurden von den alteingesessenen politischen Eliten immer auch Strategien zur Ausgrenzung dieser Zuwanderer entwickelt. Doch "Fremdsein" ist nichts Natürliches. Fremde und Einheimische haben eines gemeinsam: Sie werden nicht vorgefunden, sondern erfunden.

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Markus Barnay

„Echte Vorarlberger“ und „fremde Bettler“

Bildung von Landesbewußtsein und Ausgrenzung von Zuwanderern in Vorarlberg im 19. und 20. Jahrhundert

 

Zuerst erschienen in: Die Roten am Land. Arbeitsleben und Arbeiterbewegung im westlichen Österreich, hgg. von Kurt Greussing, Steyr: Museum Industrielle Arbeitswelt 1989, S. 133-137

 

Das Land Vorarlberg zählt seit mehr als hundert Jahren – neben Wien – zu den höchstindustrialisierten Regionen Österreichs. In dieser Zeit wurde Vorarlberg zugleich zu einem klassischen Zielland der Arbeitseinwanderung. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stellen die Zuwanderer aus anderen österreichischen Regionen wie auch aus anderen Staaten ständig einen Anteil von etwa 10 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Angesichts dieser Verhältnisse erstaunt die traditionelle Schwäche der sozialistischen Arbeiterbewegung und die Dominanz der christlichen, die sich beispielsweise in einer absoluten Mehrheit des ÖAAB in der Vorarlberger Arbeiterkammer seit 1974, aber auch im geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad – 30 Prozent gegenüber 60 Prozent im österreichischen Durchschnitt -äußert. Auch die Ergebnisse der Landtagswahlen – hier erzielten die Katholisch-Konservativen beziehungsweise Christlichsozialen seit 1870 durchgehend die absolute Mehrheit der Stimmen und Mandate – entsprechen nicht unbedingt den Erwartungen hinsichtlich der politischen Struktur eines Landes, das einen Beschäftigungsanteil zwischen 46 Prozent (1910) und 56 Prozent (1980) in Industrie und Gewerbe aufweist.1

Einer der Gründe für diese Entwicklung ist sicher die besondere Form der Industrialisierung Vorarlbergs: Von Anfang an dominierte hier die Textilindustrie, die sich in ihrer Standortwahl zu allererst am Zugang zur Wasserkraft orientierte. Das führte zu einer über die beiden Haupttäler Walgau und Rheintal verstreuten Ansiedlung der Fabriken. Dadurch entstanden keine industriellen Ballungszentren, wenngleich einige Gemeinden wie Rieden, Hard, Kennelbach, Dornbirn, Feldkirch, Bürs und Bludenz einen besonders hohen Industrialisierungsgrad aufwiesen. Dabei erhielt sich in Vorarlberg relativ lang eine Form der Doppel-Beschäftigung, bei der sich Fabriksarbeiter zugleich auf eigenem landwirtschaftlichen Grund als Nebenerwerbslandwirte betätigten. Die Folge: Der Proletarisierungsgrad blieb relativ gering; die soziale Kontrolle und Einbindung in der dörflichen Umgebung blieb trotz der Industrialisierung aufrecht.

Ebenso wichtig wie die sozialen Verhältnisse sind die politischen Strukturen in Vorarlberg gewesen: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konnte sich hier der Klerus als starke politische Kraft etablieren, die vor allem auch im ideologischen Bereich wirksam wurde. So bildete sich parallel zur Industrialisierung ein ethnisch-regionales Bewußtsein in Form eines „alemannischen" Landesbewußtseins heraus, das maßgeblich von den Interessen der herrschenden Elite bestimmt wurde.

Eines der wesentlichen Merkmale dieses Landesbewußtseins ist die Abgrenzung sowohl gegen die österreichische Bevölkerung östlich des Arlbergs als auch gegen Zuwanderer-Minderheiten im Lande selbst.

 

Die Tradition der Ausgrenzung

 

Ausgrenzungsversuche unter ethnisch-regionalen oder religiösen Vorzeichen gab es freilich nicht erst mit dem Beginn der Arbeitszuwanderung, sondern schon lange vorher. So ist in Vorarlberg eine jahrhundertealte Tradition des Antisemitismus festzustellen. Er wurde insbesondere von den vorarlbergischen Landständen – jenen Stadt- und Dorf oberen, die die Gerichtsbarkeit und andere öffentliche Funktionen innehatten – geschürt und aufrechterhalten: Die jüdischen Bürger galten in ihren Augen als Fremde, deren Vertreibung aus dem Land eines der kontinuierlichsten Ziele der landständischen Politik war.2

Wer sich zur angestammten Bevölkerung des Landes zählen darf und wer nicht, war auch Gegenstand der öffentlichen Diskussion in den Jahren 1848/49. Einige Liberale hatten nach dem März-Aufstand in Wien eine neue Wahlordnung für Vorarlberg gefordert und ihren Aufruf mit „mehrere patriotische Unterländer" unterzeichnet.3 Die Antwort folgte prompt:

„Die sich so nennenden Patrioten leben zwar im Unterlande, gehören aber nicht Alle nach Geburt, Keiner der Gesinnung nach unserem Lande an", stellten „einige Vorarlberger" in der folgenden Ausgabe des „Bregenzer Wochenblattes" fest.4

Mit einem Appell an die „Herzen der Vaterlandsfreunde" wurde 1861 auch die konservative Bewegung gegen die Liberalen gestartet. Letzteren war es nach der Einrichtung eines eigenen Landtages für Vorarlberg dank des Zensus-Wahlrechtes gelungen, die politische Macht im Lande zu übernehmen. Die liberale Elite der Fabrikanten und Intellektuellen war weitgehend identisch mit den Gründern der evangelischen Gemeinde, die nach dem Erlaß des Protestantenpatentes im Jahr 1861 errichtet werden konnte. Genau gegen diese Gründung und gegen das Protestantenpatent allgemein richtete sich eine Plakat- und Unterschriftenaktion des späteren Landtagsabgeordneten Josef Anton Ölz, der forderte,

„daß dem Lande Vorarlberg die Glaubenseinheit erhalten werde und die Protestanten von der Ansäßigmachung ausgeschlossen bleiben."5

Richtete sich diese Initiative zumindest vordergründig noch gegen Andersgläubige, so standen bald darauf Andersdenkende im Mittelpunkt der katholisch-konservativen Agitation, wobei das Verhältnis der politischen Gegner zur katholischen Religion stets in die Propaganda miteinbezogen wurde: Der Bauer und Dichter Franz Michael Felder beispielsweise, wegen seiner sozialreformerischen Ideen ein Dorn im Auge der Mächtigen, wurde als „Freimaurer" denunziert,6 den Liberalen wurde entweder „Gottlosigkeit" oder die Zusammenarbeit mit Juden angelastet.7

Im Vordergrund der klerikal-konservativen Propaganda stand zunächst der Kampf gegen die Liberalen. Tatsächlich gelang es den Konservativen mit Hilfe ihrer Zeitung „Vorarlberger Volksblatt" – gegründet 1868 – und durch den Aufbau katholischer Vereine, sogenannter „Kasinos" -in zahlreichen Vorarlberger Gemeinden eine starke politische Stimmung zu ihren Gunsten zu erzeugen. Die Angriffe gegen die Liberalen standen dabei – und dies ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig – stets unter antikapitalistischen Vorzeichen, war es doch das liberale Besitzbürgertum, mit einem Großteil der Fabrikanten, das den Machtbestrebungen der Konservativen im Wege stand.

Bei den Landtagswahlen 1870 konnten die Klerikal-Konservativen die Früchte ihrer Arbeit ernten: Sie stellten die politische Machtverteilung im Landtag auf den Kopf, indem sie mit nunmehr 15 Abgeordneten vier Liberalen gegenübersaßen – gegenüber 14 Liberalen und fünf Konservativen in der vorhergehenden Wahlperiode.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten gelang es den Konservativen, in der Vorarlberger Bevölkerung ein Gemeinsamkeitsbewußtsein zu erzeugen, das eng mit den Anliegen der katholischen Kirche und der Konservativen Partei verknüpft war.

 

Die Abwehr des „Fremden"

 

Das auf diese Weise entstehende Landesbewußtsein enthielt als zentrale Bestandteile die Abgrenzung nach außen und die Ausgrenzung von Gruppen im Inneren. Betroffen davon waren neben den erwähnten Andersgläubigen und Andersdenkenden vor allem auch die Arbeitszuwanderer: Ab etwa 1870, vor allem aber im Zusammenhang mit dem Bau der Arlbergbahn 1880-1884 erfolgte der erste große Einwanderungsschub von italienischsprachigen Arbeitern und Arbeiterinnen, die in der Bauwirtschaft beziehungsweise in der Textilindustrie als stark belastbare und billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Diese „fremden Bettler", die dank ihres geringen Lohnes tatsächlich bisweilen gezwungen waren, zu betteln, um ihr Überleben zu sichern, galten nicht nur in der konservativen Propaganda als Symbol für die Auswüchse der Industrialisierung, sie lieferten auch der einheimischen Bevölkerung eine deutliche „Erfahrung des Fremden". Diese Erfahrung wirkte für die Einheimischen in besonderem Maße identitätsstiftend: Um sich seiner selbst bewußt zu werden, braucht man das „Fremde".

Die in diesem Zusammenhang entwickelten Vorurteile über die „Fremden" hatten drei Zielrichtungen:

  • Sie richteten sich wirtschaftlich gegen die Arbeitszuwanderer als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt;
  • sie richteten sich politisch gegen die liberalen Fabrikanten, die die Zuwanderer ins Land geholt hatten;
  • sie richteten sich kulturell gegen die vermeintliche Bedrohung festgefügter sozialer Zuordnungen, symbolisiert in „Stamm" oder „Rasse", durch die von der Industrie angeworbenen Fremden.

1885 brachte der katholisch-konservative Landtagsabgeordnete Martin Thurnher ein „Gesetz über die Besteuerung der Auswärtigen" im Landtag ein – als „Schutz gegen die Überschwemmung des Landes von Welschen", wie Thurnher in seinen Lebenserinnerungen schreibt.8

Mit dem Auftreten der Sozialdemokraten kam ein weiteres Motiv für die Ausgrenzung der Zuwanderer hinzu: deren angebliche politische Orientierung. 1908 zum Beispiel konstatierte das „Vorarlberger Volksblatt"

„zwei betrübende Umstände, nämlich, daß die Verwelschung der Stadt Bludenz riesige Fortschritte macht und diese Südländer ihrer Menge und Stärke sich bewußt sind, und weiters, daß der Großteil derselben der sozialdemokratischen Partei anhängt oder gar schon verschrieben ist."9

In Wirklichkeit waren die Arbeitszuwanderer zwar bei weitem nicht so sehr der Sozialdemokratie verschrieben, wie das „Volksblatt" befürchtete,10 aber die Gleichsetzung von „Fremden" und Sozialdemokraten wurde nun von den Konservativen systematisch betrieben.

 

„Heimatlose" Sozialdemokraten

 

Zunächst hatten die Konservativen zwar noch relativ gelassen auf das Auftreten der Sozialdemokraten reagiert, die 1890 eine erste Landesorganisation der SDAP für Tirol und Vorarlberg gegründet hatten. Spätestens seit der Gründung des sozialdemokratischen „Politischen Vereins für Vorarlberg" 1893 aber wetterten die Konservativen gegen „die Pläne einer religionsfeindlichen vaterlandslosen internationalen Umsturzpartei".11 Sie antworteten mit der Gründung eines „Christlichsozialen Volksvereins" und erster christlicher Arbeitervereine.

Die Ausgrenzung der Sozialdemokraten aus der Vorarlberger „Gemeinschaft" fiel den Konservativen dabei relativ leicht, stützte sich die neue Partei doch überwiegend auf zugewanderte Handwerker und Arbeiter, die aufgrund ihrer besonderen Situation früher als die einheimischen ein Klassenbewußtsein entwickelten und ihre Anliegen gemeinsam zu vertreten suchten. Die meisten der führenden Genossen der ersten drei Jahrzehnte -Johann Coufal, Ignaz Leimgruber, Franz Pechota, Coloman Markart, Hermann Leibfried und Eduard Ertl – waren nicht in Vorarlberg geboren. Den Konservativen und deren „Vorarlberger Volksblatt" galten diese Männer – unabhängig von ihrer Aufenthaltszeit im Lande – als „landfremde" und „heimatlose Gesellen".

Der konservative Antisozialismus wurde zudem bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit einem ausgeprägten Antisemitismus verknüpft – ein Element, das bis zur Ausschaltung der organisierten Sozialdemokratie 1934 ein fester Bestandteil der politischen Propaganda der Konservativen blieb. So bezeichnete etwa ein Redakteur des „Vorarlberger Volksblatts" den Herausgeber der sozialdemokratischen „Vorarlberger Wacht" 1911 als „fremden jüdischen Sozialdemokraten schlimmster Sorte".12 Als der „Volksblatt"-Redakteur im darauf folgenden Beleidigungsprozeß freigesprochen wurde, kommentierte seine Zeitung:

„Die christliche Weltanschauung hatte sich gegen die volksfremde jüdisch-sozialistische zu verteidigen. Ein glänzender Sieg der christlichen Lebensauffassung war das Ergebnis der Auseinandersetzung."13

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Art der Ausgrenzung der Sozialdemokraten noch verstärkt. Mit der Ausrufung der Republik und der ersten Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten geriet die Bundeshauptstadt Wien als Regierungssitz in das Visier der konservativen Propaganda – im „Vorarlberger Volksblatt" wurde nun in immer neuen Varianten die „Gewaltherrschaft der Wiener Juden- und Sozialistenregierung" beklagt.14

Juden und Sozialisten wurden zu Sündenböcken für den verlorenen Krieg gemacht; die Gleichsetzung von Sozialismus, Bolschewismus und Judentum wurde auch auf die einheimischen Sozialdemokraten übertragen: Sie galten den Konservativen als „90prozentige Moskauer, die kein Österreichtum kennen"15 und gegen die das „bodenständige, alteingesessene Vorarlbergertum"16 notfalls mit Waffengewalt geschützt werden müsse. Das geschah, als der „Heimatdienst" gemeinsam mit dem Bundesheer im Juli 1927 den Verkehrsstreik niederschlug, was das „Volksblatt" zu folgendem Kommentar veranlaßte:

„Nieder mit dem landfremden Bolschewismus, Gott schütze unsere liebe Heimat vor dem Arlberg!"17

 

Vom Umgang mit Zuwanderern

 

Von solchen Ausgrenzungsversuchen unter ethnisch-regionalen Vorzeichen waren nach 1918 nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Arbeitszuwanderer allgemein betroffen.

Bereits 1918 forderte die Landesregierung die Bevölkerung auf, beim Schutz der Grenzen mitzuhelfen

„gegen den Strom der fremden Massen, die von den Fronten zurückfluten, ... sowie überhaupt vor allen jenen, die nicht zu uns gehören, die uns nicht nützen, die aber wohl unsere an sich knappen Vorräte mit aufzehren würden".18

Zu jenen Personen, „die uns nicht nützen", wurden später auch unbemittelte Arbeitslose gezählt. Wenn sie aus anderen Bundesländern stammten, wurden sie ab 1933 auf Weisung der Landesregierung aufgegriffen und per Schub „abgeschafft". Im ganzen Land wurden solche Arbeitslose

„zusammengefangen, in Arreste gesteckt (und) ... willkürlich auf fünf Jahre des Landes verwiesen und wie Landstreicher auf den Schub geschickt. Dabei handelt es sich zum Teil um Arbeitslose, die seit Jahren in Vorarlberg ansässig sind und entweder die Arbeitslosenunterstützung oder die Notstandsaushilfe beziehen."19

Anfang des Jahres 1933 wurden allein aus dem Bezirk Bludenz 266 Erwachsene und eine unbekannte Zahl von Kindern abgeschoben.20

 

Integration und Ausgrenzung nach 1945

 

Trotz aller schrecklichen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime blieb die Blut-und-Boden-Ideologie mit ihren rassenbiologischen Vorstellungen, die auch das ethnisch-regionale Selbstverständnis in Vorarlberg mitbestimmt hatten, nach 1945 keineswegs tabu. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Vorarlberg-Bewußtsein in Form eines alemannischen „Stammes-Bewußtseins" wiederbelebt.21 Die damit verbundenen Ausgrenzungsversuche richteten sich nunmehr gegen die neuen Arbeitszuwanderer, die zunächst aus anderen Bundesländern – vor allem aus Kärnten und der Steiermark – nach Vorarlberg kamen. Zwar wurden die Ressentiments gegen diese „Innerösterreicher" weniger offensiv und weniger öffentlich als früher propagiert, aber eine Bevölkerung, deren Mißtrauen gegen alles „Fremde" seit Jahrzehnten gefördert worden war, hätte auch ohne offizielle Unterstützung für den Weiterbestand verbreiteter Vorurteile gesorgt.

Aktionen wie jene des obersten Landesbeamten, Landesamtsdirektor Elmar Grabherr, der in einem als „Alemannen-Erlaß" berühmt gewordenen amtsinternen Rundschreiben empfahl, bei Stellenbesetzungen im Landesdienst, bei der Vergabe von Fördermitteln und dergleichen in erster Linie die „landsmannschaftliche Herkunft" der Bewerber zu berücksichtigen, die sich durch „objektive Tatsachen wie Abstammung (siehe hier u.a. auch Familiennamen), Geburtsort, ehem. Besitz des Heimatrechtes, langjähriger Aufenthalt, Beherrschung der Mundart usw."22 bestimme, förderten nicht eben die Integrationsbereitschaft gegenüber den Zuwanderern. Und noch 1980 stützte sich die Initiative „Pro Vorarlberg" bei ihren Bemühungen um mehr Autonomie für das Land Vorarlberg auf traditionelle Klischees von den vorarlbergisch-alemannischen Tugenden, was bei manchen ehemaligen Zuwanderern nicht eben auf großes Verständnis stieß.23

Wenn sich im Verhältnis zwischen „echten Vorarlbergern" und „fremden Bettlern" nach 1945 etwas wesentlich verändert hat, so ist das die gesellschaftlich-politische Stellung der Sozialdemokratie: Sozialdemokraten, denen die herrschende Elite noch während der Ersten Republik das Heimatrecht weitgehend bestritten hatte, wurden zunehmend ins politische Leben und in Institutionen des Landes eingebunden.

Doch was für die Partei – und, nach Gründung der Einheitsgewerkschaft ÖGB, natürlich auch für die Gewerkschaften – galt, konnten die einzelnen Arbeitszuwanderer noch lange nicht für sich beanspruchen. Obwohl dringend benötigt und entsprechend intensiv angeworben, wurden sie vor allem als Konjunkturpuffer benützt. Dies gilt insbesondere für die fremdsprachigen Einwanderer – in erster Linie Jugoslawen und, inzwischen mehrheitlich, Türken -, die, anders als österreichische Staatsbürger, noch heute mit einem ähnlichen Schicksal rechnen müssen wie ihre deutschsprachigen Kollegen vor 60 Jahren: arbeitslos und in der Folge abgeschoben zu werden.24

Welche Ängste und Vorurteile hier nach wie vor im Zeichen ethnisch-regionaler Eigenständigkeit geschürt werden, zeigt beispielhaft eine Äußerung des bereits zitierten Landesamtsdirektors Grabherr in einer Broschüre aus dem Jahr 1981 über die „Übervölkerung" Vorarlbergs:

„Dieses Ergebnis ist aber zum geringeren Teil der Geburtenfreudigkeit der Vorarlberger zuzuschreiben, sondern es beruht wesentlich auf einer maßlosen Zuwanderung, insbesondere von Ausländern und auf ihren Geburten."25

Solche kulturell, politisch oder religiös motivierte Fremdenfeindlichkeit ändert freilich nichts am Ergebnis der historischen Entwicklung: Vorarlberg erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der ohne die ausgegrenzten und diskriminierten Arbeitszuwanderer nicht möglich gewesen wäre.

 

 

Anmerkungen

 

1 Siehe Kuhn, Elmar: Industrialisierung am See. In: Schott, Dieter / Trapp, Werner (Hg.): Seegründe. Beiträge zur Geschichte des Bodenseeraums. Weingarten 1984, S. 167-209, hier S. 206; Wifo-Berichte zur Wirtschaftslage (Wirtschaftsforschungsinstitut) 1981.

2 Siehe Burmeister, Karl Heinz: „... daß die Judenschaft auf ewige Zeiten aus unseren Vorarlbergischen Herrschaften abgeschafft und ausgerottet bleibe..." – Die Judenpolitik der Vorarlberger Landstände, in: Dreier, Werner (Hg.): Antisemitismus in Vorarlberg. Regionalstudie zur Geschichte einer Weltanschauung. Bregenz 1988, S. 19-64.

3 Bregenzer Wochenblatt Nr. 14, 7.4.1848.

4 Bregenzer Wochenblatt Nr. 15, 14.4.1848, Beilage.

5 Zit. n. Haffner, Leo: Die Aufklärung und die Konservativen. Ein Beitrag zur Geschichte der Katholisch-Konservativen Partei in Vorarlberg. In: Pichler, Meinrad (Hg.): Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Bregenz 1982, S. 10-31, hier S. 22; siehe auch: Olschbaur, Wolfgang: Zur Gründungsgeschichte der evangelischen Gemeinde in Vorarlberg. In: Olschbaur, Wolfgang / Schwarz Karl (Hg.): Evangelisch in Vorarlberg. Festschrift zum Gemeindejubiläum. Bregenz 1987, S. 22-35.

6 Felder, Franz Michael: Vermischte Schriften. Sämtliche Werke, Bd. 8. Bregenz 1979, S. 234 ff. und 243.

7 Vgl. Barnay, Markus: Die Erfindung des Vorarlbergers. Ethnizitätsbildung und Landesbewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert. Bregenz 1988, S. 225.

8 Haffner, Leo: „Der Liberalismus bringt keinen Segen." Martin Thurnher – ein Leben für den Konservativismus. In: Bundschuh, Werner / Walser, Harald (Hg.): Dornbirner Statt-Geschichten. Dornbirn 1987, S. 83-121, hier S. 116.

9 Zit. n. Sutterlütti, Robert: Italiener in Vorarlberg 1870-1914: Materielle Not und sozialer Widerstand, in: Greussing, Kurt (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung. Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870-1946. Bregenz 1984, S. 133-157, hier S. 145.

10 Vgl. Mittersteiner, Reinhard: Die Genossen Handwerker. Zur Geschichte der Dornbirner Sozialdemokratie in der Monarchie. In: Bundschuh, Werner / Walser, Harald (Hg.): Dornbirner Statt-Geschichten. Dornbirn 1987, S. 122-168, hier S. 150-158.

11 Zit. n. Bilgeri, Benedikt: Geschichte Vorarlbergs, Band IV. Wien-Köln-Graz 1982, S. 261.

12 „Vorarlberger Volksblatt" Nr. 140, 21.6.1911.

13 „Vorarlberger Volksblatt" Nr. 283, 10.12.1911.

14 „Vorarlberger Volksblatt" Nr. 277, 1.12.1918.

15 „Vorarlberger Volksblatt" Nr. 82, 9.4.1927.

 

16 Ebd.

17 „Vorarlberger Volksblatt" Nr. 165, 21.7.1927.

18 „Vorarlberger Volksblatt" Nr. 255, 6.11.1918.

19 „Vorarlberger Wacht", 26.1.1933, zit. n. Walser, Harald: Die Hintermänner. Vorarlberger Industrielle und die NSDAP, in: Pichler, Meinrad (Hg.): Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Bregenz 1982, S 96-106, hier S. 99.

20 Dreier, Werner: Zwischen Kaiser und „Führer". Vorarlberg im Umbruch 1918-1938. Bregenz 1986, S. 42 und 150.

21 Vgl. Barnay (wie Anm. 7), S. 463-470.

22 Vorarlberger Landesregierung, Zl. Prs.-592/1 vom 16.5.1961.

23 Vgl. Barnay, Markus: Pro Vorarlberg – Eine regionalistische Initiative. Bregenz 1983.

24 Greussing, Kurt: Die Bestimmung des Fremden – Hundert Jahre „Gastarbeit" in Vorarlberg. In: Bauböck, Rainer u.a. (Hg.): ... und raus bist du! – Ethnische Minderheiten in der Politik. Wien 1988, S. 185-197, hier S. 194 f.

25 Grabherr, Elmar: Vorarlberger Land. Vorarlberger Merkhefte, Bd. 1. Bregenz 1981, S. 52 f.